II. Geschichtschreibung in zeitlicher Reihenfolge.

Aus den durch Höhlbaums große vierbändige Ausgabe bekannten, lokalgeschichtlich (für Köln) und kulturgeschichtlich so ergiebigen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs hat Josef Stein (von dem 1917 der erste Teil einer Dissertation über H. W. als Mensch und Historiker erschienen ist) einen fünften Band herausgegeben ( 2466): eine nicht unergiebige Nachlese mannigfaltigen Inhalts aus allen Teilen jener Aufzeichnungen. Die Einleitung des Herausgebers faßt die gewonnenen Ergebnisse über die Entstehung des wertvollen Quellenwerks kurz zusammen: Hermann Weinsberg (geb. 1518, gest. 1597, nicht wie bisher angenommen wurde: 1598) hat in der Weihnachtswoche 1560 die Abfassung seines dreiteiligen »gedenkboiches der jaren« begonnen, mit dem Jahre 1517 einsetzend. Mit Behagen, größtenteils aus dem Gedächtnis, erzählt er die Erinnerungen aus seiner Jugendzeit bis 1555, wobei er sich von 1550 an auf die in kurzen Notizen in zwölf Büchlein bis 1561 geführten »Almanachs-boichlin« stützt. Von da an sind die Aufzeichnungen tagebuchartig weitergeführt, doch immer erst nach mindestens monatelanger Frist, bis er über die beigefügten politischen Nachrichten die nötige Gewißheit erlangt hatte. Als Nachschlage- und Auskunftsbuch für den künftigen Hausvater des bald versinkenden Geschlechts ist das Gedenkbuch gedacht. Die persönlichen und Familienangelegenheiten sind ihm Hauptsache. Seine Glaubwürdigkeit wird, wo man sie aus anderen Quellen (z. B. Ratsprotokollen) nachprüfen kann, nirgends widerlegt.

W. Friedensburgs Aufsatz über »Jakob Wimpfeling als Verfasser der ältesten deutschen Geschichte« ( 115) vermag meines Erachtens das Urteil Fueters (Gesch. d. neueren Historiographie 185), daß das Büchlein »eher zur publizistischen als zur historischen Literatur« zu zählen sei, nicht zu ändern. Fr. beschränkt sich in der Hauptsache auf eine Charakterisierung des Inhalts, ohne auf das Wesen von W.s Geschichtschreibung und Quellenbehandlung näher einzugehen. -- Der Vortrag von J. Deutsch über ( 118) »Pommersche Geschichtschreibung bis zum Dreißigjährigen Kriege« behandelt im Schlußabschnitt ziemlich summarisch die bekannten Werke von Bugenhagen und Kantzow, Gentzkow und Barth. Sastrow, Stralsunder Aufzeichnungen und Joachim von Wedels »Hausbuch«, ohne durch eigene kritische Untersuchungen unsere Kenntnis wesentlich zu fördern. -- Adolf Schaube ( 117) stellt »Die Fortschritte unserer Kenntnis von Bartholomäus Stein und seinen Werken


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seit Markgraf« zusammen: Stein († Ende 1521 oder Anfang 1522) war von 1501--1505 Rektor der Johannis-Schule in Breslau. In dieser Zeit, nicht erst Ende 1516 (so Markgraf und Bauch), hat er die Beschreibung Schlesiens, die ihn schon vorher beschäftigt hatte, fertiggestellt. In dieser Gestalt, nur um einige spätere Nachträge vermehrt, liegt sie uns vor. Erst nach der Rückkehr von auswärtiger akademischer Tätigkeit (zuletzt in Wittenberg) nach Brieg hat er die ausführliche Beschreibung von Breslau hinzugefügt, sie 1513 einheitlich zusammengefaßt und 1514--1515 eine kurze statistische Zusammenstellung über Breslauer Kirchen und ihre Altäre hinzugefügt.

