VI. Kirchengeschichte.

Für die mittelalterliche Kirchengeschichte Württembergs ist diesmal die überaus wichtige Studie Albert Brackmanns über die Anfänge Hirsaus zu verzeichnen, die endlich mit der höchst notwendigen Bereinung des Quellenmaterials zur ältesten Hirsauer Geschichte einen verheißungsvollen Anfang macht ( 397). Die vielgenannte Kaiserurkunde von 1075, die bisher von der Forschung unbegreiflicherweise für echt erklärt oder vorsichtig als nolimetangere umgangen wurde, wird schlagend als eine auf echter Grundlage noch zur Zeit Wilhelms von Hirsau angefertigte Fälschung erwiesen. Damit ist der Weg zu einer neuen Auffassung der Anfänge des Klosters Hirsau und seiner Entwicklung zum führenden Reformkloster eröffnet; ehe er aber völlig gangbar wird, muß das von Br. begonnene Werk weiter geführt werden.


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Auch die Vita Wilhelmi, auf deren Anfangskapitel sich Br. noch allzu vorbehaltlos verläßt, ist nicht frei von tendenziöser Überarbeitung; ferner läßt sich die sogenannte »Hirsauer Urgeschichte«, die H. zu einer Gründung der Karolingerzeit stempelt, jetzt nicht mehr halten, seitdem wir an der Hand der neuen Ausgabe der Vita Aurelii in den Acta Sanctorum die Entstehung und den allmählichen Ausbau dieser Tradition in der Zeit Wilhelms von Hirsau verfolgen können. Josef Zeller (»Zur Geschichte der Stiftskirche [von Ellwangen] und ihrer Umgebung« in »Ellwanger Jahrbuch 1924/25 [1926]«, S. 54--70) bringt einige für die älteste Geschichte des Klosters Ellwangen und ihre Quellen wertvolle Nachträge und Ergänzungen zu seinen Ausführungen in seiner 1910 erschienenen Arbeit über die Umwandlung des Benediktinerklosters E. in ein weltliches Chorstift (ältestes Weihedatum, Veitspatrozinium). Derselbe veröffentlicht mit gewissenhaft gearbeitetem Kommentar und gründlichem Namenregister die von ihm ermittelten ältesten Totenbücher des Klosters Urspring (1. Fragmente des ältesten Nekrologs aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts in der Registratur des katholischen Pfarramts Ehingen, 2. Jüngeres, dem Anfang des 15. Jahrhunderts entstammendes Seelbuch in der Dekanatsregistratur Ehingen). Die von Baumann auf Grund einer Handschrift des 17. Jahrhunderts besorgte Ausgabe des Necrologium Urspringense in den Necrologia der Monumenta ist damit überholt und darf ohne Zurateziehung der Zellerschen Publikation nicht mehr benutzt werden ( 1985).

Über die Frage der Beziehungen von Kirche und Staat in Württemberg liegen mehrere Arbeiten vor. Ganz allgemein und ohne im wesentlichen neue Gesichtspunkte beizubringen, spricht Adolf Rapp von der Bedeutung, die die Konfession und der konfessionelle Gedanke für das gesamte geschichtliche Leben und die Entwicklung Württembergs gehabt hat, in Form einer kurzen, in den knappsten Umrissen gehaltenen Skizze ( 2239). Die Entwicklung des Visitationsrechts in der evangelischen Kirche Württembergs von der Reformation an bis in die Jetztzeit verfolgt unter vorwiegender Betonung der rechtlichen Gesichtspunkte Hans Häcker ( 2244). Die Arbeit verdient, obschon sie fast ausschließlich das in den großen Württ. Gesetzessammlungen gedruckt vorliegende Material verwertet, weiteres Interesse, da das im Laufe der Entwicklung wechselnde und schwankende Verhältnis zwischen Kirche und Staat und Kirche und Schule unter den von der Arbeit verfolgten Gesichtspunkten mannigfache Beleuchtung erfährt. Eine gewisse Ergänzung zu dieser Studie bieten die von gleichen Gesichtspunkten bestimmten Ausführungen W. Hagers über den Anteil der württ. Landstände am Kirchenregiment und an der Regelung der kirchlichen Angelegenheiten ( 2243). Über die Arbeit, die die Entwicklung bis zum Ausgang der altwürtt. Verfassung verfolgt, läßt sich das gleiche Urteil fällen wie über die eben besprochene; insbesondere besitzt sie durch geschickte Verwertung der allgemeinen Literatur und allgemeiner Gesichtspunkte einen gewissen eigenen Wert.

