1. Preußen.

Der durch seine auf breiter archivalischer Grundlage ruhenden Arbeiten zur Geschichte des brandenburgisch-preußischen Heeres bekannte Kurt Jany ( 1607) bietet eine bedeutsame Ergänzung und Vertiefung der v. Schroetterschen Darstellung durch Untersuchung der Entstehung der preußischen Kantonverfassung, wie sie durch das Reglement Friedrich Wilhelm I. vom 1. Mai 1733 geschaffen wurde, das bis 1806 die Grundlage der preußischen Heeresverfassung bildete. Es wird geschildert, wie unter Friedrich Wilhelm I. Söldnerwerbung und Rekrutenaushebung nebeneinander bestehen, wie sich vor allem das Rekrutierungssystem durch Enrollierung aus der sich allmählich entwickelnden Auffassung von der Pflicht der Untertanen zum Heeresdienst als Gewohnheitsrecht entwickelt hat, und zwar erst nach Beendigung der Kriegsaera um 1700, als das Heer in voller Stärke auch in der Friedenszeit beibehalten wurde und feste Garnisonen erhielt. Die anfängliche Form der Inlandswerbung durch Menschenraub, die massenhafte Landflucht und damit wirtschaftliche Schädigungen hervorrief, führt zu immer wiederholten Verboten der Zwangswerbung, die dennoch bei dem bestehenden System der Rekrutierung nicht zu entbehren ist. Man geht zur Enrollierung der Jugendlichen über, die aber erst durch die genaue Abgrenzung von Enrollierungskantonen (Reglement vom 1. Mai 1733) zu einer Beruhigung der Bevölkerung und der Zivilbehörden führt und der Bevölkerung den Gedanken der Dienstpflicht des größeren Teiles der wehrfähigen Bürger im stehenden Heere allmählich einimpft, so daß aus den rohen Formen der ungeregelten, vielfach gewaltsamen Inlandswerbung auf Grund einer nun entstehenden Listenführung über die Bevölkerung und die Feuerstellen, welche erst eine Zuweisung der Bezirke an die einzelnen Regimenter ermöglichte, ein geregelter Ersatz aus dem Inlande sich entwickelte. Erst gegen Ende der Regierung Friedrich Wilhelms I. hört die Willkür der werbenden Offiziere gegenüber der Zivilbevölkerung


