§ 29. Reichsverfassung bis 1806.

(H. E. Feine.)

Einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der spätmittelalterlichen Reichsverwaltung und -gerichtsbarkeit bringt der Aufsatz von H. Spangenberg ( 1599) über die Entstehung des königlichen Kammergerichtes, jenes Vorläufers des 1495 geschaffenen Reichs kammergerichtes. Sein Bestehen stand bisher für das Jahr 1415 urkundlich fest, seinen entwicklungsgeschichtlichen Anfängen war man bisher noch kaum ernstlich nachgegangen. Sp. bestätigt nun die schon von Franklin seinerzeit geäußerte Vermutung, daß das Kammergericht sich aus dem königlichen Rat entwickelt habe, und führt die ersten Ansätze zu seiner Entwicklung bis in die Regierungszeit Rudolfs von Habsburg zurück. Auch in dieser Frage zeigt sich deutlich der tiefe Wandel, den die Reichsverfassung und -verwaltung im Laufe des 13. Jahrhunderts erlitten hat. Der Rat ernannter, absetzbarer, geschworener consiliarii, deren sich nach den Forschungen Redlichs erstmalig König Rudolf in Reichsangelegenheiten bediente, erweist sich als eine Nachbildung des im 13. Jahrhundert entstandenen territorialen Rates, des neuen Zentralorgans der Fürsten in geistlichen wie in weltlichen Territorien. Die Regierungsweise Heinrichs VII. mit einem königlichen Rat war schon bisher bekannt genug. Auch weiter erhielt die dem Territorialrat nachgebildete Institution ihr eigentümliches, mehrfach wechselndes Gepräge zum Teil durch die Stammlande des jeweiligen Königs. Dieser königliche Rat ist nun schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts, ebenfalls nach territorialem Vorbild, nicht nur zu Zwecken der Beratung und reinen Verwaltung, sondern, wie Sp. urkundlich (zuerst für das Jahr 1319) nachweist, auch zu richterlichen Aufgaben, zur Urteilsfindung in den Formen eines ordentlichen Gerichtsverfahrens verwendet worden, neben und in Konkurrenz mit dem Reichshofgericht. Schon im 14. Jahrhundert ist das Bewußtsein von der Verschiedenheit der beiden höchstrichterlichen Instanzen durch Quellenzeugnisse zu belegen und auch der Name dürfte nicht erst dem 15. Jahrhundert angehören (»sententia lata in camera Karoli imperatoris quarti« zum Jahre 1363). Die zahlreichen Exemtionen von Fürsten und Städten von der Hofgerichtsbarkeit im 14. Jahrhundert gaben einen Hauptanlaß zur Erweiterung der richterlichen, allerdings noch völlig vom königlichen Willen abhängigen Tätigkeit des Rates, nicht, wie man bisher oft annahm, die Wahrung der unmittelbaren Interessen des Königs und seiner Kammer. So erfahren die tiefgreifenden Wandlungen in der Struktur des Reiches und der Territorien sowie das veränderte Verhältnis von Territorial- und Reichsverwaltung von dieser Seite eine neue Beleuchtung.

Der wechselnden Stellung der böhmischen Kur im Rahmen der Reichsverfassung seit der Goldene Bulle ist U. Kühne ( 1600) nach politischen und rechtlichen Gesichtspunkten unter Auswertung vornehmlich des Wiener Aktenmaterials, aber ohne Berücksichtigung der zeitgenössischen Rechtslehre nachgegangen und liefert so für die späteren Jahrhunderte eine wertvolle Fortführung und Ergänzung der im vorigen Bande (S. 343) besprochenen Arbeit von Perels, deren Ergebnissen für die frühere Zeit er sich großenteils anschließt. Im 15. Jahrhundert war Böhmen politisch immer mehr aus dem Deutschen Reich und der deutschen Nation hinausgewachsen; um die innere Reichsordnung


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kümmerte es sich kaum noch, seine Privilegien gewährten ihm an sich eine Sonderstellung; aus der Matrikel schied es im Laufe des 16. Jahrhunderts aus, und was der Böhmenkönig als solcher leistete, geschah freiwillig im Interesse der böhmischen Politik. Nur das Recht der Teilnahme an der Königswahl konnte ihm auf Grund der GB. füglich nicht bestritten werden. Aber gerade die Kaiserwürde führte zu einer Entfremdung gegenüber dem Verfassungsleben des Reiches: der Kurfürst von Böhmen fand keinen Eingang in den Kurverein und blieb von den Beratungen über die Wahlkapitulationen ausgeschlossen. Sein Erzamt ruhte, Belehnungen mit den Kurlanden unterblieben vielfach, auch wo Kaiser und König nicht identisch waren. Und wenn der König auch sich selbst bei der deutschen Königswahl die Stimme geben durfte, so erfolgte dies nicht an dritter, sondern meist an letzter Stelle und mehr in der Form einer Zustimmung und Annahme der Wahl. Die Wahlen der Jahre 1562, 1611/12, 1619 und 1690 werden unter diesen Gesichtspunkten eingehend besprochen und zeigen im 17. Jahrhundert das wachsende Streben Österreichs nach Reaktivierung der böhmischen Kurrechte. Eine eingehende Darstellung erfahren sodann in politischer, zum Teil auch in rechtlicher Hinsicht die verwickelten Vorgänge, die zur Readmission der böhmischen Kur um 1708 führten. Daran reiht sich eine Darstellung der ständischen Einwirkungen auf die Handhabung der böhmischen Kurrechte, die 1440 und 1519 zu ständischen Wahlgesandtschaften führten, aber sich schon 1619 nicht mehr durchsetzen konnten, ferner der Schicksale der böhmischen Kur im österreichischen Erbfolgestreit, als sich Bedenken gegen das Kurrecht in der Hand einer Frau erhoben und im Zusammenhang mit der politischen Lage zu einer Suspension der böhmischen Kur für die Wahl des Jahres 1741 führten. Seit 1745 sind jedoch Maria Theresia keine Schwierigkeiten mehr gemacht worden, die böhmische Kurstimme im eigenen Namen zu führen. Der Wert der Arbeit liegt außer in dem Tatsächlichen auch darin, daß sie die Art der Fortbildung des Reichsrechtes auf der Grundlage der GB. sowie die Tatsache vor Augen führt, daß das Reichsrecht noch im 18. Jahrhundert ein nicht zu unterschätzender realer Faktor in der großen Politik gewesen ist.

Wie rührig sich gerade in den letzten Jahren des Bestandes des hl. Römischen Reiches die öffentliche Meinung mit seiner Reform und den Möglichkeiten seiner Wiederbelebung beschäftigte, zeigt die Gießener Dissertation von Hermann Schulz ( 1127), die auf einer Durchprüfung der Publizistik der Jahre 1800--1806 beruht. In buntem Wechsel kommen die verschiedenartigsten Pläne zu Tage, die sich zwischen den Extremen einer festeren monarchischen Ausgestaltung des Reiches unter dem Kaiser und einer staatenbundsartigen Auflockerung oder einer Separation, mitunter sogar in republikanischen Wünschen bewegen. Von allgemeinerem Interesse sind etwa die konservativ gerichteten Reformpläne Dalbergs und Hardenbergs, der Triasplan des Franzosen Bignon und die norddeutschen Unionsvorschläge z. B. eines H. B. v. Bülow.


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