§ 44. Staatstheorie.

(P. R. Rohden.)

Unter der staatstheoretischen Literatur des Berichtsjahres befindet sich, abgesehen von Einzeluntersuchungen, nur eine wenigstens der Themastellung nach historische Darstellung. Es ist dies die »Geschichte der Staatstheorien« von L. Gumplowicz ( 2436), die von G. Salomon als erster Band der Ausgewählten Werke des österreichischen Soziologen herausgegeben wird. Schon äußerlich weicht Gumplowicz' Darstellung insofern von dem üblichen Schema ab, als sie den ganzen Zeitraum von den ersten historisch nachweisbaren Anfängen des politischen Denkens bis auf die neueste Zeit zu erfassen trachtet. So beginnt Gumplowicz nicht wie üblich bei der griechischen Staatstheorie, sondern bezieht auch Vorderasien, China und Ostindien in den Kreis der Betrachtung ein, um den Leser in einem als »Zeitalter der Revolutionen« bezeichneten Schlußteil bis zu den modernen soziologischen und anthropologischen Theorien zu führen. Trotzdem wird der Historiker mit der Arbeit wenig anfangen können, da die Kritik der einzelnen Doktrinen ganz einseitig vom persönlichen Standpunkt des Verfassers aus erfolgt. Nirgends macht sich das Bestreben fühlbar, den politischen Theoretiker aus seiner Zeit zu begreifen. Vielmehr wird auch gegenüber solchen Staatstheoretikern, in denen Gumplowicz Bahnbrecher der soziologischen Betrachtungsweise erblickt, allzu häufig das


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absolute Kriterium der Richtigkeit und Unrichtigkeit angewandt. Die skizzenhaften biographischen Einleitungen lassen zudem oftmals nicht nur die Distanz zum Gegenstand vermissen, sondern muten auch -- z. B. bei Augustin (S. 89) und Rousseau (S. 246--248) -- in ihrer stilistischen Sorglosigkeit recht sonderbar an. Wer daher Gumplowicz nur nach dieser Arbeit beurteilt, wird ohne weiteres begreifen, warum die reichsdeutsche Geschichtsschreibung sich ihm gegenüber ablehnend verhielt.

Weit aufschlußreicher ist m. E. das Buch von Fr. Wieser über »das Gesetz der Macht« ( 2437), obwohl auch diese Arbeit von bestimmten Wertvoraussetzungen ausgeht, denen der Historiker nicht ohne weiteres beipflichten kann. Wieser versucht den Nachweis zu führen, daß »sich das strenge Gesetz der Macht im Laufe der Zeit zu den milderen Geboten von Recht und Sittlichkeit wandelt« (S. III). Beim Nachweis dieser These geht es allerdings nicht ohne einige recht störende Umdeutungen des geschichtlichen Materials ab. Gänzlich verfehlt -- um hier nur ein Beispiel herauszugreifen -- scheint mir z. B. Wiesers Versuch, den liberalen Staatgedanken aus der Ideenwelt der französischen Revolution herzuleiten (S. 344--350). Denn die französische Revolution ist nur in ihren Anfängen liberal, um schon in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in das demokratische Fahrwasser abzubiegen. Die liberale Idee der Freiheit des (ökonomischen) Individuums und die demokratische Konzeption des freien Volkes sind dem Inhalt und der Herkunft nach etwas völlig voneinander Verschiedenes, weshalb es auch nicht angeht Rousseau einfach den »Aufklärern« zuzurechnen. Den »Übergang vom Liberalismus zur Demokratie« setzt Wieser viel zu spät an. Dieser Übergang hat sich schon im Kampfe zwischen Girondisten und Jakobinern vollzogen. Auch sonst ist das historische Material nicht immer richtig verwertet. So geht es z. B. nicht an, den englischen Liberalismus dem französischen zeitlich nachzuordnen u. a. m. Der Historiker wird also von der Arbeit Wiesers zwar manche Anregung erfahren -- besonders aus den Abschnitten über »die modernen Machtorgane« -- muß aber, um sich vor Fehlschlüssen zu hüten, das benutzte geschichtliche Material auf Schritt und Tritt genau nachprüfen.

