§ 6. Urkundenlehre und Zeitrechnungslehre.

(R. Heuberger.)

Die Betrachtung der Veröffentlichungen des Jahres 1925 erinnerte an die unbestreitbare Tatsache, daß die Urkundenlehre an Anziehungskraft verloren hat. Allein es werden sich trotzdem immer wieder auch namhafte Forscher mit Gegenständen aus diesem Wissensgebiet beschäftigen. Dies zeigt ein Blick auf die Erscheinungen des laufenden Berichtsjahres aufs neue. Unter ihnen ist die Urkundenlehre -- z. T. auch dank der durch mehrere Festschriften (so 211, 213) gebotenen Anregung zur Behandlung einschlägiger Fragen -- sehr gut vertreten; auch wenn man von dem absieht, was für sie bei Arbeiten auf den Gebieten der Paläographie ( 340, 349, 351, 353, 367; vgl. auch 155, 156, 158 bis 161, 164, 165, 346, 350, 352, 356, 379), der Archivkunde (bes. 51--54, 56, 57, 59, 63--76 a, 190--192, 200, 1360), der Sprachgeschichte ( 672) und der Siegelkunde ( 408, 490, 494) sowie bei Herausgabe von Urkunden- und Regestensammlungen (bes. 171, 172, 178--181, 183--189, 193, 194, 196--198, 201--204, 466, 469, 529, 736, 888, 934, 1400, 1629, 1917, 1918, 1994) oder von Tafelwerken ( 195, 324, 342, 343, 366) abfällt.

I. Urkundenforschung und Urkundenlehre im allgemeinen.

Es liegen nicht nur Abhandlungen über Einzelfragen der Urkundenforschung vor. Mit welchen Schwierigkeiten diese noch lange nach der Zeit Mabillons (zu diesem auch 378) zu kämpfen hatte, beleuchtet Müller durch Schilderung der Auseinandersetzungen über die Veröffentlichung der älteren Urkunden St. Gallens ( 120). -- Bittner berichtet über die -- in der Hauptsache vergeblichen -- Bemühungen J. Frh. v. Reinharts, Direktors des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Metternich zur Schaffung von Einrichtungen für entsprechende, namentlich hilfswissenschaftliche


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Schulung der künftigen Archivbeamten an der Wiener Universität zu veranlassen ( 61). --Hampe würdigt Bresslaus Schaffen ( 135 a) und Redlich weist auf die Bedeutung einiger, in den letzten Jahren erschienener Arbeiten, besonders des Bittnerschen Buches (vgl. Jahresberr. 1, S. 164) für die Entwicklung der Urkundenlehre hin ( 376). --Lodolini versucht, den Laien unter vorwaltender Berücksichtigung des italienischen Urkundenwesens in unser Fach einzuführen ( 377), gibt aber, schon weil er Darlegungen über Paläographie, Zeitrechnungslehre, Siegel- und Wappenkunde unverhältnismäßig viel Raum gönnt, die neuere deutsche und französische Forschung unerwähnt und ihre Ergebnisse großenteils unberücksichtigt läßt, den Blick von allem, was nicht unmittelbar zum Handwerkszeug des Archivbenützers gehört, abwendet und statt genauer Angaben über wichtige Einzelheiten allgemeine Redensarten bietet, kein auch nur einigermaßen brauchbares Bild von Entwicklung, derzeitigem Stand und Aufgaben der Urkundenforschung. Dankenswert sind nur manche Hinweise auf einschlägige Leistungen der Forschung und derzeitigen Unterrichtsbetrieb der Urkundenlehre in Italien. Auch die maßgebenden italienischen Fachgenossen dürften die Aufnahme dieser Arbeit in die so rühmlich bekannten Manuali Hoepli bedauern.

