II. Gesamtdarstellungen.Mit gutem Recht hat der Verein für Landeskunde von Niederösterreich seinem Generalsekretär Max Vancsa zum 60. Geburtstag eine Festschrift ( 215) gewidmet, deren Vorwort die Verdienste aufzählt, die sich dieser namentlich um die Geschichte Ober- und Niederösterreichs erworben hat. Von den sechs Beiträgen können hier unter Übergehung der früh- und ortsgeschichtlichen, sowie eines heimatkundlichen nur zwei kurz angezeigt werden. Zunächst K. Lechners Beitrag ( 1548) zur Territorial- und Verfassungsgeschichte Österreichs über Grafschaft, Mark und Herzogtum, der anknüpfend an O. H. Stowassers einschlägige Arbeiten (vgl. Jahresberr. 1, S. 239 u. 341) die darin aufgeworfenen Probleme einer sorgfältigen Nachprüfung unterzieht, die für diesen im ganzen durchaus günstig ausfällt. Ferner O. Redlichs Studie über Kasimir Freschots Memoires de la cour de Vienne von 1705, die Lebensschicksale des Autors wie den Charakter seiner zum Teil erst nach Kaiser Leopolds Tod niedergeschriebenen Memoiren als einer »publizistischen Arbeit von bestimmter und aktueller (kaiserfreundlicher) Tendenz« ( 1073). Je lebendiger die Einheitlichkeit nationaler
Geschichtsauffassung in dem Bewußtsein aller Deutschen als Notwendigkeit empfunden wird, um so stärker
wächst das Verlangen, sich mit den alten trennenden Geistesmächten auseinanderzusetzen. Von Schaden für
die Wissenschaft wird es nur, wenn man übersieht, das Tote als Totes zu behandeln. Diese notwendige Scheidung
zwischen Abgestorbenem und Lebendigem ist Kaindl nicht ganz gelungen. Der Gegenstand, den
Kaindl (
235) in seinem »Österreich, Preußen, Deutschland«
behandelt, verdiente wirklich einmal auf Grund eingehender Quellenforschung mit jener Objektivität dargestellt zu
werden, wie sie nur aus dem unmittelbaren Verkehr mit den zeitgenössischen Zeugnissen hervorgeht. Kaindl selbst hat
als »Zweck« seiner Arbeit bezeichnet: »ich will der geschichtlichen Wahrheit zu ihrem Rechte
verhelfen, die Kluft zwischen den Volksgenossen hüben und drüben überbrücken, beim deutschen Volke
den großdeutsch-mitteleuropäischen Gedanken, der seit Karl dem Großen das deutsche Schicksal
beherrscht, stärken, endlich darauf verweisen, daß dieser sich nur durch den Föderalismus verwirklichen
läßt.« Obwohl sich K. bewußt ist, daß die Ausdrücke »großdeutsch«,
»kleindeutsch«, »ganzdeutsch« erst seit 1848 in Aufnahme kamen, will er sie auch für die
frühere Zeit dort benützen, »sobald die ihnen zugrunde liegenden Begriffe vorhanden sind«. Die 12
Kapitel, in die das Buch zerfällt, gliedern sich folgendermaßen: 1. Das alte Kaisertum als Träger des
großdeutschen Gedankens und seine Gegner, 2. Deutschlands Erniedrigung. Das Erlöschen der deutschen
Kaiserwürde. Anteil Österreichs und Preußens an den Befreiungskriegen,
S.646 3. Deutschlands Wiederaufbau und seine Hemmnisse. Die wahre Bedeutung des Deutschen Bundes und des Föderalismus, 4. Die Unterdrückung der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung. Die Ausbreitung liberaler Ideen in Österreich vor 1848, 5. Das Aufkommen des kleindeutschen Standpunktes und die Anfänge des großdeutsch-österreichischen Widerstandes. Der großdeutsche Gedanke in Österreich vor 1848, 6. Die deutsche Frage von der Februarrevolution bis zur Frage an Österreich. Der großdeutsche Sommer in der Frankfurter Nationalversammlung, 7. Die deutschen Mächte und die Nationalversammlung. Schwarzenbergs Vorschlag des 70-Millionenreiches. Das Scheitern des kleindeutschen Kaisertums, 8. Preußens kleindeutsche Versuche. Zurück zum Deutschen Bunde. Österreichs großdeutsche Bemühungen und der Neuabsolutismus. 