S.389

auf, -- wobei freilich zu bemerken ist, daß nach wie vor nichts die »langen Leute« gegen gewaltsame Einziehung schützte. Zu erwähnen ist noch, daß durch den Militärdienst der Bauernsohn zwar nicht rechtlich von der Leibeigenschaft und dem Dienstzwang der Gutsobrigkeit gelöst wurde, der er auch als Beurlaubter unterworfen blieb, daß er aber in seinen wichtigsten Lebensverhältnissen, bei Heirat und Niederlassung, nun der durch die Militärvorgesetzten gehandhabten Staatsgewalt unmittelbar unterworfen wurde. Die militärische Dienstpflicht wurde so »der erste Schritt zum Staatsbürgertum«. So entstand zwar noch keine »allgemeine Wehrpflicht«, da die Kantonpflicht noch nicht auf dem Grundsatz gleicher staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten beruhte (gab es doch noch die zahlreichen Exemtionen), doch ist mit ihr der Grundsatz der staatlichen Wehrpflicht durch das absolute Königtum festgestellt und nun auch auf die Untertanen des Adels ausgedehnt worden. Hier liegt die erste Verwirklichung des im Kantonreglement von 1792 ausgesprochenen Satzes, daß »der Verbindlichkeit, den Staat zu verteidigen, niemand, der dessen Schutz genießt, sich entziehen kann«. -- v. Selle ( 1608) versucht, gestützt auf die Gravamina der preußischen Landstände beim Regierungsantritt Friedrichs d. Gr., eine kritische Beleuchtung der Verwaltungstätigkeit und Regierungsweise Friedrich Wilhelm I. In vielen Punkten kommt er zu negativen Resultaten und einer anderen Bewertung, als sie etwa bei Schmoller vorliegt. Auch versucht v. S. eine kritische Abwägung des ständischen und des königlichen Standpunkts. Die Darlegung ist schwach unterbaut und die Urteile bedürfen in vieler Beziehung gründlicherer Erörterung, wenn die frühere Ansicht von Schmoller und Hintze wirksam angefochten werden soll. -- Dagegen bedeutet Kochs Arbeit ( 1606) eine wesentliche Ergänzung unserer Kenntnis der verhältnismäßig wenig bearbeiteten Epoche des ersten Königs. Die Arbeit stammt schon aus der Zeit vor dem Kriege, und es ist zu begrüßen, daß sie doch noch gedruckt worden ist. (Zu wünschen wäre freilich gewesen, daß die in den 12 Jahren seit Fertigstellung der Arbeit erschienene Literatur vor dem Druck berücksichtigt worden wäre.) Sie bringt mancherlei Ergänzungen und Erweiterungen, auch Korrekturen, des Bildes, das Hintze von »Staat und Gesellschaft unter dem ersten König« gegeben hat. Sie behandelt die Jahre vom Sturze Danckelmanns bis 1710, also die sogenannte Wartenbergsche Epoche. Sie gliedert sich in zwei Teile. Der erste behandelt nach einer Schilderung der Persönlichkeit des Königs den preußischen Hof in der Zeit der Macht Wartenbergs. K. stützt sich bei seiner eingehenden Schilderung dieses Hoflebens und der in großen Zügen längst bekannten Intrigenwirtschaft überwiegend auf die Berichte des hannöverschen Gesandten. Man wird sagen können, daß der berüchtigte »Diskurs von der Gräfin Wartenberg« durch die so gewonnenen Aufschlüsse bestätigt wird, wenn auch wohl etwas mehr Kritik gegenüber diesen hannöverschen Berichten am Platz gewesen wäre, für die man unter Erwägung des Verhältnisses der Königin zu der Gräfin Wartenberg nicht ohne weiteres volle Objektivität voraussetzen darf. Die Gestalten der Spieler und Gegenspieler in dem wüsten Intrigenspiel treten scharf umrissen heraus, und die überwiegende Bedeutung Wartenbergs sowie die Art seines Verhältnisses zum Könige wird geklärt. Vor allem sieht man, wie die Gräfin Wartenberg mit ihrem unsauberen Einfluß hinter diesem verworrenen Zustande steht. Der Bewertung des Königs, wie sie der Verfasser gibt, wird man nicht

