a) bis 1378.

Noch immer bestehen eine Reihe von Problemen in der germanisch-slawischen Übergangszeit, welche die Forschung immer wieder anziehen. Preidel ( 843) hat frühere kleinere Arbeiten nunmehr zu einer größeren Darstellung der Germanenzeit in Böhmen zusammengefaßt und macht dabei aus archäologischen Gründen u. a. wahrscheinlich, daß neben den längst bekannten germanischen Stämmen auch Thüringer und mit Bestimmtheit auch Langobarden hier gesessen haben. Für die Bretholzsche Lehre ergibt sich aus dem Buche nichts. Dagegen treten Dopsch ( 622 a) und Holtzmann ( 622 a) mit aller Entschiedenheit dafür ein, daß ein stärkeres Deutschtum in den Sudetenländern zurückgeblieben sei. Sehr beachtenswert sind die Momente, welche Dopsch für


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die enge kulturelle Verbundenheit zwischen Böhmen und dem Reiche anführt. Dopsch wie Holtzmann aber bezweifeln die Kolonisation des 12. und 13. Jahrhunderts nicht, was Bretholz getan hat. -- Mit manchem Rätsel behaftet bleibt auch weiterhin die Urkunde des Prager Bistums von 1086, die Hruby (S. 160, Nr. 20) aufs neue zu bestimmen und zu erklären versucht. Die Sitze der in der Urkunde genannten Stämme näher festzustellen, gelingt nicht immer (Chrowaten!). H.s Hauptbestreben geht dahin, die 1086 angeführte Bistumsgrenze schon für die Gründungszeit als gültig nachzuweisen, damit die Urkunde zu rehabilitieren und zugleich dem Reiche Boleslaws I. möglichst weite Grenzen zu geben. »Also noch 973 gehört zum böhmischen Reiche das ganze chrowatische Reich, umfassend das Gebiet von Mittel- und Niederschlesien zwischen Queis, Bober, Oder und das Weichselland bis zum oberen San, Bug und Styr« (S. 129).

Chaloupecký (S. 159, Nr. 8) beschäftigt sich mit der Angabe der Ostgrenze in der vielumstrittenen Urkunde und schlägt wie Brückner vor, das zweimal vorkommende »cui nomen Wag est« das erstemal auszulassen, da es eine Provinz Wag nicht gegeben hat. Der zweite, der Ostgrenze gewidmete Teil der Urkunde enthalte die politischen Aspirationen Böhmens am Ende des 11. Jahrhunderts, unterscheide sich auch stilistisch von dem ersten aus der Zeit Boleslaw II. stammenden Teile, wie bereits Pekař erkannt hat. Ch. hält an der Zugehörigkeit Krakaus zu Böhmen gegenüber Zakrzewski fest. Sehr wichtig ist der Nachweis, daß die Südgrenze gegen Österreich, wo zunächst Cosmas von der Thayagrenze spricht, durch Aspirationen Böhmens weiter nach Süden auf die Berge und die Wasserscheide von Thaya und Donau ausgedehnt werden sollte, ein politischer Wunsch, der mit historischen Mitteln begründet werden sollte. Erst durch die Kolonisation gewann dieses Grenzland Wert.

Nicht weniger oft hat die Christianfrage die sudetenländische Geschichtsforschung beschäftigt. Klärung bringt nun von der kunsthistorischen Seite Friedl (S. 160, Nr. 12), der den überzeugenden Nachweis führt, daß die Illuminierung von Gumpolds Wenzelslegende in der Wolfenbüttler Handschrift ums Jahr 1000 auf Geheiß der böhmischen Herzogin Emma verfertigt worden ist, sich aber auf die Christianslegende stützt, so daß von dieser Seite neuerdings die schon von anderen Kunsthistorikern festgestellte Tatsache erhärtet wird, daß Christian ins 10. Jahrhundert gehört und echt ist, was Pekař ja bereits vor mehreren Jahrzehnten eingehend verteidigt hat. Bemerkenswert sind die kulturgeschichtlichen Ausblicke für die Art des Zusammentreffens von Ost- und Westkultur.

Die gesamte böhmische Frühgeschichte umfaßt Šusta (S. 162, Nr. 51) in seinem zweibändigen, erstmalig 1916--1919 erschienenen Werke, dessen erster Band nunmehr in zweiter Auflage vorliegt. Die tschechische Wissenschaft darf mit Stolz auf dieses Werk blicken. Š. greift jene entscheidende Epoche heraus, in der Böhmen weit über die Landesgrenzen hinauswuchs, ein Zentralpunkt deutscher Geschichte, ein maßgeblicher Faktor der französischen, italienischen, ungarischen und polnischen Politik geworden und gewesen ist: die Zeit von 1300--1320, da Wenzel II., III., Habsburger wie Albrecht I., Johann von Luxemburg, Philipp IV. der Schöne und Bonifaz VIII. in der europäischen Politik miteinander rangen. Vergeblich wäre das Unternehmen, hier auch nur in Hauptzügen den reichen Inhalt von Š.s Werk wiedergeben zu wollen. Š. hat hier


