VII. Pietismus, Aufklärung, Idealismus.

Die Struktur des deutschen Pietismus, und zwar des Spener-Franckeschen, beleuchtet Günther ( 2216) zunächst von der Mystik her, indem er den Gegensatz zwischen der die radikale Negierung des Gefühlslebens erstrebenden Askese der transzendenten Mystik und dem Halleschen Streben nach Weckung starker Gefühle, insbesondere peinvoller Sündengefühle, stärker betont als die Linie, die Pietismus und Mystik verbindet. Als ein anderes Charakteristikum arbeitet er dann das individuelle Erfahrungsstreben heraus, das er als eine Stufe des mit dem Augustinischen Erfahrungserlebnis anhebenden Prozesses zu erfassen sucht, -- eine bei aller Zugespitztheit anregungsreiche geistesgeschichtliche Analyse, die freilich nicht alle Linien erfaßt. Für die Frage altprotestantische Mystik und Pietismus sei auf Bornkamms oben (IV) schon besprochenen Forschungsbericht verwiesen, der mit Recht auch die andere altprotestantische Wurzel, die Reformbewegungen der Orthodoxie, zur Aufdeckung der Entstehungsgeschichte des Pietismus mitheranzieht. -- Bei alledem werden weitere religionspsychologische Analysen der einzelnen Vertreter des Pietismus eine notwendige Vorarbeit sein. Betreffs Tersteegens hat Söhngen ( 2250) das Verhältnis des Bekehrungspredigers und des Mystikers untersucht. Die Studien über A. H. Francke ( 2211, 2212, 2290), mit denen das Franckejubiläum von 1927 seine Schatten vorauswirft,


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bewegen sich im Territorialhistorischen oder im Pädagogischen und werfen für jene Analyse nichts ab. Für die territoriale Auswirkung des deutschen Frühpietismus ist außer Weiskes Aufsatz über Graubünden und das den Pietismus scharf ablehnende Genf um 1724 ( 2212), sowie desselben Aufsatz über Ostfriesland ( 2286) und Biereyes über Erfurt ( 2290) W. Wendlands Untersuchung über Berlin ( 2305) zu beachten, wo Speners Wirken das um 1700 noch traditionell sehr feste Kirchentum wenig berührt zu haben scheint. -- Unter wirtschaftsgeschichtlichem Gesichtspunkt in Angriff genommen, sind Uttendörfers Untersuchungen über Herrnhut ( 1848; vgl. K. Müller2217), wie die im vorigen Jahre (s. 1925, S. 414 f.), auch kirchengeschichtlich sehr ertragreich. Sie behandeln die Zeit von 1743 bis zum Jahrhundertende, in der zu den alten vor allem handwerklichen oder hausindustriellen Anfängen ausgedehntere Handels- und Industriewirtschaft hinzugetreten und damit zugleich eine starke Vermehrung der Brüderaristokratie eingetreten ist, -- eine Änderung, die nicht ohne Zusammenhang mit einem Wandel des Frömmigkeitstypus sich vollzogen hat. Die Hemmungen der wirtschaftlichen Entwicklung durch die seit 1744 scharf durchgeführte Trennung der »Chöre« (Eheleute, ehelose Brüder, ehelose Schwestern) und durch die klösterliche Abschließung der Ledigen in den getrennten Chorhäusern werden ebenso eingehend auf Grund solider archivalischer Grundlage geschildert wie die eine Nivellierung des Herrnhuterlebens bedeutenden Kämpfe gegen diese Chortrennung und gegen die Anstaltserziehung der Kinder. In diesem Rahmen findet dann bei Uttendörfer die (im vorigen Berichtsjahr von Hammer, s. 1925, Nr. 1930, behandelte) Gestalt Dürningers, des ersten großen Herrnhuter Wirtschaftsmenschen, ihren Platz.

In die Frühgeschichte der Aufklärung gehört die von Reuning ( 2207) geschilderte Person des von Descartes beeinflußten Theologen Balthasar Bekker, dessen Buch »De betoverde Wereld« v. J. 1680 mit Recht eine führende Rolle in der Bekämpfung des Hexenwahns wie des Teufelsglaubens zugewiesen wird, wobei R. seinen Kampf nicht nur aus rationalistischer Kritik, sondern aus seinem religiösen Gottesglauben ableitet. Als ein derselben Frühzeit angehörendes Aufklärungsdokument ist jetzt die bekannte Schrift De tribus impostoribus erwiesen (vgl. J. Presser, das Buch De tr. i., Amsterdam, H. I. Paris. VII, 160 S.), mit seiner rationalen Kritik des Dogmas und seiner religionsgeschichtlich fundierten Auflösung des Absolutheitsanspruchs des Christentums; Presser hat erwiesen, daß das Abfassungsjahr 1598 auf dem Titel fingiert ist, und daß diese scharf aufklärerische Schrift tatsächlich erst 1685 ff. entstanden ist, und zwar in Hamburg, verfaßt von dem Dr. jur. Joh. Joachim Müller; man kann ihn als (freilich noch radikaleren) Vorgänger des Hamburger Reimarus bezeichnen. -- Ungleich langsamer und vorsichtiger vollzog sich innerhalb der deutschen Theologie das Eindringen aufklärerischer Ideen, wie dies Stolzenburg ( 2218) in seinem umfassenden Buch an dem Württemberger Chr. Matth. Pfaff und dem Jenenser Franz Buddeus nachgewiesen hat; beide, den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts angehörend, stehen noch zwischen Orthodoxie und Aufklärung. Mag ein Pfaff wegen seiner Unionstendenz auch von der Orthodoxie noch so heftig bekämpft worden sein (vgl. 2213), so ist doch bei ihm wie bei Buddeus das Neue (Ablehnung des Autoritätsglaubens, historisches


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Interesse, Konzentration auf biblische Fundamentallehren, psychologische Betrachtungsweise, Auseinandersetzung mit dem Deismus u. dgl.) noch ganz in das Alte eingebettet. Es sind auch keineswegs nur aufklärerische, sondern in derselben Stärke pietistische Elemente an der Auflösung des Alten beteiligt, wie wir dies auch sonst bei dem Typus der sogenannten »Übergangstheologie« oder »vernünftigen Orthodoxie« beobachten können.

Für die theologisch noch immer heiß umstrittene Zeit des deutschen Idealismus (vgl. 1925, S. 415 f.) liegt als historische Studie nur die von Bornhausen ( 2219) vor, in ihrem Tiefsten ein Bekenntnis dessen, was er an Dichtung, Philosophie, Musik jener Jahrzehnte persönlich erlebt hat und immer wieder erlebt, im schärfsten Gegensatz zu denen, die der aus alledem herausklingenden deutschen Frömmigkeit gegenüber taub sind. Die beiden Teile behandeln das klassische Lebensgefühl der Religion (auf Goethe konzentriert: Chronos, Pneuma, Eros) und das romantische Lebensgefühl der Religion (an Clemens Brentano verdeutlicht).


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