In einem ganz andern Sinne konstruktiv wie die Arbeiten dieser beiden Soziologen ist das Buch des Juristen C. Schmitt über »die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus«, das jetzt in zweiter Auflage vorliegt ( 2439 a). Schmitt geht von der richtigen Einsicht aus, daß Parlamentarismus und Demokratie ursprünglich auf ganz verschiedenen Voraussetzungen beruhen. Das parlamentarische System führt Schmitt unter Hinweis auf den Parlamentarismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Prinzipien der Diskussion und der Öffentlichkeit zurück (S. 6), während er die Demokratie als »Identität von Regierenden und Regierten« bestimmt (S. 19). Wie wesentlich dieser Gegensatz ist, geht am besten aus der Antipathie hervor, die ein Rousseau dem Repräsentativsystem entgegenbrachte. Nur darf man darüber nicht vergessen, daß die Geschichte schon häufig recht heterogene Prinzipien zu einer lebensfähigen Einheit verschmolzen hat. Schmitt gelangt zu seiner These von der Überlebtheit des parlamentarischen Systems, indem er eine historische Phase desselben -- das régime censitaire -- verabsolutiert. Er anerkennt zwar, daß Institutionen den Geist, der sie schuf, mitunter lange überleben können. Er verkennt aber, daß historische Institutionen unter Umständen


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auch die Kraft haben, ihr schließlich doch primäres Dasein mittels der verschiedensten Argumente theoretisch zu rechtfertigen. Gerade das Beispiel der Monarchie, deren Prinzip der Verfasser mit Montesquieu in der »Ehre« erblickt, beweist diese Möglichkeit der Substitution des Grundes. Denn es ist doch ein fundamentaler Unterschied, ob man die absolute Herrschaft mit dem 17. Jahrhundert als Eigentumsrecht deutet und dem Herrscher das jus utendi et abutendi zubilligt, oder ob man -- wie es der aufgeklärte Absolutismus tat -- den Rechtsgrund der monarchischen Staatsform in der salus publica sucht. Der Abstand zwischen dem ludovicischen Anspruch »l'Etat c'est moi« und dem friderizianischen Bekenntnis »Ich bin der erste Diener des Staates« scheint mir jedenfalls weit größer als der Unterschied zwischen dem Parlamentarismus kleiner begüterter Minoritäten und der modernen parlamentarischen Massendemokratie. Vor allem aber scheint mir Schmitt hier den Gedanken der Repräsentation zu vernachlässigen, den er in seiner Schrift »Römischer Katholizismus und politische Form« so scharf herausgearbeitet hat. Nicht auf die Möglichkeit ungehemmter und endloser Diskussion kommt es dem modernen Wähler in den parlamentarischen Massendemokratien unserer Zeit an, sondern darauf, ihrem politischen Willen in irgendeiner Form Ausdruck zu verleihen. Damit soll die Eventualität, daß man dem Willen des Volkes auch auf anderem als dem parlamentarischen Wege Ausdruck geben kann, keineswegs bestritten werden. Nur haben die Methoden der action directe, die der Antiromantiker Schmitt so sehr bewundert, den großen Nachteil, in der Mehrheit der Bevölkerung den peinigenden Eindruck des Regiertwerdens zurückzulassen, während das parlamentarische System im Wähler doch wenigstens die subjektive Überzeugung erweckt, daß er auf die Art, wie die Geschicke des Staates gelenkt werden, einen gewissen Einfluß ausüben kann. -- Immerhin muß anerkannt werden, daß die von Schmitt erhobenen Bedenken nichts mit dem landläufigen Antiparlamentarismus zu tun haben. Im Gegenteil, man könnte ihm eher den Vorwurf machen, daß seine juristischen Ausführungen allzu subtil sind und zu wenig auf die banale Voraussetzung des Parlamentarismus, den Wähler, Rücksicht nehmen. Mit seiner Methode, die Institutionen an ihren ursprünglichen Ideen zu messen, wird man vermutlich auch bei der Kritik der Monarchie und der Diktatur zu völlig negativen Resultaten gelangen.


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