II. Herrscherurkunden.
A. Königsurkunden des 6.--8. Jahrhunderts.

Verschiedene, z. T. zur Erörterung weitergreifender Fragen gelangende Arbeiten mehren unser Wissen von den mittelalterlichen Herrscherurkunden. Dem Kulturwandel vom Altertum zum abendländischen Mittelalter im Bereich der Urkundenentwicklung nachzugehen, ist eine reizvolle Aufgabe. Kirn ( 383) nimmt sie in Angriff und führt in einem bis ins 13. Jahrhundert ausgedehnten Überblick vor, wie das römische Erbe innerhalb des königlichen und päpstlichen Kanzlei- und Registerwesens äußerlich übernommen und dabei, besonders im Norden, vergröbert und entstellt, z. T. sogar völlig aufgegeben wurde, um daraus scharfgefaßte Folgerungen zuungunsten der bekannten Lehre Dopschs von der Kulturkontinuität zu ziehen. -- Mit einer der von der Forschung arg vernachlässigten ostgermanischen Herrscherurkunden beschäftigt sich Reymond ( 389 a). Er zeigt, wie ein Synodalbericht und eine Urkunde des Burgunderkönigs Sigismund -- beide von 515 -- im 9. Jahrhundert überarbeitet und zu einer einheitlichen Aufzeichnung über die Gründung von St. Maurice d'Agaune verschmolzen wurden und wie dieses Schriftstück dann in einer der Überlieferungen noch Verunechtungen unter Benutzung einer Urkunde Rudolfs III. von Burgund von 1017 erlitt. -- Der Schrift der langobardischen Königsurkunden wendet sich Schiaparelli in einem Aufsatz zu, der auch eine westgotische Unterschrift in einer Urkunde von 774 und die urschriftlich erhaltenen Herrscher- und Papsturkunden für Fiesole behandelt ( 351). -- Mehrere Abhandlungen gelten der fränkischen Königsurkunde (hierzu auch 386, 2034). Handelsman ( 387) untersucht das sog. Präzept von 614 eingehend. Er faßt es als zweite, zu täuschenden Beweiszwecken aufbewahrte Fassung eines von den Bischöfen Südwestgalliens eingereichten, vom König aber nicht gebilligten Entwurfs zu einer Urkunde Chlothars II. auf, die durch das Edikt von 614 nicht befriedigte Wünsche jener Geistlichen und der romanischen Bevölkerung ihrer Sprengel erfüllen sollte. --Heuberger ( 1511) unternimmt gegen Brunner den Nachweis, der merowingische Pfalzgraf habe sein in den Placiten erwähntes Gerichtszeugnis dem König und nicht der Reichskanzlei


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geleistet, erst unter Karl d. Gr. sei von dieser -- wohl um sie zu entlasten und nicht aus rechtlichen Ursachen -- die Hofgerichtsschreiberei abgezweigt worden und das Gerichtsschreibertum sei keine ursprünglich ribuarische, sondern eine zum mindesten gemeinfränkische, vermutlich zuerst im Westen auf römischer Grundlage entwickelte Einrichtung gewesen. -- Die Bedeutung und Verflachung des Begriffs »clusas« in den Urkunden der Karolinger (zu deren Kapitularen auch 1516, zur Hofkapelle auch 1892, über Bildung des fränkischen Weltklerus 1934 a) behandelt Dept ( 389).

