I. Allgemeines.

Von den im Berichtsjahr erschienenen Arbeiten zur Verfassungsgeschichte seit 1806 schneidet wohl die von R. Schmidt ( 1604) die allgemeinsten Probleme an, indem sie »den preußischen Einheitsstaat und den deutschen Bundesstaat« behandelt. Sie greift freilich in doppelter Weise über die Grenzen des mir zugewiesenen Bereiches hinaus, in ihrem Ausgangspunkt sowohl, der schon vor dem Beginn der eigentlichen deutschen Geschichte in der Zeit der germanischen Stammesreiche liegt, wie in ihrem Zielpunkt, der in der Gegenwart, im politischen Kampf gegen den Artikel 18 der heutigen Reichsverfassung und die Bestrebungen auf Auflösung des preußischen Staates zu sehen ist. Aber da das preußisch-deutsche Problem seinen Schwerpunkt im 19. Jahrhundert hat, da vor allem die von H. Preuß wiederaufgenommene Forderung, daß Preußen in Deutschland aufgehe, damals entstanden ist, so wird der Aufsatz von Schmidt wohl am besten hier besprochen. Er bekämpft die Auflösungstendenzen nicht allein aus politischen Erwägungen, die uns hier nicht zu kümmern haben, sondern zugleich aus seinem geschichtlichen Empfinden und Denken heraus. Er wehrt sich gegen die Auffassung, als habe sich das deutsche Volk seiner staatlichen Entwicklung zu schämen, als sei es bis 1918 ein Opfer dynastischer Machtpolitik gewesen und komme erst jetzt mit der geplanten Neuverteilung der Länder zu seinem Recht. Demgegenüber will er den Sinn und das Recht der bisherigen staatlichen Geschichte aufdecken, schließt sich dabei freilich allzu eng an A. v. Hofmanns historisch-geographische Betrachtungsweise an, als daß er die schicksalhafte Verknüpfung von Reichs- und Territorialgeschichte, von individuellen und allgemeinen Faktoren wirklich verstehen und den Gang der deutschen Geschichte deutlich machen könnte. Gewiß kommt es im Staatsleben vor allem auf die Macht und die Beherrschung der entscheidenden geographischen Stellen an. Aber ist mit einem so allgemeinen Satz irgend etwas zur Erklärung der wiederholten Verlagerung des geographischen Schwerpunkts der deutschen Geschichte gesagt, ist die Tatsache, daß die politische Macht Deutschlands seit dem Interregnum im Kolonialgebiet


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sich sammelt, nicht im alten Lande der »vis regni«, geographisch bedingt? Auch das Aufkommen des brandenburgisch-preußischen Staates und sein 1866 endgültig errungener Sieg über Österreich scheint mir auf ganz anderen Faktoren zu beruhen als den geographischen. Und so sehe ich auch die Schwäche der Forderung nach dem Aufgehen Preußens in Deutschland nicht in der Verkennung geographischer Momente, sondern in der Geringschätzung der von Schmidt mit Recht hervorgehobenen staatlich-organisatorischen Leistung des preußischen Staates zumal seit 1815, mit der die Möglichkeit einer einheitlichen Zusammenfassung Deutschlands praktisch erwiesen worden ist.

Die entgegengesetzte Ansicht kommt in den historisch-politischen Aufsätzen zu Wort, mit denen H. Preuß die Entwicklung des deutschen Kaiserreichs begleitet hat und die nach seinem Tode in einer charakteristisch getroffenen Auswahl vereinigt worden sind ( 220). Historisch umspannen sie die ganze Periode dieses Berichts, von den Stein-Hardenbergischen Reformen an bis zur Weimarer Verfassung, ja darüber hinaus bis zu den politischen Auseinandersetzungen über diese Verfassung. Freilich ist Preuß, wie ich anderswo (Zeitschrift für die ges. Staatswissenschaft, Bd. 83, 396 ff.) weiter ausgeführt habe, auch in seinen historischen Aufsätzen mehr Politiker, der seine Gegner bekämpft, als Historiker, der berichtet, wie es eigentlich gewesen, und zu verstehen sucht, weshalb manches anders gewesen, als man es wohl hätte wünschen mögen. So sehe ich den Wert der Arbeiten über das »Jahrhundert städtischer Verfassungsentwicklung« von 1808 bis 1908 oder über die »Stein-Hardenbergsche Neuorientierung«, um nur die geschichtlich am weitesten ausgreifenden herauszuheben, weniger in dem, was sie uns über die behandelten Gebiete sagen, als in dem, was wir aus ihnen über die geistige und politische Entwicklung des Vaters unserer heutigen Reichsverfassung lernen; ja man wird sagen dürfen, daß wir hier über das Persönliche hinaus einen Einblick in die Abneigung erhalten, mit der ein Teil unseres Volkes seiner eigenen Geschichte gegenübersteht. Unmittelbaren Quellenwert für die Vorgeschichte der Verfassungsreform von 1918 und der Weimarer Verfassung haben die im Abschnitt III zusammengestellten Aufsätze, von denen ich nur die hier zum erstenmal gedruckten »Vorschläge zur Abänderung des Reichsverfassung und der preußischen Verfassung nebst Begründung« vom Herbst 1917 nennen möchte.