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mit Meisterschaft ein Musterwerk politischer und sozialgeschichtlicher Betrachtungsweise, in engster Verbindung mit Verfassungs- und Geistesgeschichte zustande gebracht, das eine Übersetzung ins Deutsche im vollsten Maße verdient. Für Š. ist der genannte Zeitraum der Endpunkt alles dessen, was sich in der slawischen, vor allem dann in der deutschkolonialen Zeit entwickelte, zugleich Ausgang jener Bewegungen, die im Hussitentum gipfelten. Gerade dieses weite Ausgreifen läßt das Werk neben seinen politischen Seiten zu einer Verfassungs- und Sozialgeschichte der beiden entscheidenden Jahrhunderte: des 13. und 14. werden. Da das fesselnd geschriebene Werk auf einen größeren Leserkreis berechnet ist, wurde der wissenschaftliche Apparat auf ein Mindestmaß eingeschränkt. Dennoch erkennt der Fachmann überall das Aufbauen auf den unmittelbaren Quellen. Ausgehend von der Einwirkung der Geldwirtschaft und den sozialen Verhältnissen der slawischen Zeit zeigt Š. die Folgen der deutschen Kolonisation auf, deren Wirkung im Sudetenraume in vielem nachhaltiger gewesen ist als in der Nachbarschaft. Das Bergwesen ist eine der Haupttriebkräfte mit für das Herbeiströmen deutscher Siedler, wenngleich daneben eine sehr bedeutende bäuerliche Besiedlung einherging, was besonders betont werden soll, da Š. sein Augenmerk vor allem der städtischen Entwicklung schenkt. Patriziat und Adelsmacht entstehen in dieser Zeit. Beide liegen im 14. Jahrhundert im heftigen Kampfe. Die Regierung Ottokars II. wird eingehender gewürdigt, Wenzel II. in bedeutend helleren Farben als gemeinhin gezeichnet. An seinen Plänen und seinem Gedankengute zehrt noch Karl IV. Unter Wenzel II. wächst die Przemyslidenmonarchie mächtig an, Ungarn und Polen werden in das politische Interessengebiet Böhmens einbezogen. Im Kampfe von deutschem König und Papst wie Frankreich spielt es eine selbständige Rolle, immer mehr quillt es aus dem Reichsganzen hinaus gerade unter der Mithilfe deutscher Geistlichkeit und Ritterschaft, die durch den Einzug der Luxemburger immer mehr an Macht gewinnen. Der Vergleich Böhmens mit Frankreich wird von Š. oftmals mit Recht gezogen. Das ruhelose Auf- und Abwogen der politischen Geschehnisse wird bis ins einzelne verfolgt, wobei das Wirken wirtschaftlicher Triebkräfte in den Vordergrund gestellt wird. Neues Licht fällt auf die Politik Heinrichs VII., Ludwigs des Baiern und Friedrichs von Österreich. Der entschiedene Sieg des Adels unter Johann bestimmt dann Böhmens innenpolitische Zukunft. Gerade der Adel hat, da er sich auf die Seite der tschechischen Nation stellte, gegen das deutsche Patriziat ein wirksames Gegengewicht dargestellt, da er sich, wenngleich nicht restlos, der tschechisch-nationalen Bewegung anschloß. Karls IV. Zeit ist bereits erfüllt von all den sozialen Kämpfen, die sich aus der deutschen Kolonisation und dem politischen Umschwunge unter Johann ergaben. Der Vergleich mit dem Schicksal der slawischen Bevölkerung in den Elbe- und Oderlanden drängt sich mehr denn einmal auf, wo die Städte wie Breslau oder die Sechsstädte der Lausitz gerade einen überragenden politischen Einfluß erlangt haben, der ihnen in Böhmen nur zeitweise gegönnt war, dann aber vom Adel abgejagt wurde. Darin sieht Š. den Grund, warum Böhmen nicht völlig eingedeutscht worden ist.

Verspätet sei in diesem Zusammenhange auf das großangelegte Werk von J. V. Šimák: Kronika československá hingewiesen, von der bis 1925 3 Bände mit einem Gesamtumfange von 1003 Seiten vorlagen. Sie stellt eine tschechoslowakische


