VI. Sozialismus und Anarchismus.

Äußerlich in gleicher Aufmachung erschienen wie Nr. 1655, steht die Sammlung von Friedrich Eberts Schriften, Aufzeichnungen und Reden ( 1655 a) insofern hinter der Stresemannschen zurück, als das einleitende Lebensbild Paul Kampffmeyers weit stärker parteipolitisch eingestellt ist als Rheinbabens biographische Skizze Stresemanns. Ebert wird in stark byzantinischer Weise als Parteiheros gefeiert, und so wird Kampffmeyer der Bedeutung Eberts nicht gerecht, der zwar bis zuletzt stolz seine Parteizugehörigkeit betonte, in Wahrheit aber als Staatsmann und Politiker längst über die Partei hinausgewachsen war. Die Schriften und Reden geben indes gleichfalls ein ausgezeichnetes Bild der inneren Entwicklung, des Reifens der Persönlichkeit. Es ist erstaunlich, mit welcher Sachkenntnis und mit wie gewandter Feder der einundzwanzigjährige Sattler, der völlig auf sich angewiesen die Volksschulbildung ergänzen mußte, die wirtschaftliche und soziale Lage des Bremer Bäckergewerbes schildert. Der anfängliche Radikalismus macht bald einer ruhigeren, sachlicheren Betrachtung Platz, die durchaus im Rahmen der Parteianschauung bleibend doch das Empfinden durchfühlen


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läßt, das Ebert 1922 gelegentlich der Schiffstaufe des »Carl Legien« diesem Arbeiterführer nachrühmte: »er verlor nie den Zusammenhang der Arbeiterbewegung mit dem Leben der gesamten Nation aus dem Auge.« Eberts Kundgebungen als Volksbeauftragter und Präsident füllen fast den ganzen zweiten Band. Hier sind aber auch etliche Stücke, insbesondere die von allen Volksbeauftragten unterzeichneten aufgenommen, die Ebert wohl unterschrieben aber nicht verfaßt hatte. Wer die Akten dieser Zeit gesehen hat, weiß indes, daß Ebert es so gut wie die hervorragenderen Kanzler des Kaiserreichs verstanden hat, den Entwürfen durch Zusätze und Änderungen die von ihm gewünschte Gestalt zu geben. Ein Anhaltspunkt, ob die wichtigen Tagebuchaufzeichnungen der Revolutionstage ohne Auslassungen gebracht sind, ist nicht vorhanden. Gewiß kann heute noch nicht alles, was politisch aktuelle Fragen angeht, veröffentlicht werden. Der Herausgeber scheint mir hier sogar schon zu weit gegangen zu sein. Aber es wäre doch erwünscht zu wissen, ob wir eine ungekürzte Quelle vor uns haben oder nicht.

Der zweite Band von Emil Strauß' »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie Böhmens« ( 1661) bringt mehr Eigenes als der erste. (Vgl. Jahresber. 1, S. 359.) Im ersten Abschnitt entwirft Strauß wohl etwas einseitig gefärbte, aber doch erschütternde Bilder sozialen Elends in den böhmischen Industrien; das Unternehmertum wie die böhmischen Großgrundbesitzer wurden hier noch ganz anders als in Deutschland durch die Gesetzgebung begünstigt. Im Kampf mit den Behörden erfolgte dann die Fortbildung der politischen gewerkschaftlichen Organisation. Nicht mit Unrecht stellt Strauß fest: Schritt für Schritt mußten die Behörden zurückweichen, bis sie der Strom der Arbeiterbewegung überflutete. Im Mittelpunkt steht der Kampf um das Wahlrecht. Nach seiner Einführung 1907, meint Strauß, sei noch die Möglichkeit der Lösung des nationalen Problems durch vollständigen Umbau der Verfassung und Verwaltung des Reichs gewesen. Die herrschenden Mächte ließen sie ungenützt vorübergehen. Bald konnte sich auch die Arbeiterklasse dem Machtkampf der Nationen nicht mehr entziehen. Es ist wohl der fesselndste Teil des Buches, hier zu verfolgen, wie sich der Gegensatz zwischen deutscher und tschechischer Sozialdemokratie von Jahr zu Jahr verschärft und besonders scharf der Kampf um die Gewerkschaften entbrennt. Trotzdem die internationalen Sozialistenkongresse das Verhalten der Tschechen mit erdrückender Mehrheit verurteilten, machte die tschechische Separation in der Praxis nur Fortschritte und nötigte auch die Deutschen zu nationaler Stellungnahme. In den Lebensbildern der beiden Führer Josef Seliger und Carl Czermak führt Strauß sein Werk noch über den Weltkrieg hinaus und schildert die Entstehung der deutschen sozialdemokratischen Partei in der Tschechoslowakischen Republik. Seligers und Czermaks Lebenslauf zeigt wiederum, welche starken politischen Kräfte der Arbeiterstand in sich birgt und in dieser Partei zur Geltung zu bringen vermag.

Für Schumachers Dissertation über den Kampf um den Staatsgedanken in der Sozialdemokratie ( 1658) gilt das gleiche wie oben bei Hofmann Gesagte. Auch er ist ein Schüler Plenges und spinnt dessen Ideen aus. Schumacher stellt sich die Aufgabe, die Auseinandersetzungen in der Sozialdemokratie zu verfolgen »über die Auffassungen vom Staat und seinem Wert für den Tageskampf und Endziel«. (sic!) In vier Abschnitten geht er die theoretischen


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Grundlagen und die Entwicklung der Partei bis zur Gegenwart durch und kommt dann zu dem Ergebnis, daß die Sozialdemokratie in der Praxis den Wert des Staats erkannt habe, in der Theorie aber nicht über den Standpunkt des kommunistischen Manifests hinausgekommen sei. Erstaunlicherweise scheint Schumacher Gustav Mayers ausgezeichnete Ausgabe von Lassalles Briefen und Schriften (vgl. Jahresber. 1925, S. 357) nicht zu kennen. Demgemäß ist sein Kapitel über Lassalle und Rodbertus ausgefallen. Auch sonst scheint Schumacher nicht die neuesten und besten Ausgaben der Klassiker des Sozialismus benutzt zu haben. Nur die Schriften ihres Herrn und Meisters kennen Plenges Schüler alle und verstehen es, sie zu zitieren.

Das Werk »Die sozialdemokratischen Parteien. Ihre Rolle in der internationalen Arbeiterbewegung der Gegenwart« (hrsg. von Eugen Varga, 2. Aufl., Hamburg, Hoym. 318 S.) ist eine kommunistische Kampfschrift. Varga will die Schwächen der Sozialdemokratie vom kommunistischen Standpunkt zeigen. Nur wenn jede kommunistische Partei ihren sozialdemokratischen Gegner im eignen Lande gründlich kenne, könne ihr Kampf erfolgreich sein. Daher solle die Verschiedenheit in Charakter und Taktik der einzelnen sozialdemokratischen Parteien gezeigt werden, obwohl sie alle die gleiche politische Funktion erfüllten: Verteidigung des kapitalistischen Systems. Es sind die Parteien der meisten europäischen Staaten und die der Vereinigten Staaten von Amerika behandelt. Die Darstellung erscheint aber auch unter Berücksichtigung der einseitigen Einstellung recht oberflächlich. Den Charakter des Namensverzeichnisses mögen folgende Beispiele zeigen: »Thomas, Albert, französischer Sozialpatriot..., Wels, Otto, »Blutwels«... Wirth, Dr. Jos., ehemaliger Reichskanzler, Großindustrieller, Führer des linken Flügels der Zentrumspartei.«


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