II. Luther.

Der neue Band der Weimarer Lutherausgabe ( 2172) enthält den ersten Teil der Disputationen aus 1535--1538, mit Einleitungen herausgegeben von Hnr. Hermelink, der die seit der Erstausgabe von Luthers Disputationen von Pl. Drews (i. J. 1895) neu ans Licht getretenen Manuskripte mitheranziehen konnte und die verschiedenen Textüberlieferungen bei der Textgestaltung verwerten mußte, teils in Form des Paralleldrucks der Varianten, teils durch deren Buchung in Fußnoten. Diese Disputationen haben ihren Wert darin, daß sie uns in die die Zeit beherrschenden Streitfragen (Abendmahl, Rechtfertigung, Geltung des Gesetzes neben dem Evangelium u. dgl.) hineinschauen lassen, aber mehr noch darin, daß sie die erfolgende Entwicklung der religiösen Reformation zur konfessionell ausgeprägten Lehrschule, zur Orthodoxie mit ihrer Scholastik verdeutlichen. Diese Redetourniere waren in Wittenberg 1533 neubeschlossen worden und wurden unter Luthers (und Melanchthons) Vorsitz abgehalten. -- Zu den Bänden der W. A., an denen er mitgearbeitet hat (Katechismusband 30, 1; Lieder Luthers 35; Bibelband 4), gibt O. Albrecht ( 2174) allerhand Nachträge, Ergänzungen, Berichtigungen, Anregungen, während seine Studie zur Danielübersetzung Luthers ( 2180) das Problem der Verwertung der verschiedenen vorhandenen Originalmanuskripte für die Textgestaltung in W. A. behandelt. Im Mittelpunkt steht dabei der Brief, mit dem Luther 1530 seine Übersetzung dem damaligen Kurprinzen Johann Friedrich von Sachsen gewidmet hat, und die 1541 erweiterte Vorrede Luthers zu dieser Übersetzung; Widmungsbrief und Vorrede sind in die Gesamtausgabe der Prophetenübersetzung hineingenommen und in den verschiedenen Lutherausgaben sehr verschieden behandelt worden. -- Auf den von Luther in Vorlesungen seit 1516/17 und Kommentarwerken (1519; 1535) mehrfach behandelten Galaterbrief beziehen sich die neuen Studien von Keussen ( 2177), J. Ficker ( 2176) und G. Schulze ( 2178). Während Keussen für die erstmals von H. v. Schubert 1918 veröffentlichte Vorlesung von 1516/17 auf


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eine weitere Kollegnachschrift hinweisen kann, sucht Ficker den kölnischen Augustiner Heinrich Hymel aus Emmerich auf Grund detaillierter Handschriftforschung, die besonders methodologisch von Wert ist, als Verfasser der v. Schubertschen Nachschrift nachzuweisen. -- In Luthers Art der Bibelverdeutschung gewährt der Alttestamentler H. Schmidt ( 2179) durch Vergleich von Luthers Psalm 46 mit dem Urtext guten Einblick. --Buchwald hat seine Bearbeitung der Predigten Luthers (s. 1925, S. 405) zum Abschluß gebracht ( 2173); das Werk veranschaulicht Luthers Predigtweise und die Aufnahme seines gesprochenen Wortes durch Hörer wie Rörer und Lauterbach sehr plastisch.

