VI. Innerprotestantische Gegensätze. Orthodoxie.

In das Zentrum protestantischer Theologie führt Barnikols Studie über den freien Willen ( 2193), die außer Calvin vor allem Luther, Melanchthon, Bucer heranzieht und deren verschiedene Lehrbildung untersucht. Dem metaphysischen Determinismus Luthers stellt er nicht nur Melanchthon gegenüber, der trotz religiöser Wertung der Erbsünde doch mehr und mehr zum Indeterminismus neigt, sondern auch Calvin, der Augustin und Luther verbindet, im sittlich-religiösen Sinne Determinist, im psychologischen durch Anerkennung der Spontaneität des menschlichen Handelns Indeterminist sei und beides in der Formel necessitas voluntaria verbindet. In die spätere Phase der Erbsündendebatte, die Loy ( 2232) in Beschränkung auf den Regensburger Streit 1572 ff. schildert, hat Barnikol nicht mehr hineingeleuchtet. In dieser Phase, die durch den Traktat des Matthias Flacius, des Ultralutheraners, 1567 veranlaßt war, beschäftigte die Frage die weiteste Öffentlichkeit, so daß auch die Obrigkeit verschiedentlich eingriff. Loys Darstellung ist eine plastische Charakteristik des streitbaren Theologengeschlechts aus dem Zeitalter der Konkordienformel. -- Der wissenschaftlich förderndste Beitrag zur Geschichte der Orthodoxie des 16. und 17. Jahrhunderts ist Otto Ritschls 3. Band seiner Dogmengeschichte des Protestantismus ( 2148), der die reformierte Theologie dieser Zeit behandelt (das die lutherische Theologieentwicklung behandelnde Gegenstück, Bd. 4, ist inzwischen 1927 auch erschienen), mit einer gewaltigen Fülle von Einzelgestalten, die R. zu einem Gesamtbild zusammenfaßt. Während er das Problem Biblizismus und Traditionalismus schon im 1. Bande erledigt hatte, nimmt er hier die Prädestinationsidee als Zentrum, bringt Zwinglis und danach Bucers Bedeutung als Urheber des reformierten Protestantismus sehr stark zur Geltung, während er ebendamit Calvin in die zweite Linie rückt und die nur beschränkte Nachwirkung seiner spezifischen Eigenart widerholt betont (vgl. das oben III über


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Ursinus Gesagte). In der Entwicklungsgeschichte werden dann der Arminianismus (dabei auch Hugo Grotius) und die Bundestheologie (von Zwingli und Bullinger an bis zu Coccejus und seiner Schule) besonders eingehend behandelt, beidemale auch die Bedeutung dieser neuen Theologien, des die Prädestinationsidee erweichenden Universalismus einerseits, der biblizistischen Idee des alten und neuen Bundes anderseits, für die nachorthodoxe, aufklärerische Entwicklung herausgearbeitet (zur Kritik vgl. L. Zscharnack, ZKG., N. F. 8, 1926, S. 626 ff.; F. Kattenbusch, Theol. Lit.-Ztg. 1927, S. 202 ff.). -- Bei Ritschl kommt natürlich auch die durch Melanchthons Irenik und durch Bucers Vermittlungstheologie schon im 16. Jahrhundert vorbereitete protestantische Irenik und Unionsstimmung zur Darstellung, die nicht bloß in der Theologie der Folgezeit um sich greift, sondern auch kirchenpolitisch in bewußten Unionsversuchen (vgl. 2214, 2247) sich auswirkt, um freilich zu wirklicher Union von Reformierten und Lutheranern erst sehr spät, nach weiterer Erweichung des Konfessionalismus durch den religiösen Pietismus und die rationale Aufklärung, zu führen. Das Nebeneinander von oft rabiater Streittheologie und beginnender Toleranz in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hat Fritz ( 2242) im Blick auf die württembergischen Verhältnisse gut gezeichnet. Den Widerstand noch der Orthodoxie des beginnenden 18. Jahrhunderts gegen die u. a. vom Württemberger Chr. Matth. Pfaff vertretene Unionsstimmung illustriert die Studie Wotschkes ( 2213). Diesem verdanken wir wieder wie schon seit Jahren (s. 1925, S. 412) eine ganze Reihe von Briefpublikationen aus der Zeit der Spätorthodoxie (bes. 2275, 2280, 2289). Besonderer Wert dürfte den Studien 2282 und 2273 zukommen, weil Wotschke damit beginnt, die Frage der Mitarbeiter so wichtiger Quellenwerke für die Zeit des 18. Jahrhunderts wie der »Unschuldigen Nachrichten« Löschers (seit 1701) und der Weimarer »Acta historicoecclesiastica« (seit 1734) zu klären, was zum Zweck der Abschätzung des Wertes der in jenen Zeitschriften gebotenen Mitteilungen aus allen Kirchengebieten ein dringendes Erfordernis ist.


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