Auf eine fast verschollene Schrift eines fast vergessenen Schriftstellers, von dessen Leben nur wenig zu ermitteln ist, macht Wilhelm Bauer ( 119) aufmerksam: Hans Jakob Wagner von Wagenfels, † 1702, seit 1691 Geschichtslehrer des späteren Kaisers Josephs I., den Wegele überhaupt nicht nennt, der Verfasser eines kurzen Compendium historiae universalis (1692--1695) und »allgemeiner sowohl geistlicher als weltlicher Geschichten von Erschaffung der Welt bis auf unsere Zeiten« (1696), erhebt in seinem »Ehren Ruff Teutschlands«, der 1685 vollendet, 1688 die Druckerlaubnis von der Wiener Universität erhielt und 1691 erschien, einen Mahnruf gegen die Verherrlichung und Nachahmung alles Französischen. Ihm fehlt noch jede historisch-kritische Methode in der Verwendung der Quellen, namentlich früherer Jahrhunderte, aber in der Erkenntnis des Wesens der Nation schreitet er den meisten seiner Zeit voran. Er ist einer der ersten, sagt Bauer, der die deutsche Geschichte als eine innerlich zusammenhängende Einheit erfaßt und alle kulturellen Äußerungen der Deutschen auf den Begriff einer deutschen Nation bezieht. Auch legt (nach Bauer) seine Gesamthaltung dafür Zeugnis ab, daß die österreichische Politik jener Tage nicht bloß die Wege kleineren oder größeren Eigennutzes gegangen sei, sondern daß man in Wien bestrebt gewesen, auch deutsche Politik zu machen. Eine zweite Auflage des Ehren-Ruffs sei unter dem Titel »Verjüngter Encomiastes Germaniae« unter dem Pseudonym Friedrich Gottlieb von Treuenstein »gedruckt zu Freystadt a. O. 1698« erschienen.

In einer Frankfurter Dissertation bietet Adolf Wirth »Beiträge zur Geschichte der deutschen Historiographie von 1770--1805 vom Standpunkte der Volkserziehung aus« ( 106). Die -- vom Standpunkt der Historiographie doch willkürliche -- zeitliche Begrenzung wird damit begründet, daß sie die zweite klassische Blüte der deutschen Nationalliteratur umfaßte, weil in ihr zuerst die deutsche Bildung und die deutsche Literatur einen für die nationale Kultur grundlegenden Bund geschlossen hätten. W. will die Frage beantworten, inwieweit in diesem Menschenalter die deutsche Geschichtschreibung pädagogische Ziele verfolgt habe oder in dieser Richtung zu wirken geeignet gewesen sei. Es handelt sich um die »Popularisierung der Geschichte«: »in edelstem Sinne aufgefaßte Popularisierung der Geschichte ist eben eine Geschichtschreibung im Geiste der Volkserziehung«. »Mit dieser Arbeit soll der Anfang gemacht werden zu einer geschichtlichen Betrachtung der Geschichtschreibungskunst für die ganze Nation.« Unter diesem Gesichtspunkt untersucht W. die Werke einer Reihe von Männern von Schlözer und Gatterer bis auf Woltmann und K. F. Becker, wie weit sie für die Bildung und Erziehung der Erwachsenen der ganzen Nation geeignet gewesen, wie weit ihre Wirkung in dieser Beziehung gegangen sei. An Hegewisch rühmt er das Ziel: die Förderung des