S.390

ganz zustimmen können. Mag man auch seinen guten Willen voraussetzen, er bleibt doch ein erbarmungswürdiger Schwächling. Wenn der Verfasser S. 64 selbst feststellt, daß sich die Situation am Hofe ganz und gar mit der auswärtigen Politik verflocht und Erfolg und Mißerfolg der Günstlinge von dieser Politik abhängig war, so hätte man gewünscht, daß die Fäden der auswärtigen Politik in das Gespinst der Hofkabalen verwoben worden wären. Dies geschieht aber nicht. Ebensowenig wird die schicksalsschwere Frage des Lubenschen Erbpachtsystems hineingearbeitet. Ob man die Darstellung dieses ersten Teiles mit dem Verfasser eigentlich »psychologisch« nennen darf, scheint mir fraglich. Besonders zu begrüßen ist das S. 116 ff. behandelte, bisher unbekannte Gutachten der Geheimen Hofkammer von 1710, dessen Abdruck man gewünscht hätte, da es überaus merkwürdige und weit in die Zukunft greifende Reformvorschläge für die gesamte Staatsverwaltung enthält. In der Beurteilung dieses Aktenstückes ist der Verfasser jedoch nicht glücklich gewesen. Man kann in ihm nicht zugleich den »nun mächtig einsetzenden neuen Geist des Merkantilismus« und »einen Hauch liberaler Handels -und Gewerbepolitik« finden wollen. Den zweiten Teil der Arbeit bildet eine Darstellung der »Institutionen«, d. h. eine zusammenfassende Schilderung der Zentralverwaltung. Hauptsächlich hier gelangt der Verfasser auf Grund eingehenden Aktenstudiums zu neuen Ergebnissen über Hintzes grundlegende Abhandlung hinaus. Das Verhältnis der vom Verfasser so genannten Staatskonferenz und des Kabinettsministeriums zum König einerseits, zum Geheimen Rat andererseits ist durch diese Untersuchung geklärt worden. Dieses Kabinettsministerium ist mehr ein Kollegium der jeweiligen Günstlinge, d. h. Wartenbergs und einiger von ihm zugezogener Räte, als eine eigentliche Zentralbehörde. Dennoch wird dadurch die spätere »Regierung aus dem Kabinett« wirksam vorbereitet. Besonders hinzuweisen ist auf die Erklärung des Geheimen Rats vom 28. Mai 1701 (S. 158 f.), die wohl den letzten Versuch des Geheimen Rats bedeutet, das Zentrum der Regierung wieder in die alte Zentralbehörde zurückzuverlegen und auf diese Weise die verlorene Einheitlichkeit der Regierung wiederzugewinnen, die dann im Absolutismus Friedrichs d. Gr. durch seine Person erreicht wurde. -- Noch einmal taucht ein Bericht über die unglückliche Angelegenheit der Kabinettsjustiz im Falle des Müllers Arnold auf. Es handelt sich um einen Bericht des Regierungsrats an der Neumärkischen Regierung Bandel, den dieser während der Festungshaft niedergeschrieben hat, und der von Graner ( 1612) herausgegeben und erörtert wird. Wesentlich neue Tatsachen enthält der Bericht nicht, aber er ist überraschend durch die männlich-kräftige und sachliche Haltung des schwergetroffenen und in seinem Rechtsgefühl tief verletzten Mannes. -- Ein anderer bedeutender Beamter Friedrichs d. Gr. wird von Wutke ( 1611) in seiner Beamtenlaufbahn bis zur Ernennung zum Etatsminister geschildert. Es handelt sich um F. G. Michaelis, den fähigsten Helfer Schlabrendorffs, eines der begabtesten und tätigsten Beamten Friedrichs d. Gr., des Ministers für Schlesien, dessen energisch durchgreifende Art wir auch aus den beiden neuesten Bänden der Acta Borussica kennengelernt haben. -- Eine höchst merkwürdige und auf den ersten Blick überraschende Denkschrift Beymes führt uns Dehio ( 1613) aus dem Nachlaß von Beymes Schwiegersohn vor. Muß es nicht Hardenbergs Urteil über B. bestätigen, er traue sich, ohne die erforderliche Welt- und Menschenkenntnis und den richtigen Takt zu besitzen, alles

S.391

zu wenn man den Kabinetsrat sich in langen Ausführungen über Heeresorganisation, Ersatz, Taktik, Verpflegung, Ausbildung des preußischen Heeres ergehen sieht? Dehio führt die von Beyme geäußerten Ansichten auf die Anschauungen des Königs zurück, zweifellos mit Recht. Sie stehen in entschiedenem Gegensatz zu denen Knesebecks und Scharnhorsts, besonders in der Frage der Rekrutierung und der Bereitstellung von Verstärkung und Ersatz: nicht Massenaufgebote neben der Truppe, nicht Aufstellung neuer Feldformationen, sondern ein Reservoir aus gedienten Soldaten zur raschen Ergänzung der Truppe wird vorgeschlagen. Erstaunlich ist einmal die Kritik der Überalterung in den Führerstellen und dann vor allem der Vorschlag der Abschaffung der Kabinetsregierung und der Einführung eines Ministerkonseils. Der Gedanke liegt doch nahe, daß der letztere Vorschlag auf eine Kenntnis von Steins April-Denkschrift zurückgeht. Dehio glaubt ihn aber auf die Erfahrungen aus der diplomatischen Niederlage des vergangenen Winters zurückführen zu sollen. Wenn es sich aber wirklich um eine Überzeugung des Kabinetsrats handelt, so wird man doch fragen müssen, ob man bei Stein und seinen Mitarbeitern eine solche Unkenntnis der Ansichten Beymes voraussetzen darf, daß sie ihn mit allen Mitteln bekämpften, obwohl er im Grunde ähnliche Reformziele verfolgte wie sie selbst. --Berg ( 1643) bringt einen weiteren Beleg für die Bemühungen der preußischen Herrscher um eine Reorganisation der korrumpierten städtischen Verwaltungen ihres Landes.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)