Das Buch von J. Redlich ( 1605) ist zwar seinem Hauptinhalt nach im § 65 (Österreich) zu besprechen; aber hier darf wohl der Versuch gemacht werden, es in den Zusammenhang der gesamtdeutschen, ja der allgemeinen Verfassungsgeschichte einzureihen. Nicht als ob der Verfasser ihn ganz außer acht gelassen hätte. Er hebt z. B. bei der Darstellung der ungarischen Verhältnisse ausdrücklich hervor, wie eng verwandt die Auseinandersetzung der Ungarn mit ihrem Könige und die englischen Verfassungskämpfe des 17. Jahrhunderts sind, wie überhaupt altständische Tendenzen sich in Ungarn seltsam mit modernen parlamentarischen Bestrebungen verquicken. Ebenso macht er bei der liberalen deutschen Verfassungspartei Österreichs auf die Abhängigkeit von der westeuropäischen konstitutionellen Doktrin und auf den allen Liberalismen eigentümlichen Optimismus aufmerksam. Auch sonst findet sich manch guter und feiner Gedanke, z. B. die Gegenüberstellung des österreichischen Adels und des im protestantischen Boden wurzenden preußischen Konservatismus (S. 612). Aber das Hauptproblem der österreichischen Verfassungsentwicklung


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der sechziger Jahre hat er doch wohl nicht in all seinen Verflechtungen erkannt. Seine im ganzen allzusehr an den Akten klebende Darstellung läßt nicht recht anschaulich werden, daß Österreich keineswegs der einzige Fall einer vorwiegend dynastisch bestimmten Staatsbildung ist, die durch die nationale und konstitutionelle Bewegung des 19. Jahrhunderts gesprengt worden ist. Wir hören nichts von den parallelen Vorgängen im Königreich der Vereinigten Niederlande 1815 bis 1830 oder in Schweden-Norwegen, nicht einmal von der mit dem Gegenstand seiner Darstellung gleichzeitigen Auseinandersetzung im dänischen Gesamtstaat. Wenn ich hier darauf verweise, so tue ich das nicht in dem Glauben, daß viele Ähnlichkeiten zu finden wären. Im Gegenteil, ein durchgeführter Vergleich all dieser Entwicklungen würde wohl erst recht die einzigartige Verwicklung des österreichischen Staats- und Reichsproblems deutlich machen, das nicht wie die andern Staaten mit zwei, sondern mit vielen untereinander nicht gleichartigen und nicht gleichwertigen Nationalitäten zu rechnen hatte, das vor allem als europäische Großmacht andere Lebensbedingungen hatte als jene Mächte zweiten Ranges. Und wenn schon das Auseinanderfallen der Niederlande zu einer europäischen Krisis, die schleswigholsteinische Frage aber zum Kriege führte, so wird man die friedliche Lösbarkeit des österreichischen Problems erst recht bezweifeln müssen und gelangt zur Skepsis gegen die wohl nicht nur historisch, sondern auch tagespolitisch gemeinte Empfehlung eines Föderalismus im Sinne von C. Frantz als der für Österreich wie für Deutschland besten Staatsform. Deren Eignung für ein mit allen Aufgaben einer Großmacht belastetes Staatswesen ist von R. noch keineswegs bewiesen worden.


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