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wahren Patriotismus, der Kenntnis von Tugenden und Fehlern der Nation. Der eigentliche Wendepunkt beginnt mit Joh. v. Müller: innere Anteilnahme und Beseelung des Stoffs dringen in die deutsche Geschichtschreibung ein. Als gewaltiger Anreger und Wegweiser für die Popularisierung der Geschichte wird er gepriesen. In der Erziehung zur Humanität sind schon Herders Ideen ein Meisterwerk für die Popularisierung. An Schiller rühmt W. das Streben nach Überführung wissenschaftlicher Erkenntnis in weitere Kreise. -- Die historische Publizistik ist gar nicht berücksichtigt, Zeitschriften sind nur ausnahmsweise erwähnt und mehr gestreift als verwertet. Die Auswahl, die einerseits auf Literatur-, Kirchen- und Kunstgeschichte eingeht, ist auf der andern Seite nicht ohne Willkür: u. a. sind Gentz-Burke nicht berücksichtigt, und ebenfalls nicht Heeren. -- Mit Recht betont W. Lütge in einer Studie über Heeren ( 123), daß Heeren gerade für ein breiteres gebildetes Publikum geschrieben habe. Und ebenso mit Recht tritt Lütge der Stellung entgegen, die Fueter ihm unter Einreihung in die Schulen Montesquieus im Kreis der Historiographie der Aufklärung angewiesen hatte. Seine »Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt« bedeuten den Versuch, im Geiste Herders (besser wohl: in Anknüpfung an Herder) Geschichte zu schreiben. Zwischen Heerens und Niebuhrs Kritik erblickt L. nur einen graduellen, nicht einen fundamentalen Unterschied; sein Schüler ist Pertz (in seiner Art doch auch) ein Wegebereiter zu moderner Quellenkritik. Heeren darf, so urteilt L., keiner der beiden sich damals ablösenden Richtungen der Geschichtswissenschaft zugezählt werden, die Stellung der Aufklärung zur Kritik hat er jedenfalls in den wesentlichsten (sic!) Punkten überwunden.

Zwei Jahrzehnte nach Heerens Tode etwa setzt die Epoche der sogenannten »politischen Historiker« ein. Es ist bemerkenswert, wie bald schon die politische Bedeutung dieser führenden Männer der Historiographie jener Tage in Regierungskreisen Beachtung fand. Ein beredtes Zeichen dafür ist der von A. O. Meyer veröffentlichte amtliche Bericht ( 110), den der damalige Vertreter des Habsburgerstaats am Bundestag, bald leitender Minister in Wien, Graf Rechberg, schon im August 1858 an seinen Chef (und bald Vorgänger) Graf Buol richtete. Den Anlaß bietet die bevorstehende Begründung der Historischen Zeitschrift durch Heinrich von Sybel: Schon besetzen sie, so heißt es, die Lehrstühle der Universitäten, sie treiben mit der Geschichte Politik und systematische Propaganda, selbst wenn sie entlegene Gegenstände, wie Mommsen in seiner Römischen Geschichte, behandeln. Sie wirken vom Katheder, in ihren Werken und Zeitschriften erster Ordnung auf Lehrer, Lehrbücher, Konversationslexika, die Tagespresse. Schon seine ihre Bestrebungen von Erfolg begleitet; es werde noch schlimmer, wenn nicht ihren Einseitigkeiten, ja Verfälschungen deutscher Geschichte beizeiten ernstlich begegnet werde. -- Wie nahe in der Tat in jener Epoche historische Studien und politische Interessen -- einander doch befruchtend -- sich bereichern, davon legt auch der Band Zeugnis ab, in dem Wilhelm Erben aus dem Nachlaß Theodor Sickels »Denkwürdigkeiten eines deutschen Geschichtsforschers« ( 130) herausgegeben hat. Neben den autobiographischen Aufzeichnungen und Reisebriefen nehmen hier die politischen Berichte aus Deutschland und Frankreich (großenteils für die Preußischen Jahrbücher) sowie ein guter Teil der Korrespondenz eben als Belege politischer Einstellung eines Mannes, der den nachlebenden Fachgenossen in


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erster Linie als ein Bahnbrecher neuer Quellengebiete gilt, unser Interesse in Anspruch. Die Briefe sind daneben ein Zeugnis für das innere Leben der Historie in jenen Tagen; sie finden in der ausgebreiteten, gesondert herausgegebenen Korrespondenz mit Georg Waitz ( 129) zumal für den wissenschaftlichen Gedankenaustausch, für die Entwicklung der Monumenta Germaniae und die Entfaltung der Diplomatik durch Sickels Karolingerstudien ihre wertvolle Ergänzung.