1866, 9. Bismarcks großdeutsche Pläne und ihr Scheitern, 10. Das Schwinden des großdeutschen Geistes im Deutschen Reich. Großdeutsche Belebungsversuche. Alldeutsche Bewegung im Reich und ihr geringer Erfolg, 11. Der deutsche Gedanke in Österreich seit 1848. Ganzdeutsche und großdeutsche Bestrebungen. Schutzarbeit und Anschlußbewegung, 12. Der deutsche Föderalismus und das mitteleuropäische Problem.Aus diesen Kapitelüberschriften allein mag man ersehen, daß hier so ziemlich alle die Geschichte Österreichs und fast ganz Deutschlands berührenden Schicksalsfragen angeschnitten werden. K. begnügt sich aber nicht damit, die historischen Tatsachen festzustellen, er sucht sie vielmehr auch noch in ein bestimmtes politisches Ideal einzubauen, das ihm als Heilmittel wider die deutsche Zerrissenheit vorschwebt. Sie sind ihm durchwegs Beweise, daß es nur der Föderalismus war und ist, auf dessen Grundlage die Deutschen ihr staatliches Ideal zu verwirklichen imstande sind und waren. So überschneidet sich in K.s Ausführungen geschichtswissenschaftliches mit politischem und weltanschaulichem Wollen, das von einer stark preußenfeindlichen Gedankenrichtung getragen wird. (B.) Eine kritische Stellungnahme zu der von einzelnen österreichischen Historikern zum Teil
leidenschaftlich bekämpften Ausführungen Kaindls erübrigt sich, da v. Srbik (
236) mit der ihm eigenen Ruhe die Unhaltbarkeit von Kaindls Aufstellungen
Punkt für Punkt nachwies. v. Srbik macht vor allem darauf aufmerksam, daß die kleindeutsche
Geschichtsschreibung zwar noch in volkstümlichen Darstellungen und im Unterricht ihr Dasein friste, daß sie
aber die ernste wissenschaftliche Forschung längst nicht mehr beherrsche. Andererseits macht er Kaindl mit Recht
zum Vorwurf, daß von ihm der Begriff »großdeutsch« ohne »historische Differenzierung auf
die verschiedensten Zeiten und die verschiedensten Willensrichtungen angewandt« werde und daß geschichtliche
Persönlichkeiten, »denen die großdeutschen Ideen völlig ferne lagen«, in bestimmten
Lebensphasen oder Einzelfragen für das Großdeutschtum in Anspruch genommen werden. Kaindl bringt sich, das
betont v. Srbik, um die Wirkung an sich trefflicher Urteile und Beobachtungen, indem er in maßloser Weise alle
Schuld in der deutschen Geschichte auf Preußen, alles Lob auf Österreich häuft. Die Sucht, überall
die geschichtlichen Erscheinungen auf diese einfache Formel zu bringen, hat bei aller Hellsichtigkeit für
Einzelheiten Kaindl doch gehindert, den verwickelten Verhältnissen, wie sie die Paulskirche mit sich brachte,
gerecht zu werden. Man wird v. Srbik Recht geben müssen, wenn er bemerkt, Kaindl hätte sein Werk kaum
geschrieben, wenn nicht vorher A. Rapps
S.647 »Großdeutsch-Kleindeutsch« erschienen wäre. Nicht minder schwer fällt der Vorwurf, daß die »Große Politik der europäischen Kabinette« von dem Verfasser nicht verwertet worden ist. (B.) |
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