B. Kaiserurkunden für die römische Kirche. Fälschungen deutscher Königsurkunden.

Den Ausfertigungen der Kaiser für die römische Kirche sind einige Arbeiten gewidmet. Mercati veröffentlicht unter Beigabe einer Abbildungstafel einen höchst wichtigen Fund, das auf Papyrus geschriebene Bruchstück eines vielleicht von Wido und Lambert für Papst Formosus 892 ausgestellten Pactums ( 380). Einem dieser Herrscher allein, Arnulf oder Ludwig III. schreibt Stengel dieses Stück im Rahmen seiner bedeutenden Untersuchung zu, die in scharfsinnigster Beweisführung die ungebrochene Entwicklung des Kaiserprivileges für die römische Kirche von 817 bis 962 aufhellt ( 1894). --Haller ( 922) sucht in seiner Betrachtung der Politik Ottos IV. und Innozenz III. das Vorhandensein der königlichen Versprechungsurkunde in einer datierten, im päpstlichen Register eingetragenen (B) und einer unvollständigen und undatierten, urschriftlich erhaltenen Fassung (A) durch die Annahme zu erklären, der Welfe (zu dessen Urkunden auch 883) habe versucht, sich den drückendsten Verpflichtungen durch Weglassung der entsprechenden Bestimmungen in dem von Innozenz geforderten Schriftstück zu entziehen. Dieses (A) sei nach Entdeckung des Betrugs nach Rom gesandt und durch eine vollständige, in der Urschrift aber gleichfalls undatierte Ausfertigung (B) ersetzt worden; während Bresslau ( 1915) im Zusammenhang mit seiner Schilderung des ersten politischen Auftretens Nicolaus' von Ligny die Entstehungsgeschichte der Versprechungsurkunden Heinrich VII. beleuchtet. Selbstverständlich fehlt es nicht an Ausführungen über angeblich oder wirklich gefälschte Herrscherurkunden (hierzu auch 874, 1890). Brackmann ( 397) legt in seinem für die Beurteilung Abt Wilhelms und der Politik Gregors VII. zwischen 1075 und 1080 grundlegendem Aufsatz über die Anfänge von Hirsau dar, wie Heinrichs IV. zweite, 1075 ausgestellte Urkunde für dieses Kloster, die gleich Gregors VII. Ausfertigung für dasselbe Stift noch den Anschauungen der älteren Reformpartei entsprach, zwischen 1079 und 1090 in Hirsau durch Einschiebung mehrerer Sätze im Geist Clunys verunechtet und dadurch das seit 1101 von der Reichskanzlei benutzte sog. Hirsauer Formular geschaffen wurde. -- v. Ottenthal weist drei Bischofsurkunden und eine Urkunde Lothars III. für Hillersleben als Fälschungen auf echter Grundlage nach, Fälschungen, von denen jede für sich und zu anderm Zweck entstand ( 403). --Hirsch bespricht einige gefälschte Stücke, eine Urkunde Ottos III. (eine vermutlich eigenhändige Unterschrift dieses Kaisers 167, Tafel 7) für die Bracciforte, die zugehörige Bestätigung Lothars III. und eine mit den Bobbieser Fälschungen zusammenhängende Urkunde Konrads III. für die Rizzoli ( 390) und erweist, auf Beziehungen Bambergs und Würzburgs zur Reichskanzlei und dadurch vermittelte Formularbeziehungen zwischen den Schreibstuben des letzten Saliers und des ersten Staufers eingehend, von den beiden, von Empfängerhand geschriebenen Urkunden


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Konrads III. für die Kanoniker von St. Ambrogio in Mailand vom 14. und 15. Juli 1129 die erste, die er abdruckt, als echt, die zweite als Fälschung ( 391). Endlich nimmt Helleiner als Vorlage der Fälschung St. 2563 eine verlorene Urkunde Heinrichs IV. von 1058 an ( 392).

C. Formulare und Formelbücher der deutschen Reichskanzlei. Böhmische und ausländische Königsurkunden.

Brackmanns und Hirschs Abhandlungen leiten schon zu den Arbeiten hinüber, die sich dem Formular der Königsurkunde und verwandten Gegenständen zuwenden. Hier sind einige, z. T. auch methodisch bemerkenswerte Abhandlungen zu nennen. Mit Hilfe weitgespannter Diktatuntersuchungen, die dereinst zur Nachweisung mancher Helfer Heinrichs IV. führen sollen, sucht Schmeidler ( 870) Leben und Wirken eines Mannes festzustellen, der zuerst dem Erzbischof von Mainz als Diktator, von Weihnachten 1075 bis 1106 Heinrich IV. als Verfasser von Urkunden, Briefen und Aktenstücken, als Fälscher und als Verfasser einer Streitschrift gedient und zuletzt auch die Vita dieses Kaisers geschrieben habe. -- Erben ( 876) sichert die Lesung »trina« statt »quia« in der nach seiner Vermutung von einem Mann aus der Umgebung Kanzler Gottfrieds wo nicht von diesem selbst verfaßten Gelnhäuser Urkunde (St. 4301), indem er diese genauestens paläographisch prüft und die Zweisätzigkeit ihrer Narratio auf Grund höchst belangreicher Beobachtungen über die Verwendung von Satzzeichen und Großbuchstaben sowie mit Hilfe der Stilvergleichung wahrscheinlich macht. -- Die seit Konrads III. Kreuzzug nachweisbare Verwendung von Formeln des in seiner Entwicklung gekennzeichneten päpstlichen Ordensprivilegs durch einen unter diesem König und dessen Nachfolger tätigen Notar und die Benutzung eines mit dem Codex Udalrici zusammenhängenden Formularbuchs unter diesen Herrschern verfolgt Zatschek ( 393; zu den Stauferurkunden auch 174, 177, 887, 1544). Schieche berichtet über ein von Karls IV. Kanzler Johann von Neumarkt angelegtes, mit der Summa cancellariae desselben Beamten verwandtes Formularbuch und dessen spätere Fortsetzung ( 404; zu den Kaiserurkunden auch 182 und Jahrgang 1, Nr. 880, S. 245 [erst 1926 erschienen]; zu den sizilischen Herrscherurkunden 175, 383, 1544). Einen Beitrag zur Kenntnis der böhmischen Königsurkunde liefert Dluhosch durch den Nachweis, daß die Verbindung des sogenannten Wenzelssiegels mit dem eigentlichen Königssiegel zu einem Münzsiegel nicht als Ausdruck des Mitbesiegelungsrechtes der Stände aufzufassen sei und daß dieses im 12. Jahrhundert nicht bestanden habe ( 408). Endlich muß noch der mit Abbildungen ausgestatteten Arbeit Deschamps' gedacht werden ( 394), die -- bei den Beziehungen der deutschen zur französischen Herrscherurkunde (zur englischen Königsurkunde auch 383) auch für jene von Bedeutung -- vorführt, wie sich die spätmittelalterliche lettre close der französischen Könige schon unter Karl IV. und in Philipps VI. erster Zeit, und zwar aus der lettre missive ordinaire entwickelte.