Im übrigen sind es namentlich Nekrologe und Gedenkfeiern, die den Anlaß geben, über den Lebensgang und die Lebensarbeit namhafter und erfolgreicher Fachgenossen zu berichten. In der Entwicklung der Historiographie sind es dann aus einer großen Zahl zumeist wenige, die hier neue Bahnen gewiesen, neue Gebiete erschlossen haben. Mit Recht hat W. Hoppe an K. F. Kloeden ( 124), dessen sympathische Gestalt uns aus seinen schlichten und inhaltreichen Lebenserinnerungen entgegentritt, gerühmt, wie er auf eigenen Wegen es verstanden hat, Natur und Geschichte in dem einen starken Klange seiner (märkischen) Heimat zusammenzufassen. Wir werden daran erinnert, welche Bedeutung der stillen Lebensarbeit Felix Liebermanns ( 143, 142) für die Erschließung angelsächsischer Quellen und englischen Rechtslebens zukommt; in den Nachrufen auf Eberhard Gothein ( 138) und Georg Friedr. Knapp ( 141) tritt uns der Wert der Verbindung von Nationalökonomie und Historie vor Augen, eine Verbindung, die ein Historiker bei Knapp wohl noch schärfer und eindrucksvoller betont haben würde; noch einmal (s. Jahrg. 1925, 158) wird die auf der so anziehenden Persönlichkeit und ihrem inneren Reichtum beruhende Stellung, die Alfred Dove ( 133) zukommt, gegenwärtig; wir werden an die Bedeutung erinnert, die Karl Holl ( 140) durch die Gestaltung des Lutherbilds aus dem zentralen Punkt der Rechtfertigungslehre für das Verständnis der Reformation zukommt; durch ihn erst sei eine Auseinandersetzung mit dem Katholizismus ermöglicht, wie sie bisher nicht denkbar gewesen. Aus dem Bereiche spezifisch katholischer Geschichtsauffassung hat die gewaltige Arbeitsleistung Ludwig von Pastors der Historie nicht nur eine ungeheure Bereicherung unserer Kenntnisse auf dem Gebiete der Papstgeschichte gebracht; ihm bleibt das Verdienst, hier -- mag auch das Bild und Urteil, das ein Akatholikus gewinnt, vielfach andere Farbentöne tragen -- viele, nicht alle Schranken konfessioneller Bindung beseitigt zu haben. Der »Denkschrift« ( 152), die ihm Freunde zum 70. Geburtstag gewidmet, muß man ihren Jubiläumscharakter zugute halten. Pastor selbst hat im eigenen Lebensabriß seiner Arbeit und seiner Stellung in dem früh erwählten Beruf seinen Platz anzuweisen gewußt ( 113). -- Über Dietrich Schäfers köstliches Selbstzeugnis ( 151) ist bereits Jahrgang 1925, S. 159 berichtet worden. -- In seiner temperamentvollen Weise hat K. J. Beloch den Platz bezeichnet, den er in der modernen Forschung und Darstellung griechischer und römischer Geschichte in Anspruch nimmt ( 113). Auch Felix Rachfahl hat in der schlichten Weise, die dem ganzen Wesen dieser kraftvollen und arbeitsfreudigen Gestalt eigen war, von seinem Eingreifen in die Entwicklung der Historie berichtet ( 113). Mannigfache Nachrufe legen Zeugnis ab von der Anerkennung, die er gefunden. Doch tritt weder hier noch in seiner eigenen Niederschrift genügend zutage, daß eine besondere und dauernde Bedeutung seinem frühzeitigen und bestimmten Eingreifen in die durch Lamprecht hervorgerufenen methodologischen


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Streitigkeiten zukommt. -- Der Überblick endlich, den Harry Breßlau ( 113) kurz vor dem Abschluß seines bis ins hohe Alter, ja bis zur letzten Stunde mit voller Arbeitsfrische bedachten, erntereichen Lebens selbst gegeben hat, gewährt den Überblick über weite Gebiete mittelalterlicher Studien seit mehr als einem halben Jahrhundert. Quellenkritik und -edition und Urkundenlehre zeugen von dem Meister, dessen autoritative Stellung manchem erst nach seinem Scheiden zum Bewußtsein gekommen ist. Zugleich aber weist diese Lebensarbeit in Ausgangspunkt und Entfaltung auf führende Gestalten seiner Lehrjahre zurück: auf Waitz, Droysen, Ranke.


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