Grisars neues Buch ( 2160) faßt nur für einen weiteren Leserkreis die Ergebnisse seiner früheren Arbeiten, besonders seiner dreibändigen Lutherbiographie, zusammen. Dabei hat G. von seiner rein negativen Wertung Luthers und von dessen psychopathischer Deutung, statt der Deutung aus dem positivreligiösen Zentrum heraus, ebensowenig aufgegeben wie von seiner These, daß Luther für den heutigen Protestantismus nur noch eine historische, von ihm durch starke Distanz getrennte Größe sei; die seinen früheren Schriften zuteil gewordene Kritik hat er leider nirgends berücksichtigt. -- In das Internum Lutherscher Frömmigkeit, als das man in den letzten Jahren in steigendem Maße seine bestimmte Gottesanschauung zu erfassen gesucht hat, führt die Studie des Schweden Aulén ( 2162), die nur eine Einzelstudie aus A.s großem Werk über die Entwicklung des christlichen Gottesglaubens (Den kristna gudsbilden, Stockholm 1927; vgl. Theol. Lit.-Ztg. 1928, S. 89 ff.) ist. Luthers Erfassung des persönlichen Gottes mit seiner Gnadenbotschaft hebt sich von dem Hintergrunde des dynamistischen Gottesbegriffs und der physischnaturalistischen Deutung der Gnade ab, wobei freilich die Spannung, die zwischen dem persönlichen, gnädigen Gott und dem düsteren Deus absconditus (nicht nur in Luthers Schrift De servo arbitrio) besteht, nicht übersehen werden darf. A. spricht (auch im Blick auf die weitere Entwicklung des Gottesgedankens in Orthodoxie, Aufklärung usw.) von einer »Synthese« Luthers, in der sämtliche religiöse Motive zur Geltung gebracht seien. -- Starke Beachtung findet noch immer die Frage nach Luthers Entwicklung zum Reformator. Während Merz ( 2161) hier nur Ergebnisse der Forschung für weitere Kreise zusammenfassen will, hat Stracke ( 2164) in Erweiterung seiner 1925, S. 406 angezeigten Dissertation das Problem in Nachprüfung des Selbstzeugnisses Luthers (in Vorrede zu Bd. I seiner Opera latina in der Wittenberger Ausgabe seiner Werke 1545) erneut in gewissen Hauptpunkten angepackt mit dem Ergebnis, daß Luthers Darstellung trotz ihres apologetischen Willens und mancher Irrtümer in Zeitangaben u. a. doch eine gute Geschichtsquelle sei, die man übrigens ihrer apologetischen Grundtendenz nach, wie O. Clemen, ZKG., N. F. 8, S. 618 betont, mit Luthers Vorrede zum Catalogus 1533 (W. A. 38, S. 133 f.) und mit dem Abschnitt »Anfang des Lutherischen Lärmens« in seiner Schrift »Wider Hans Worst« 1541 (W. A. 51, S. 538 ff.) zusammenstellen muß. Diese apologetische Tendenz hat freilich ein Hervortreten der konservativen und ein Zurücktreten der reformatorischen Linie in dieser autobiographischen Rückschau mit sich gebracht. Betreffs der Datierung seines Erlebnisses an Römerbrief 1,17, über das in jener Vorrede ein authentischer Bericht vorliegt, deutet Str. Luthers Worte (captus fueram, Plusquamperfektum, dessen Betonung


