II. Allgemeine Parteigeschichte.

Paul Molischs Geschichte der deutschnationalen Bewegung in Österreich ( 1653) enthält das tragische Geschick der Deutsch-Österreicher nach 1866 in einer ungemein fesselnden Darstellung, die aus Akten und persönlichen Mitteilungen (u. a. des ehem. Ministers Baernreithers Tagebuch) mannigfaches, bisher unbekanntes Material bringt. Molisch trennt zwei Epochen: 1. Die Zeit der Vormachtstellung der Deutschen in Österreich. 2. Die Zeit des Abwehrkampfes der Deutschen in Österreich.

In der ersten Periode wurde die deutschnationale Bewegung von ganz bestimmten, besonders akademischen großdeutsch gesinnten Kreisen getragen, die stets den Ausschluß Österreichs aus Deutschland nur als vorübergehend ansahen. Ihr ideales Streben mußte den auf realpolitischen Erwägungen basierenden Widerstand der österreichischen wie der deutschen Regierung herausfordern, denn ihr Ziel war auf alle Fälle nur durch Beschränkung oder Auflösung der habsburgischen Hausmacht zu erreichen. Erklärte doch der jeder diplomatischen Schmiegsamkeit entbehrende Führer der Bewegung, Karl von Schönerer, noch 1901 in einer Rede im Abgeordnetenhause, daß mit der Auflösung eines Staates die Erlösung eines Volkes verbunden sein könne. Und den Standpunkt Deutschlands hat Bismarck, als er selbst von der Leitung der Außenpolitik längst zurückgetreten war, in einer hochpolitischen Handlung fixiert: er empfing anläßlich seines 80. Geburtstages die Abgesandten der deutschnationalen Studentenschaft Österreichs nur unter der Bedingung, daß die an ihn gerichtete Ansprache die Betonung der Treue zum österreichischen Kaiserhause enthalte. Seine Auffassung, daß die Rücksicht auf die Stammesgemeinschaft für das Deutschland nach 1871 hinter anderen außenpolitischen Erwägungen zurücktreten müsse, blieb bis 1914 maßgebend, obwohl die Bündnispolitik im übrigen keineswegs in seinem Sinne geführt wurde.

Als dann die Slawen im Parlament die Mehrheit errangen, trat zwar auch bei den übrigen auf dem Boden des Staates stehenden deutschen Gruppen, den liberalen und demokratischen, das nationale Moment stärker hervor, und sie schlossen sich in der Abwehr mehrfach mit den Deutschnationalen zusammen. Naturgemäß verloren deren letzte Ziele aber durch diese Entwicklung an Bedeutung, da die Behauptung des Deutschtums innerhalb Österreichs in den Vordergrund trat und die die österreichische Staatsidee bejahenden Gruppen an sich schon die zahlreicheren waren. Erst im Weltkriege tauchten wieder Versuche zu engerer staatlicher Verbindung mit Deutschland auf. Aus Molischs Schilderung gewinnt man den Eindruck, daß die Deutschen in Österreich in


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noch stärkerem Maße als die Reichsdeutschen die militärischen Erfolge überschätzten. Der Kreis des Deutschen Klubs stellte ein zentralistisch germanisierendes Programm auf, durch das die Selbstverwaltung von den Deutschen, wo sie Minderheit waren, verlangt, wo sie Mehrheit waren, verweigert wurde. Demgegenüber zeigte schon das Verhalten des Ministerpräsidenten Stürgkh, der über Versprechen nicht hinausging und mit den Tschechen gut Freund blieb, daß die Macht der letzteren keineswegs als gebrochen anzusehen war. Mit der Verschlechterung der Lage wurden die Deutschen sehr schnell wieder in die Defensive gedrängt, so daß sie sich schon vor Oktober 1918 für den Fall des Föderativstaates durch Abkommen zum Schutz der Minderheiten zu sichern suchten. Schließlich gab die Katastrophe des Gesamtstaates sie in einem Augenblick frei, als es unter dem außenpolitischen Druck weder für sie noch für das Deutsche Reich möglich war, die Idee des großdeutschen Nationalstaates zu verwirklichen.

Dankworth bringt in der »Staatsbürgerbibliothek« eine populäre Darstellung der großdeutschen Idee ( 1652), die den bekannten Gang der Dinge von 1848 bis zu der kleindeutschen Lösung 1866 wiedergibt. Diese bewirkte, daß die großdeutsche Idee nach Dankworths Ansicht auf die Opposition (Zentrum, Volkspartei, Sozialdemokratie) überging. Die Katholiken flaggten bekanntlich noch nach der Reichsgründung von 1871 auf den Katholikentagen schwarzrotgold, bei der süddeutschen Demokratie fielen die großdeutschen Tendenzen in staatlicher Beziehung nach 1870 fort, aber die psychologischen Voraussetzungen zum Großdeutschtum blieben wirksam. Grundsätzlich trat auch die Sozialdemokratie in ihrem Programm für die großdeutsche Republik ein. Es mag fraglich sein, ob es richtig war, in diesem Zusammenhang ein Kapitel über Naumanns Plan eines »Mitteleuropa« zu bringen; zollpolitische Fragen standen hier mehr im Vordergrund als nationale. Mit Recht hebt Dankworth dann aber im Schlußkapitel »Die Wiedergeburt der deutschen Idee« hervor, daß die Sozialdemokratie, insbesondere Otto Bauer in Österreich im Oktober 1918 die Initiative in der Anschlußfrage ergriff.


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