III. Papsturkunden.
A. Ihre Entwicklung im allgemeinen.

Hier ist zunächst der -- auf den ersten Blick kaum übersehbare -- Ertrag der gewaltigen, bei Inangriffnahme der Hispania pontificia vollbrachten Leistung Kehrs zu buchen. Fördert dieser Meister der Urkundenforschung schon durch die Veröffentlichung der 275 noch ungedruckten oder in Deutschland kaum bekannten Papst- und Kardinalsurkunden aus den Pontifikaten Leos III. (Fälschung) und


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seiner Nachfolger (bis 1198), die er in den von ihm durchsuchten und eingehend geschilderten Archiven Kataloniens fand ( 168), und durch Herausgabe von Teilabbildungen der 12 ältesten in jenen Archiven befindlichen Urschriften päpstlicher Ausfertigungen auf Papyrus (10 Stück) und Pergament (2 Stück) aus der Zeit von Formosus bis Benedikt VIII. und der Nachzeichnung einer vermutlich von Johannes XIX. ausgestellten Urkunde ( 167) unsere Kenntnis sehr wesentlich (vgl. u. a. R. v. Heckel, Deutsche Literaturzeitung, 48, Sp. 2215--2221), so legt er in der zu diesen Tafeln gehörigen Abhandlung eine grundlegende Untersuchung über Schrift, Textgestaltung und Herstellung der Papsturkunden des 9.--11. Jahrhunderts vor, die z. T. völlig neue Einsichten in den behandelten Gegenstand eröffnet. Im Rahmen dieses Berichtes ist es unmöglich, die Tragweite der einzelnen, hier niedergelegten Forschungsergebnisse (so über die Entwicklung der Kuriale und ihr Verhältnis zur Minuskel, über die eigenhändige Beteiligung des Papstes an der Urkundenfertigung, über die Kanzleigeschichte und über das Vorkommen echter, von den üblichen Formen der Papsturkunden ganz abweichender Ausfertigungen) auch nur anzudeuten. Es mag die Bemerkung genügen, daß das von Kehr Gebotene den Ausgangspunkt für alle Forscher bilden muß, die sich der älteren Papsturkunde zuwenden. Daneben sind aber auch noch andere Arbeiten aus dem in Rede stehenden Gebiet zu nennen. Hufe behandelt in einer noch nicht gedruckten Doktorschrift die Poenformeln der mittelalterlichen Papsturkunden ( 381), Michael- Schweder in einer von Erben eingeleiteten, mit Abbildungen ausgestatteten Abhandlung die Schrift auf den Papstsiegeln des Mittelalters ( 353) und Schiaparelli in einem von 3 Tafeln begleiteten Aufsatz den Ursprung der Kuriale ( 349).