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freilich O. Clemen, ZKG., N. F. 8, S. 619 widerspricht) dahin, daß Luther es nicht irrigerweise erst auf 1518/19, sondern auf die Zeit vor der ersten Psalmenvorlesung 1513 datiert habe (G. Krüger, Theol. Lit.-Ztg. 1927, S. 15 f. deutet die Angabe auf die Zeit der Vorbereitung zur Römerbriefvorlesung 1515). Die Datierungsfrage ist unter dem Gesichtspunkt der Lutherbiographie deshalb von Wichtigkeit, weil von ihr die Beantwortung der Frage abhängt, ob für die Gestaltung der lutherischen Gottesanschauung tatsächlich überhaupt Röm. 1, 17 oder das schon 1513 evangelisch interpretierte Psalmwort Ps. 31, 2 (iustitia tua libera me) von primärer Bedeutung gewesen ist. -- Mit einer Einzelfrage, der Bedeutung seines Ordensoberen Johann v. Staupitz für Luthers Werden, beschäftigt sich die Publikation von A. Jeremias ( 2199), die freilich nicht nur in Textauswahl und Textbehandlung zu mancher Kritik Anlaß gibt, sondern auch hinsichtlich der evangelischen, reformatorischen Haltung St.s irrt (vgl. E. Wolf, Theol. Lit.-Ztg. 1927, S. 300 ff.; ders., Staupitz und Luther, Leipzig 1927). St. gehört nur zur Reihe der mystisch-quietistischdeterministisch gerichteten »Vorreformatoren«, die die kath. Linie doch grundsätzlich nicht verlassen haben. Unbestreitbar dürfte freilich sein, daß er Luther bei der Überwindung seiner Prädestinationsangst geholfen hat, indem er seine Anfechtungen zu der Übung der conformitas Christi rechnete und geradezu als Zeichen des Erwähltseins deuten lehrte. -- Jeremias hat sogar (S. 74, 80 f.) das Verhältnis Friedrichs des Weisen zu Luther aus der Staupitz mit dem Kurfürsten verbindenden Jugendfreundschaft abgeleitet. Jene viel umstrittene Frage nach der Stellung des Kurfürsten zu Luther und zur Reformation, die letzthin in der Diskussion zwischen El. Wagner (ZKG., N. F. 5, S. 331 ff.) einerseits, Kalkoff (ebda., N. F. 6, S. 180 ff.) und Anni Koch ( 995) anderseits erörtert worden war, versucht Kirn ( 994) in breiterem Rahmen und auf solidem archivalischen Fundament der endgültigen Lösung entgegenzuführen, indem er ein Bild von dem vor wie nach 1517 stets durch Zurückhaltung, Bedächtigkeit, Respektierung wohlerworbener Rechte, Gewissenhaftigkeit gekennzeichneten Landesherrn entwirft, der auch nach 1517 seinen Reliquieneifer betätigt, aber auch längst vor 1517 gegen Mißbrauch der geistlichen Gerichtsbarkeit ankämpft, für Ordensreform eintritt, die kirchliche Vermögensverwaltung wie die kirchliche Stellenbesetzung beeinflußt, entsprechend der auch anderswo zu beobachtenden Vorstufe des späteren evangelischen landesherrlichen Kirchenregiments. Gegen Kalkoffs Urteile hat Kirn dabei vielerlei stichhaltige Bedenken geäußert; es wird hinfort unmöglich sein, die kirchenpolitischen Maßnahmen Friedrichs in seinen acht letzten Jahren isoliert zu betrachten und seine Politik als zielbewußten, wenn auch vorsichtigen Kampf eines »Lutheraners« zu deuten. -- Der lutherischen Gottesdienstreform geht nicht nur Flemming ( 2171) in seiner ausschließlich praktisch orientierten, künftigen Reformen dienenden Arbeit nach, sondern historisch detaillierter und speziell auf Luthers Liturgik eingestellt ist Adolf Allwohn, »Gottesdienst und Rechtfertigungsglaube, Luthers Grundlegung evang. Liturgik bis 1523« (Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht, IV, 103 S.). A. verfolgt Luthers Stellung zum Gottesdienst in der bisher nur wenig durchforschten älteren Zeit (bis 1517 grundsätzliche Kritik der kath. Auffassung von Kultus, Sakrament, verdienstlicher Leistung; 1517 bis 1519 Loslösung von der Kultusreligion; 1521--1523 Vorbereitung der Reform) in Zusammenhang mit seinem Rechtfertigungsglauben und unter starker

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Betonung der von Luther empfundenen Spannung zwischen Gottesdienst im Geist und Kultus, -- einer Spannung, die der Spannung im Menschen (gerecht und doch imperfectus) und der Spannung zwischen Ewigkeit und Zeit entspreche (zur Kritik vgl. Joh. Meyer, Theol. Lit.-Ztg. 1928, S. 284 ff.). --Holsteins Vortrag ( 2169) gehört in das Kapitel: politische Wirkung Luthers hinein und bejaht diese Wirkung, indem er Luthers »Patriarchalismus« als nur zeitbedingte äußere Form ablöst und als das Neue an Luthers Staatsauffassung die Wertung der natürlichen Ordnungen als gottgewollter, daher nicht minderwertiger Ordnungen, die christliche Pflicht zur Einordnung in diese Ordnungen und die Aufgabe, das Gegebene mit sittlichem Geist zu durchdringen, herausarbeitet. Dieser Staatsgedanke ist nicht nur im Konfessionsstaat des 16. und 17. Jahrhunderts wirksam, sondern wirkt sich auch in der idealistischen Auffassung des Staats als sittlichen Organismus und im Gegensatz gegen die aufklärerische Vertragsidee aus. Der von H. gegebene typologische Vergleich der idealistischen mit der lutherischen Staatsidee müßte durch den Nachweis der tatsächlichen Wirkung Luthers auf die einzelnen idealistischen Denker, wie ihn Blanke, ZKG., N. F. 1927, S. 616 für Hamann gibt, im einzelnen unterbaut werden. Zur Debatte über Luthers Staatsauffassung sei noch auf G. Ritters Auseinandersetzung mit Pauls ( 2170) und auf das allgemeine Bild, das G. Lagarde ( 991) zeichnet, hingewiesen.


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