Zur Reformationsgeschichte liegen mehrere erwähnenswerte Einzelstudien vor. Josef Zeller beschäftigt sich mit dem nur wenig bekannten Lebenslauf der beiden als Blutzeugen gefallenen Ellwanger Reformatoren, des Stiftspredigers Dr. Johannes Kreß und des Pfarrers Georg Mumpach ( 1006). J. Volk hat in den in Wien verwahrten Akten der Reichskanzlei das wichtige Protokoll über das am 10.--12. Januar 1522 vor dem Eßlinger Reichsregiment


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abgehaltene Verhör des Reutlinger Reformators Matthäus Alber nebst anderen zugehörigen Schriftstücken aufgespürt. Die Veröffentlichung dieser Stücke, denen V. eine gründlich gearbeitete Einleitung voraufschickt ( 2241), schließt eine schmerzliche Lücke in den im Stuttgarter Staatsarchiv nur spärlich erhaltenen Reutlinger Reformationsakten. Die große persönliche Bedeutung Albers, der durch sein geschicktes und mannhaftes Auftreten die ernsthafte Gefahr eines Einschreitens des kaiserlichen Fiskals Dr. Mart und des Reichsregiments wegen Nichtbeachtung des Wormser Edikts von Reutlingen abgewendet und damit das Werk der Reformation in der Stadt gerettet hat, wird durch diesen Fund in helles Licht gestellt. Ein abfälliges Urteil von Joh. Brenz über die Haltung des Matthias Flacius im Streit um die Adiaphora während des Interims, insbesondere um die durch Kurfürst Moritz angeordnete Einführung des weißen Chorhemds, hat der vor wenigen Jahren im höchsten Greisenalter verstorbene Nestor der württ. Kirchengeschichte, G. Bossert d. ä., in einer dem Jahr 1551 zuzuweisenden Aufzeichnung des Regensburger Stadtarchivs aufgespürt ( 2240). G. Bossert d. j. trägt mit starker Betonung der Ortsgeschichte alles ihm bekannt gewordene Material über die Einführung und die erste Entwicklung der Reformation im Bereich des heutigen Dekanats Freudenstadt zusammen, das außer altwürttembergischem Gebiet auch Besitz der Klöster Reichenbach und Alpirsbach sowie alte markgräflich badische Orte und kleinere Adelsherrschaften umfaßte ( 2245). Über die kirchlichen Zustände, die in der Grafschaft Hohenlohe-Neuenstein anderthalb Jahrzehnte nach Einführung der Reformation herrschten, berichtet G. Bossert d. ä. an der Hand der Kirchenvisitationsprotokolle von 1571 ( 2246).

F. Fritz setzt seine schon im letzten Bericht hervorgehobenen, verdienstvollen und materialreichen Untersuchungen über die innere Geschichte des württ. Pfarrerstandes im Zeitalter des 30jährigen Krieges fort; die im Berichtsjahr erschienenen Abteilungen kennzeichnen die Stellungnahme der Pfarrer zum Katholizismus, Kalvinismus und zu den Schwärmerbewegungen, ferner die bei den Pfarrern vorherrschenden Anschauungen über die christliche Lebensordnung ( 2242). Den auf allgemeine Ergebnisse abzielenden Untersuchungen von Fritz tritt ergänzend und weiterführend das von Georg Bayer entworfene Lebensbild des Mag. Joh. Martin Rebstock zur Seite, dessen wechselvolles Schicksal einen tiefen Einblick in Leben und Verhältnisse des württ. Pfarrerstands in der zweiten Hälfte des 17. und im Anfang des 18. Jahrhunderts übermittelt ( 2470). In die Theologenkämpfe des 18. Jahrhunderts führt uns Wotschke in seiner etwas breit geratenen, auf reiches Briefmaterial sich gründenden Schilderung des erbitterten Streites, den in den Jahren 1718--1726 die nach Wittenberg sich nennende, hauptsächlich in Nord- und Mitteldeutschland vertretene scharf orthodoxe Richtung in der protestantischen Theologie (Edzardi, Wernsdorf u. a.) gegen die Tübinger Schule vom Zaune brach wegen der unionsfreundlichen Haltung, die diese unter des Kanzlers Pfaff und des Prof. J. Chr. Klemm Führung eingenommen hatte ( 2213).

Die 1817 der Universität Tübingen angegliederte katholisch-theologische Fakultät hat den Wiederaufstieg des deutschen Katholizismus aus den Banden des Rationalismus zu einer unbedingten Bejahung der römischen Kirche und ihrer Lehre wesentlich bestimmt und beeinflußt. Der bedeutenden katholischen »Tübinger Schule«, die in der 1819 gegründeten »Theologischen Quartalschrift«


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ihren literarischen Mittelpunkt fand, gelten einige Arbeiten meist biographischen Gehalts. Schiel ( 2121) entwirft auf Grund umfangreichen, bisher unbekannten Materials, dessen wortgetreue Einschaltung in die Darstellung diese leider zu oft schwer belastet, ein liebevoll gezeichnetes, allerdings noch weiterer Vertiefung fähiges Lebensbild des gemütvollen Oberschwaben J. B. von Hirscher, der von 1817 bis 1837 in Tübingen als Professor für Moral und Pastoraltheologie wirkte. Die persönliche und wissenschaftliche Entwicklung seines -- bedeutenderen -- Schülers, des aus Württembergisch-Franken stammenden Johann Adam Möhler, der 1822 seine akademische Lehrtätigkeit in Tübingen aufnahm, zeichnet in der gewohnten, überaus geistvollen, zugleich auch auf meisterhafter Stoffbeherrschung beruhenden Weise F. Vigener ( 2104). Mit Recht weist er M. dem kirchenstrengen Katholizismus zu und nimmt ihn gegen die verfehlte Auffassung, als sei M. ein Vorläufer des Modernismus gewesen, in Schutz. Eine kurze Skizze von Möhlers Stellung im Rahmen der »Tübinger Schule« entwirft A. Fonck ( 2103).


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