II. Gesamtdarstellungen.

Wenn im 19. Jahrhundert oft und bis zu einem gewissen Grade mit Recht darüber geklagt worden ist, daß die elsässische Geschichtsschreibung sich mit den Lorbeeren Schoepflins und Grandidiers begnüge, so gilt dasselbe für Lothringen und Dom Calmet vielleicht noch in verstärktem Maß. Wer tiefer dringende Studien zur lothringischen Geschichte macht, ist auch heute noch auf die unhandlichen Wälzer des gelehrten Benediktiners angewiesen, dessen Riesenarbeit bei allen Verdiensten, die sie für ihre Zeit hatte, doch unsern Ansprüchen nicht mehr genügen kann. Auf dem Gebiet der Quellenedition fehlt so gut wie alles; die Mettensia und die in deutscher Zeit veröffentlichten Quellen zur lothringischen Geschichte können nicht darüber hinweghelfen, daß wir ein Urkundenbuch der Stadt Metz und Regesten der drei Bistümer sowie (von einigen monographischen Ansätzen abgesehen) der Herzöge von Lothringen noch immer entbehren müssen. Daß es um die Geschichtsdarstellung etwas besser bestellt ist, haben wir vor allem Parisot zu verdanken, von dessen dreibändiger Histoire de Lorraine ( 275) im Berichtsjahr die zweite Auflage des ersten Bandes vorgelegen hat. Neues Lob braucht dieser seit ihrem ersten Erscheinen anerkannten Leistung nicht gespendet zu werden. Sie überragt auch die gangbare deutsche Darstellung von Derichsweiler in mancher Beziehung. Derichsweiler stellt die ganze lothringische Geschichte unter den Gesichtspunkt des Kampfes um die Westmark, beschränkt sich fast ganz auf das Herzogtum Lothringen und beginnt erst mit dem Zerfall des Karolingerreiches. P. verfolgt die Geschichte der région Lorraine, der später als Lothringen bezeichneten Gebiete, bis in die Vorzeit zurück und widmet gerade der merowingisch-karolingischen Zeit, die ihm einen Höhepunkt der lothringischen Geschichte bedeutet (Lothringen als »pépinière de prélats, de hauts fonctionnaires et même de rois«) liebevolle Aufmerksamkeit. Von besonderem Wert sind die


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regelmäßig eingeschalteten Kapitel über Verfassung und Recht, wirtschaftliches, geistiges und kirchliches Leben. Sie nehmen freilich einen so breiten Raum ein, daß die Geschichte der politischen Entwicklung darüber häufig zu kurz kommt. Wer sich etwa über die Politik eines Herzogs rasch orientieren will, muß die Angaben mühsam aus verschiedenen Kapiteln zusammensuchen und sich am Ende doch mit einigen kargen Andeutungen begnügen und zu Spezialwerken und Quelleneditionen greifen. Wenn also für die dritte Auflage des Buches ein Wunsch offenbleibt, so ist es der, daß die mit »Histoire de la région Lorraine« überschriebenen Kapitel weiter ausgebaut und mit nicht zu spärlichen Hinweisen auf die urkundlichen Grundlagen der Darstellung versehen werden. Gewiß wird das Werk dadurch an Ausdehnung zunehmen und einen noch ausgesprochener wissenschaftlichen Charakter erhalten. Ein Schaden wäre das nicht, da Parisots Arbeit ohnehin für populäre Zwecke zu umfangreich und außerdem für die geschichtlichen Interessen weiterer Kreise anderweitig gesorgt ist. -- Wir nennen hier die einbändige lothringische Geschichte von Morizet ( 276), die sich neben Parisot mit Ehren behaupten kann und besonders der im Vorjahr angezeigten Darstellung von Gérardin in jeder Beziehung überlegen ist. Durch angemessenen Verzicht auf ein Übermaß von Einzelheiten gewinnt der Verfasser Raum für deutliche Hervorhebung der Grundzüge. Erwähnt sei die mehrfach betonte Tatsache, daß sich die Formen des modernen Staats- und Wirtschaftslebens in Lothringen langsamer herausbildeten als in den Nachbarlandschaften, hinter denen Lothringen auch an geistigen und künstlerischen Leistungen zurückstand. Die französische Politik wird im allgemeinen mit einer Unbefangenheit beurteilt, die um so mehr anzuerkennen ist, je öfter sie in den Publikationen der letzten Jahre vermißt werden mußte. Die Zeit der deutschen Herrschaft, an deren Ende sich das Land »en plein développement économique et intellectuel« befand, hätte allerdings eine etwas weniger stiefmütterlichere Behandlung verdient.


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