V. Liberale Parteien.

Der zweite Band der Wentzcke-Heyderhoffschen politischen Briefsammlung »Im neuen Reich« 1871--1890 ( 1651) ist von Paul Wentzcke selbst bearbeitet. Seine Aufgabe war weniger angenehm als die Heyderhoffs, des Bearbeiters des ersten Bandes (vgl. Jahresberichte 1925, S. 356). Im ersten Bande treten alle inneren Gegensätze vor dem Wunsch, die deutsche Einheit durchzusetzen, allmählich zurück. Die Briefe des zweiten Bandes mußten in ihrem Zusammenhang die Gründe für den schnellen Zerfall der großen Partei ergeben und tun dies auch dank dem Geschick, mit welchem Wentzcke die teilweise im Privatbesitz ruhenden, längst vergessenen und in ihrer politischen Bedeutung nicht erkannten Briefe aufgespürt hat. Naturgemäß ist das Gesamtbild unerfreulich. Es ist wohl richtig, daß, wie einige der Briefschreiber meinen, übertriebener Doktrinarismus und gekränkte Führereitelkeit bei den sich ständig erneuernden Zwisten eine erhebliche Rolle spielte. Aber es bleibt zu beachten, daß es während der autokratischen Regierung Bismarcks


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für alle Parteien außerordentlich schwierig war, ihre Grundsätze zu wahren, ohne vernichtender Bekämpfung durch den Kanzler anheimzufallen. In der Historischen Zeitschrift Band 138, S. 58, Anm. 2 hat kürzlich Otto Westphal an dem Band Kritik geübt, weil Wentzcke einseitig den linken Flügel der Nationalliberalen zu Worte kommen lasse und keine Erklärung dafür gebe. Ich habe die Sammlung darauf nochmals durchgesehen und gefunden, daß die in dem Werk vertretenen Nachlässe rechtsgerichteter Parlamentarier wie Hölder, Treitschke, Marquardsen, Miquel, Bennigsen, denen des linken Flügels wie Lasker, Stauffenberg, Freytag zahlenmäßig durchaus die Wage halten. Wenn trotzdem die Briefe des letzteren Flügels dominieren, so geht daraus hervor, daß sie eben im Vordergrund des Parteilebens standen. Auffallend ist das Versagen des Briefwechsels Ende der achtziger Jahre. Waldersees jüngst veröffentlichte Korrespondenz ist z. B. für den Anteil der Liberalen an den Intriguen, die zu Bismarcks Entlassung führten, weit ergiebiger. Freilich grade die Hauptkorrespondenten der früheren Zeit waren tot (Lasker) oder hatten sich ganz (Treitschke, Sybel) oder teilweise (Forckenbeck, Stauffenberg) vom parlamentarischen Leben zurückgezogen. Hervorgehoben seien noch die biographischen Mitteilungen, die mit ihren kurzen Lebensabrissen die schnelle Orientierung über Briefschreiber und Empfänger wesentlich erleichtern.

Die ebenfalls auf eine Anregung Wentzckes zurückgehende Arbeit Uelsmanns ( 1660 a) zeigt die Lücken der Geschichtschreibung deutscher innenpolitischer Entwicklung. Es wird immer wieder übersehen, daß der Begriff von Fraktion und Partei sich damals noch viel weniger deckte als heute, und damit wird der Parteigeschichte von vornherein eine falsche Grundlage gegeben. Die Fraktionen waren zunächst äußerst lose, oft nur durch die Sympathien für eine Persönlichkeit zusammengehaltene Gebilde. Die Abgeordneten wechselten zuweilen schon um einer Meinungsverschiedenheit im Einzelfall halber die Fraktion, ohne daß dies als Wechsel der Parteianschauung anzusehen war. Erst unter dem drohenden Druck des Verfassungskonflikts kam es zu einer geschlossenen Parteibildung mit einheitlichem Programm. Auf Grund der zeitgenössischen Publizistik und der amtlichen Wahlstatistik hat Uelsmann nun wenigstens für eine Landschaft, den Regierungsbezirk Düsseldorf, Klarheit über die Fraktionsströmungen innerhalb der Parteien geschaffen. Es wäre zu wünschen, daß sein Beispiel für andere Landesteile nachgeahmt würde.