B. Päpstliche Register und Kanzlei. Ablaßbriefe der Kardinäle und Bischöfe.

Mehrere Arbeiten betreffen, wenigstens teilweise, das Registerwesen (hierzu auch 383). Silva-Tarouca zeigt durch Untersuchung einer Briefgruppe der Jahre 446--460, daß die Vorlagen der Briefsammlung Leos d. Gr. die kleineren Sondersammlungen des 6. Jahrhunderts, größtenteils mittelbar aus den Papstregistern geschöpft haben, und zwar durch Vermittlung am päpstlichen Hof hergestellter Sonderbriefsammlungen und bischöflischer Gesta, die päpstliche Schreiben enthielten, welche ihrer Wichtigkeit halber auf Grund der Register vervielfältigt und so verbreitet worden waren ( 170), während Perels den Nachweis unternimmt, daß Nicolaus' I. Brief Nr. 111 an Hinkmar von Reims echt und das Privileg desselben Papstes Nr. 159 für St. Calais keine Fälschung, sondern ein nicht genehmigter, in die Register Nikolaus I. verschlagener Empfängerentwurf sei ( 1895). Endlich legt Peitz in einer Abhandlung, die auch die Veranlassung zum Eingreifen Innozenz' III. (über die Fälschung einer Urkunde dieses Papstes 175) in den deutschen Thronstreit erörtert, seine Auffassung dar, der zufolge den Anlaß zur Herstellung des registrum super negotio Romani imperii das Eintreffen der nach seiner Meinung im Frühjahr 1199 abgeschickten Gesandtschaft Ottos IV. geboten habe ( 1904). Für die Kenntnis des päpstlichen Kanzleiwesens (hierzu auch 1889) sind auch Göllers Ausführungen wichtig. Er bespricht Zahl, Befugnisse und Einkünfte der seit dem 12. Jahrhundert deutlicher hervortretenden Kubikulare, darunter auch ihre Tätigkeit bei Erledigung der Suppliken ( 1899; zu den Papsturkunden auch 176, 351, 397, 1907, 1914, 1916, 1919). Zuletzt sei auf eine z. T. Kardinalsurkunden (über eine Legatenurkunde


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877) behandelnde Arbeit Delehayes hingewiesen. Er bespricht und verzeichnet -- z. T. unter Mitteilung des Wortlauts -- die von mehreren Kirchenfürsten ausgestellten, nach feststehendem Formular gebauten Ablaßbriefe, die sich seit Schluß des 12., besonders zu Ende des 13. Jahrhunderts einbürgerten, nach dem Jubeljahr 1300 seltener, seit 1364 am päpstlichen Hof mit wenigen Ausnahmen nur mehr von Kardinälen, anderwärts, namentlich in Skandinavien aber auch noch weiterhin von Bischöfen, vor allem auf Konzilien und anderen Versammlungen ausgefertigt wurden ( 1910; zu den Ablaßbriefen auch 2070, 1901a).

IV. Sonstige Urkunden.
A. Urkunden und ihre Schreiber im fränkischdeutschen Bereich.

Für das Urkundenwesen der Frankenzeit (zu den bischöflichen gesta 170) kommen die oben S. 184 erwähnten Darlegungen über das Gerichtschreibertum ( 1511) in Betracht. Die Schrift der provenzalischen Urkunden des 12. Jahrhunderts untersucht Brunel ( 367; zum flamischen Urkundenwesen 399). Wonisch bespricht unter Beigabe von Abbildungen, eine Reihe von Fälschungen erörternd, die großenteils von den Empfängern hergestellten, z. T. in Form besiegelter Notizen gehaltenen Ausfertigungen der Markgrafen Otakar II., Leopold, Otakar III. und IV. von Steiermark und zeichnet so ein Bild des, den südostdeutschen Verhältnissen entsprechenden Urkundenwesens dieser Fürsten ( 395). Den von einem Unbekannten, vielleicht dem Empfänger, besiegelten, undatierten Parteientwurf zu einer noch in Urschrift erhaltenen Urkunde Herzog Friedrichs II. von Österreich und Steiermark für den als »frater noster« bezeichneten Leopold von Blumenau und die Frage, welchem Adelsgeschlecht dieser Mann angehört habe, behandelt Mitis unter Beigabe einer Siegeltafel ( 926; zu den Fürstenurkunden auch 401, 404, 906). Über Schreibstube und Bücherei des Klosters Heilsbronn an der Wende des 13. und 14. Jahrhunderts macht Grießer Mitteilungen ( 365a). Vock sucht nachzuweisen, daß die in gleichartigen Formen gehaltenen Urkunden des Stiftes und der Stadt Kempten in der Zeit von 1320--1380/82 nicht von Kanzleikräften, sondern von selbständigen Berufsschreibern hergestellt wurden, deren es in der Stadt stets 2--4 gab und von denen manche nachmals Stadtschreiber wurden, dann aber keine Urkunden mehr fertigten ( 365). Halten diese Ausführungen einer Nachprüfung, deren sie noch bedürfen, stand, so wäre ihr Ergebnis sehr beachtenswert (zum städtischen Urkundenwesen auch 188, 324, 399a, 402, 672, 984, 1560, 1566, 1757, 1817, 1859).

