V. Ständerechtliche Fragen.

Über die mittelalterlichen Standesverhältnisse der niederländischen Gebiete liegen eingehende und tiefgreifende Untersuchungen von Ganshof und Gosses vor. Die von der belgischen Akademie der Wissenschaften angeregte und gekrönte Arbeit von Ganshof ( 1533) behandelt die Ministerialität in den meisten niederlothringischen Gebieten und in Flandern. Hier wie dort aus unfreier Dienstmannschaft entstanden, hat sie in Flandern eine viel raschere Entwicklung durchgemacht als in Lothringen. In Flandern ist sie im Laufe des 11. Jahrhunderts so rasch mit dem Adel verschmolzen, daß schon nach 1127 jede Spur von ihr verschwunden ist. Flandern folgt darin der Entwicklung der Ministerialität in Frankreich, die schon im Laufe des 11. Jahrhunderts vom Adel aufgesogen worden ist. Auch im Bistum Cambrai war der französische Einfluß so stark, daß schon im 11. Jahrhundert die casati, die G. für bischöfliche Ministerialen erklärt, in die Nobilität aufgestiegen sind. In Deutschland, das im 11. und 12. Jahrhundert bei weitem noch nicht so stark feudalisiert war wie Frankreich, kommt die Ministerialität zu viel stärkerer Entwicklung und bildet um etwa 1100 einen an Zahl und Einfluß ansehnlichen Stand. Diese Entwicklung ist auch in den niederlothringischen Gebieten zu beobachten. In Brabant, in Lüttich, Namur, Hennegau spielt die Ministerialität noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine erhebliche Rolle. Aber auch


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hier läßt die aus Frankreich eindringende Strömung im Laufe des 13. Jahrhunderts die Ministerialität verschwinden, indem ihre Mitglieder vom Adel aufgesogen werden. Nach der Mitte des 13. Jahrhunderts erreicht diese Strömung Lüttich, Limburg, Holland, das Stift Utrecht, wo es seit Ende des Jahrhunderts keine Ministerialität als besonderen Stand mehr gibt. Seitdem ist »auf beiden Ufern der Schelde« die feudale Gesellschaftsordnung dieselbe wie in Frankreich: jeder Ritter ist adlig. In Städten wie Brüssel, Lüttich, Cambrai, Utrecht geht ein Teil der Dienstmannschaft zum Handel und damit in den Stand der Bürger über. Mit großem Nachdruck verficht G. die These, daß die Ministerialen ein unfreier Stand und Übertritte Freier in denselben nicht in nennenswerter Zahl erfolgt seien. Das entspricht der herrschenden Meinung, ist aber gerade für die niederrheinisch-niederländischen Gebiete schwerlich richtig. Schon Des Marez hat in seinem Gutachten über G.s Arbeit (Bulletins de la classe des Lettres de l'académie royale de Belgique 5. série X 1924, 70--100) dargetan, daß beispielsweise die Kastellane von Brüssel, die G. als Ministerialen anspricht, freier Abkunft waren, daß dies auch von den zahlreichen Ministerialen mit Allodialbesitz gelten müsse, und daß zur familia der Herzöge von Brabant und von Limburg, der Grafen von Namur und des Stiftes St. Peter zu Löwen nachweisbar Edle und Freie gehörten. G. aber hat die Bezeichnung »de familia« durchweg als Beweis unfreien Standes verwertet! Höchst anfechtbar sind insbesondere auch G.s Ausführungen über die nordniederländischen Standesverhältnisse. Meine Feststellung von 1909, daß im Stift Utrecht seit Anfang des 13. Jahrhunderts die landesherrliche Ritterschaft unter der Bezeichnung ministeriales zusammengefaßt wird, will G. (S. 213, Anm. 3; S. 229, Anm. 9) widerlegen durch die Behauptung, daß der Marschall Alpherus, der in einer Urkunde von 1226 an der Spitze der Laienzeugen steht, kein Ministeriale sei, zählt aber selbst (S. 223) als Ministerialen Arnoldus Loef und Everardus de Montfort auf, die in einer Urkunde von 1223 (van den Bergh OB I 288) dem Marschall Alpherus voranstehen. Ich finde durch G.s Kritik meine Auffassung, daß die Ministerialität des Bistums Utrecht -- ebenso wie die des Erzbistums Köln -- zu einem erheblichen Teil aus freien Grundbesitzern hervorgegangen ist, nicht erschüttert, ebensowenig meine Darlegungen von 1919 über die Beziehungen der Ministerialität in der Stadt Utrecht zur Reichsdienstmannschaft. In das städtische Patriziat sind Ministerialen in Utrecht wie anderwärts nicht, wie G. annimmt, durch ihre Teilnahme am Handel, sondern als Beamte und Pächter der Regalienverwaltung übergetreten. Wie weit auch G.s These, daß die ständische Ordnung aller niederländischen Gebiete seit dem Ende des 13. Jahrhunderts ausschließlich durch das aus Frankreich eingedrungene Lehnswesen bestimmt worden sei, der Nachprüfung bedarf, soll hier nicht erörtert werden.

Die Standesverhältnisse in der Grafschaft Holland hat Gosses ( 1573) unter umfassender Heranziehung archivalischen Materials in dankenswerter Weise aufgehellt. Die Stände der Welgeborenen und der huislieden sind durch Gerichtsstand, Heeres- und Steuerpflicht unterschieden. Die huislieden setzen sich aus Freien und Dienstleuten zusammen; jene sind die friesischen Gemeinfreien, diese -- ihrem halben Freienwergeld nach zu urteilen -- die friesischen Liten. Die Welgeborenen, die kein Wergeld haben und den friesischen Geburtsständen also nicht eingegliedert werden können, sind kein Adel, sondern ein zahlreicher Bauernstand; in Rijnland z. B. gibt es Dörfer mit 25--40, selbst


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72 Welgeborenen und ohne huislieden. Die huislieden unterstehen dem friesischen Schulzengericht, die Welgeborenen dem Mannengericht des Bailli. Die huislieden sind schoßpflichtig und in bestimmter Anzahl zum Schiffsdienst verpflichtet, der nach Koggen und riemtalen (Ruderzahlen) auf die Dörfer umgelegt wird. Die Welgeborenen sind schoßfrei und zu persönlichem Kriegsdienst im Harnisch, aber nicht zu Pferd, verpflichtet. Die Entstehung der Schiffsdienstpflicht vermutet G. in der Normannenzeit; die Frage nach der Herkunft der Welgeborenen läßt er offen, weist aber auf den Bericht Alperts von Metz über die Schlacht von 1018 hin, wonach Graf Dietrich III. im Merwede- Walde eine Burg erbaut und zinspflichtige friesische Bauern angesetzt hat. Doch kann die Burgmannschaft, die oppidani, da sie Reiterdienst leistet, unseres Erachtens nicht dem Stande der Welgeborenen zugewiesen werden.


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