Bis in die Gegenwart führen die von Rochus Freiherr von Rheinbaben herausgegebenen Reden und Schriften Stresemanns ( 1655). Das einleitende, in ausgezeichnetem Stil geschriebene biographische Geleitwort basiert offenbar auf den eigenen Angaben Stresemanns und enthält daher interessantes Material über seine persönliche und die parteipolitische Auffassung der Geschichte der letzten zwanzig Jahre. Insbesondere sei auf die Darstellung der innenpolitischen Krisen des Weltkrieges sowie der folgenden Jahre und der Entstehung der Deutschen Volkspartei verwiesen. Die geschickt ausgesuchten Reden und Schriften zeigen Stresemann als eine vielseitig gebildete, stets über den Dingen stehende Persönlichkeit, deren realpolitischer Auffassung Überschwenglichkeit fernliegt. Die Entwicklung vom Parteipolitiker zum Staatsmann, dem die undankbare Aufgabe zufiel, Deutschlands Würde und Interessen gegenüber den auf der Höhe ihrer Macht stehenden geschicktesten Staatsmännern der Welt zu vertreten, läßt sich gut verfolgen. Unter den biographischen Essays ist die mit


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warmem Empfinden geschriebene Würdigung der Persönlichkeit Friedrich Eberts hervorzuheben. Aber auch in der Besprechung der Betrachtungen Bethmann Hollwegs zum Weltkrieg und dem Nekrolog auf Erzberger versteht Str. es, den positiven Leistungen dieser beiden Männer gerecht zu werden, denen er innerlich ablehnend gegenüberstand. Wenn eine Sammlung wie die vorliegende auch nicht als vollständig angesehen werden kann, so muß sie der Historiker schon deshalb freudig begrüßen, weil sie ihm wichtiges Quellenmaterial zur Zeitgeschichte darbietet, das er sonst erst mühselig an den verschiedensten Stellen sammeln muß.

Müller-Meiningen übt in dem ersten Teil seines »Parlamentarismus« ( 1654) unter Einfügung langer Zitate aus anderen Werken und Zeitungen Kritik an dem heute bestehenden deutschen Regierungssystem. Er meint, der Sprung vom Obrigkeitsstaat zum bedingungslosen Parlamentarismus sei zu groß gewesen. Im zweiten Teil gibt er auf Grund der eigenen Erfahrungen dem angehenden Parlamentarier gute Lehren für die Kunst des Redens usw. Der dritte Teil enthält persönliche Erinnerungen und Charakteristiken von Staatsmännern und Parlamentariern. Unter diesen bringen einzelne wie die von Bassermann und Bethmann Neues. Andere Persönlichkeiten wie die Herbert Bismarcks und Eberts würdigt er m. E. nicht richtig. Insbesondere ist es bedauerlich, daß der erstere immer wieder in der Öffentlichkeit als »der kleine Sohn eines großen Vaters« dargestellt wird. In einem Alter, in welchem andere junge Leute sich als Referendare auf die zweite juristische Prüfung vorbereiten, hat er als Amanuensis seinen Vater in der Erledigung der wichtigsten Staatsgeschäfte unterstützt und, wie die Akten erweisen, Außerordentliches geleistet. Daß seine Nerven der enormen Arbeitslast, die ihm sein Vater von Jugend auf zumutete, später nicht immer gewachsen waren und er schroff wurde, hat ihm viel Feinde gemacht, ist aber begreiflich. Herbert Bismarck war unter den Mitarbeitern seines Vaters sicher einer der Befähigtsten, wenn nicht der Befähigtste. Im ganzen überwiegt bei Müller die Anekdote, und in der Darstellung der Nachkriegsgeschichte übersieht er zu wenig die großen Zusammenhänge; seine Urteile sind durch die inzwischen eingetretenen Ereignisse zum erheblichen Teil schon überholt.


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