B. Amtsbücher und verwandte Aufzeichnungen. Formularsammlungen.

Hier ist vor allem der Bearbeitung des ältesten Stralsunder Bürgerbuchs von 1319 bis 1348 durch Ebeling ( 446) sowie der Ausführungen Pahnckes über die Stadtbücher von Neuhaldensleben von 1471--1486 ( 1641) und Pfitzners über die tabula proscriptorum Nicensium et provincie ( 1595) zu gedenken. Auf die Führung des kaufmännischen Briefwechsels und der Handlungsbücher in Lübeck des 14. Jahrhunderts kommt Rörig zu sprechen ( 1768). Kuphal berichtet kurz über ein Kopialbuch des Klosters St. Pantaleon in Köln aus dem 15. Jahrhundert ( 2001). Stolz bespricht das Rechnungsheft des habsburgischen Vogtes von Ensisheim und Burggrafen auf Rheinfelden aus den Jahren 1303--1306 im Vergleich mit den ältesten tirolischen Rechnungsbüchern, um daraus Schlüsse auf die Anfänge derartiger Buchführung an deutschen Fürstenhöfen zu ziehen ( 1562, Nachtrag hierzu: Hist. Vierteljahrsschrift, 23, S. 288) und Holdereg-


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ger veröffentlicht das in den Jahren 1333--1342 geführte Rechnungsbuch eines aus der Bauhütte erwachsenen, mit der Instandhaltung der Kirchen und andern Aufgaben betrauten Sittener Amtes, der fabrica ecclesie Sedunensis ( 1749). Für die Frage nach dem Ursprung der Polyptycha (hierzu auch 868) dürften Taylors Darlegungen ( 384) von Belang sein. Auf das, was durch Herausgabe und Besprechung für Urbare und verwandte Quellen ( 396, 411, 1729, 1730, 1734, 1736, 1738--1739, 1747, 1754, 1777, 2055, 2056), für Jahrzeit- und Bruderschaftsbücher ( 431, 1984), für Kirchenbücher ( 432, 436, 438; vgl. auch 1945, 2309), für Totenbücher ( 411, 1729, 1730, 1985, 2002--2003, 2074) und Matrikeln ( 2293, 2544; vgl. auch 2537) geleistet wurde, kann hier nur hingewiesen werden. Schmeidler handelt über die Tegernseer Briefsammlung Froumund (Jahrgang 1, Nr. 811, S. 229 [erschienen 1926]) und -- grundsätzliche Fragen anschneidend und an Hand zahlreicher Beispiele erörternd -- über Briefsammlungen des deutschen Frühmittelalters und ihre Verwertung ( 102). Ein um 1380 vielleicht im Kloster Leubus entstandenes, in unvollständiger Abschrift überliefertes Formularbuch teilt Klapper auszugsweise mit ( 405; zu einem Salzburger Formularbuch von etwa 1400, 1550) und Burdach gibt eine höchst wertvolle, vor allem geistes- und sprachgeschichtlich angelegte Einleitung voranschickend, schlesisch-böhmische, in deutscher und lateinischer Sprache abgefaßte Briefmustersammlungen aus der Wende des 14. Jahrhunderts heraus ( 199; zu den mittelalterlichen Briefen 936, 2361). Schneider behandelt und veröffentlicht teilweise die z. T. auf älteren Briefsammlungen beruhende Formularsammlung des Petrus de Boateriis aus Bologna ( 1545, vgl. auch 385).