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Geschichte dar, was aus dem sonderbaren, mittelalterlich anmutenden Titel nicht hervorgeht. Die ersten drei Bände umfassen die »Alte Zeit. Von den ältesten Zeiten bis zur Reformation«, womit der Beginn der hussitischen Bewegung gemeint ist, der mit 1378 angesetzt wird. Gegen die Einteilung dieses Zeitraumes ließe sich manches einwenden. Romanhaft klingende Abschnittsüberschriften wie »Frühling des böhmischen Staates«, »Der große Traum« wären doch besser zu vermeiden. Š.s Darstellung konnte sich bis zum Ausgange des 12. Jahrhunderts auf Novotnýs, für die folgende Zeit auf Šustas und Werunskýs Werke stützen, über die im Ganzen hinauszukommen, wohl nicht in Š.s Sinne lag, der mit seiner umfänglichen Erzählung eher eine populäre Darstellung bieten wollte. (Ein erläuterndes Wort über Zweck und Ziele des Werkes fehlt.) Das Fehlen jedes wissenschaftlichen Apparates spricht dafür. Weitaus im Vordergrunde der Darstellung stehen die kulturgeschichtlichen Kapitel, mögen sie nun die geistliche, ritterliche oder bürgerliche Kultur betreffen. Die Vorliebe Š.s, des Landeskundlers, gehört dem örtlichen Detail. Gerade diese Seiten der Darstellung erweisen sich als die nützlichsten, zumal sie in den übrigen Werken nicht so ausführlich berücksichtigt wurden. Freilich wird oftmals dadurch das Ganze zu einer Anhäufung von Tatsachen (Gründungen!), zwischen denen das organische Band fehlt. Das Werk weist eine Reihe wertvoller, leider nicht immer gut wiedergegebener Bilder auf. Ein sorgfältig gearbeitetes Register macht es besonders für den Ortshistoriker leicht benützbar.

Die Doppelstellung, welche Karl IV. als deutscher und böhmischer König einnahm und die in manchen Belangen sein Handeln scheinbar zwiespältig erscheinen läßt, hat viele Forscher bereits zu Erklärungsversuchen gereizt. Als einer der Berufensten analysiert Novák (S. 161, Nr. 36) geistvoll Karls IV. nationale Einstellung, zumal er bald für die Deutschen, bald für die Tschechen beansprucht worden ist. Nach N. verkörperte er jenen der obersten Gesellschaftsschicht eigenen, aus dynastischen Rücksichten und aus der Auffassung der Dynastie vom Lande als ihrem Privatbesitze genährten Patriotismus, der sich von Nationalismus scharf unterschied. Die Landeswohlfahrt ging ihm über alles, um ihretwillen legte er besonderen Wert auf die Tatsache seiner Abstammung aus przemyslidischem Geblüte, im Adel sah er die Verkörperung der »böhmischen Nation«; der Adel aber war zum Großteil tschechisch. Zum slawischen Wesen wies ihn der Kult des hl. Wenzel, manches Formel- und Zeremonienhafte hin, wofür Karl sehr empfänglich war. Böhmen als sein Hausbesitz mußte das vornehmste Glied des Reiches werden, in seiner ganzen Eigentümlichkeit, auch mit der slawischen Sprache, die er im Interesse Böhmens, nicht des tschechischen Volkes pflegte. Die Prager Universität erstand als Zierde Böhmens, und Böhmen war das vornehmste Glied des Reiches, so daß durch die kulturelle Hebung Böhmens auch das Reich gewinnen mußte. Nicht die Sprachenfrage war für Karl das Ausschlaggebende. Wo er die Pflege des Slawischen empfahl, geschah es entweder aus Landesrücksichten oder religiösen Gründen. Dieses Streben war himmelweit von dem entfernt, was etwa im Dalimil an nationalem Fordern anklingt. Gegen diese wichtigen Ausführungen N.s sucht E. Hanisch: Der sogenannte Patriotismus Karls IV., ( 951 a) geltend zu machen, daß Novák national voreingenommen an den Gegenstand herangegangen sei, daß er mit der Gegenwart entlehnten nationalen Begriffen


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arbeite, welche dem durchaus kirchlich eingestellten Mittelalter unbekannt gewesen seien, daß er aus Karl einen tschechischen Nationalkönig, einen Vorkämpfer des Tschechentums gemacht habe, daß er nur Beispiele sammle, welche Karls Vorliebe für die slawische Sache und für Böhmen zeigen, die anderen außer acht lasse, während Karl doch Böhmen nicht anders wie jedes andere Reichsglied behandelt habe. N. hat sich mit Recht und Erfolg gegen diese Einwände gewehrt. N. darf mit aller Bestimmtheit von nationalen Vorurteilen der genannten Art freigesprochen werden.

In der Frage des »Fürstenspiegels« Karls IV. hat Steinherz ( 953) auf die Einwände Nováks, der den Fürstenspiegel nicht für ein Erzeugnis Karls IV. hält, geantwortet, ohne jedoch alle Zweifel beseitigen zu können. -- Mit der Feststellung, daß Karl IV. nicht 1335 und 1337 in die väterliche Ungnade gefallen sei, sondern nur 1337 -- wegen einer ungeschickten Ausdrucksweise Karls nahm man bisher auch das Jahr 1335 an --, dürfte Šimák das richtige getroffen haben (S. 162, Nr. 49).


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