C. Notariatsurkunden.

Als willkommener Beitrag zur Geschichte des italienischen Notariats (zu italienischen Urkunden außer 377 s. auch 908) ist die Abhandlung Voltelinis zu verzeichnen, der das älteste erhaltene, die Jahre 1154--1166 umfassende Imbreviaturbuch, das bekannte des Johannes Scriba aus Genua, genau beschreibt und vier Stücke daraus mitteilt ( 368). Mit den italienischen Notariatsschulen beschäftigt sich Anselmi ( 382). Die Entwicklungssgeschichte des Württembergischen Notariats, zu dessen Hundertjahrfeier eine von Gestrich bearbeitete Festschrift ( 1623) erschien, stellt Kurr dar ( 1622). Angesichts der Beziehungen der Hofpfalzgrafen zum Notariat ist es erwünscht, durch Hauptmann außer dem Wappenbuch eines solchen Würdenträgers auch den Handapparat eines von ihnen kennenzulernen ( 485). -- Mit Urkundenfälschungen (zu Fälschungen der Gegenwart u. a. 1366, 1370) endlich beschäftigen sich Schiaparelli, der die Cremoneser Urkunden des 7. und 8. Jahrhunderts (gegen E. Mayer) neuerdings und wohl endgültig als Fälschungen Dragonis erweist und die Arbeitsweise dieses Mannes eingehend beleuchtet ( 388); ferner Klinkenborg ( 404), der zeigt, wie das Brandenburger Domkapitel zu Ende des 14. Jahrhunderts durch Aneignung und durch Fälschung der Urkunde Markgraf Ottos. II. von 1187, vermutlich auch der Urkunden Markgraf Johanns von 1316 und Bischof Johanns von Brandenburg von 1321, großenteils mit Erfolg, versuchte, seine Rechte an der Havel auszudehnen. (S. auch 366, 398, 400, 401, 407, 874.)

V. Zeitrechnungslehre.

Einige Grundbegriffe der Zeitrechnungslehre behandelt, mit besonderer Rücksicht auf italienische Verhältnisse Lodolini ( 377). Die wichtigste Neuerscheinung auf dem hier in Rede stehenden Gebiet (hierzu auch 408b) dürfte der zweite Band von Schroeters großem Haandbog


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i kronologi ( 408 a) sein. Aufmerksam gemacht sei auf die zweite, von E. Mahler bearbeitete, mit einem Anhang »das türkische Sonnenjahr« versehene Auflage von F. Wüstenfelds und E. Mahlers Vergleichungstabellen der mohammedanischen und christlichen Zeitrechnung (41 S.). Grotefend legt -- gewissermaßen als Ergänzung zu seinem Taschenbuch der Zeitrechnung -- in alphabetischer Folge 85 rätselhaft scheinende Datierungen vor, deren wahre Bedeutung sich meist durch Annahme leicht erklärbarer Lesefehler ermitteln läßt ( 409). Die bei den englischen Bauern des nordwestlichen Midlands noch im 16.--18. Jahrhundert gebräuchlichen clogs almanacs, immerwährende Holzkalender, die Sonntagsbuchstaben, goldene Zahlen und stehende Feste angeben, das Jahr entgegen dem sonstigen Brauch mit dem 1. Januar beginnen und im Gegensatz zu den entsprechenden Stücken Skandinaviens, Deutschlands und Frankreichs die Form vierkantiger, eingekerbter Klötze besitzen, beschreibt und erläutert Schnippel unter Beigabe mehrerer Abbildungen und eines Verzeichnisses der bekanntgewordenen deutschen Holzkalender ( 413). Collijn behandelt das älteste, aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammende schwedische Birgitinerkalendarium, das dem von Birgit Sigfustochter im Kloster Munkaliv bei Bergen geschriebenen Psalterium eingefügt ist ( 414). Santifaller veröffentlicht das in drei Abschriften überlieferte, vom Brixner Dompropst Winther in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts geschriebene, mit einem Totenbuch und zwei Urbaren verbundene Kalendar mit reichlichen Erläuterungen ( 411, 1729; vgl. auch 1730). Marot zeigt, daß -- entgegen der Annahme Girys -- in Toul seit der Mitte des 13. Jahrhunderts nicht der Oster-, sondern der auch im übrigen Lothringen übliche Annunziationsstil verwendet wurde, der erst 1581 dem Zirkumzisionsstil wich ( 410; zur niederländisch-flamischen Zeitrechnung 399, 412; für Cluny 411 a). Endlich gibt Krusch, auch auf sachliche Fragen eingehend, einen vor allem mit Hilfe der chronologisch wichtigen, aus dem 9. Jahrhundert stammenden Handschrift Digby 63 (hierzu 3 Tafeln) verbesserten Text der auf Darlegungen des Dionysius Exiguus beruhenden, im Jahr 526 an Papst Johannes I. gerichteten suggestio des Primicerius notariorum Bonifatius in Sachen der Osterfeier ( 1889; über die florentinischen Johannisfeste, 2063 a).


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