1. Quellenveröffentlichungen. Quellenkunde.

Die Quellen der polnischen Geschichte des Mittelalters haben fast ausnahmslos für den deutschen Historiker mittelbare oder unmittelbare Bedeutung: darum sei der übrigens geringfügige Ertrag der Berichtsjahre an neuen Publikationen vollständig verzeichnet: neben kleineren Veröffentlichungen, wie der einiger für die Kirchen- und Verfassungsgeschichte wertvoller großpolnischer Urkunden durch K. Maleczyński ( 149, Berichtigungen in 180) und einiger für den Heraldiker wichtiger Gerichtsakteneintragungen aus Masovien durch Z. Wdodiszewski ( 248), einer für Übungszwecke bestimmten, von St. Arnold geschickt besorgten Auswahl aus den erzählenden Geschichtsquellen des polnischen Mittelalters ( 6) stehen umfassendere Editionen, die der Kenntnis der Geschichte des deutschen Rechts auf polnischem Boden zugute kommen: das gilt ebenso von der noch von dem unermüdlichen Editor mittelalterlicher Urkunden- und Aktenschätze B. Ulanowski († 1919) geschaffenen Sammlung der Urkunden und Akten der Warschauer Kollegiatkirche (1355--1554) ( 4) -- man könnte sie geradezu als Lesebuch zur Geschichte des deutschen Siedelungsrechts in Masovien bezeichnen -- wie von K. Kaczmarczyks an A. Warschauers »Stadtbuch von Posen« ( 1892) anknüpfenden Posener Ratsakten ( 5): sie bringen natürlich in erster Linie privatrechtliches Material, aber auch wichtige Nachrichten zur Kenntnis der Stadtverfassung, der Zunftorganisation, der Handelsbeziehungen der Stadt, der sozialen und ethnischen Gliederung ihrer Bevölkerung. Namentlich für die Erkenntnis der letzteren bietet das Verhältnis der deutschen zu den polnischen Personennamen manche Anhaltspunkte, die greifbarer sind als die aus der Sprache der einzelnen Eintragungen (neben einer Mehrzahl lateinischer stehen zahlreiche deutsche Texte und ein polnischer Eintrag) sich ergebenden. Der Erforschung der Entwicklung des deutschen Stadtrechts auf polnischem Boden dienen auch die von J. Ptaśnik mitgeteilten, für Lemberg bestimmten Rechtsbelehrungen des Krakauer Rates über das im 16. Jahrhundert geschaffene Institut des Quadragintavirats (187, vgl. auch 190). Unmittelbar dem Interessenkreis der schlesischen Historiker gehört der kleine, aus Ulanowskis Nachlaß von St. Kutrzeba veröffentlichte Traktat ( 58) an, der Bestimmungen über eine infolge angeblich gehässigen Verhaltens der Breslauer Bevölkerung gegenüber den polnischen Kaufleuten jedenfalls kurz nach 1529 angeordnete Sperrung der aus Polen nach Schlesien führenden Handelsstraßen enthält.

Reicher ist der Ertrag der Berichtsjahre auf dem Gebiete der Quellenkunde:


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von außerhalb Polens entstandenen Quellen hat die unter dem Namen des »Bayrischen Geographen« bekannte Aufzeichnung der Karolingerzeit in E. Kucharski einen scharfsinnigen Bearbeiter gefunden ( 127, 128): seine Mutmaßung über Veranlassung, Zeit und Ort der Entstehung des Denkmals (als von militärischen Gesichtspunkten ausgehende amtliche Vorarbeit zur Festlegung des limes Sorabicus 805, in Weißenburg im Elsaß) verdienen Beachtung ebenso wie einzelne seiner meist sehr gewagten, teilweise völlig unannehmbaren Konjekturen zur Rekonstruktion des Textes; phantastisch sind seine Mutmaßungen, daß in der Quelle Nachrichten über ein mächtiges Polenreich ihre Spuren hinterlassen hätten. Aus dem umfangreichen, unveröffentlichten Epistolarium des geistlichen Beraters der hl. Hildegard von Bingen, des Abtes Guibert von Gembloux (resigniert 1204, † um 1213) veröffentlicht O. Górka Bruchstücke eines Briefes an einen nicht identifizierten Scholasticus Arnulf ( 77), in denen von der Absicht des Empfängers, seine wirtschaftlich ungünstige Stellung in der belgischen Heimat mit einer Tätigkeit in Polen zu vertauschen, die Rede ist, und würdigt das Denkmal als Zeugnis der bekannten, auch für die kulturelle Entwicklung Schlesiens bedeutsamen Beziehungen zwischen Wallonien und Polen im 12. Jahrhundert, den Plan des Arnulf als Seitenstück zu dem von ähnlichen Erwägungen veranlaßten Entschluß des hl. Otto von Bamberg, sein Glück in Polen zu versuchen. Aus einer Berliner Handschrift stammt der als historische Quelle wertlose, als literarisches Denkmal beachtenswerte Brief eines aus Mähren gebürtigen, in Perugia wirkenden Augustinermönches über die angebliche Errettung König Władysławs von Polen und Ungarn in der Schlacht bei Varna ( 1444), den R. Ganszyniec veröffentlicht ( 74).

Der Stand der Forschung über die Quellen der polnischen Geschichte im engeren Sinne ist in zwei 1926 erschienenen Handbüchern übersichtlich zusammengefaßt: einerseits in Kutrzebas grundlegender »Geschichte der Quellen des alten polnischen Rechts« ( 133), die kurz auch die chronikalische und hagiographische Literatur, ausführlich, außer den Rechtsdenkmälern im engeren Sinn, Urkunden, Akten und Quellen urbarialen Charakters würdigt; für jede Beschäftigung mit der Geschichte sowohl des heimischen polnischen Rechts wie auch der des deutschen Rechts und des Kirchenrechts auf polnischem Boden (einschließlich Schlesiens, Westpreußens und des Litauischen Staates) ist das der Zusammenstellung und Beschreibung der Quellen, wenn auch nicht überall in ihrer rechtshistorischen Würdigung erschöpfende Werk völlig unentbehrlich. Andererseits wird dem an der polnischen chronikalischen und hagiographischen Literatur sowie an den polnischen Übersetzungen mittelalterlicher Rechtsdenkmäler interessierten Historiker auch, auf Grund ihres vorsichtigen Urteils und ihrer erschöpfenden Literaturangaben die von St. Kossowski gerade in den hier in Frage kommenden Teilen völlig selbständig durchgeführte Bearbeitung des ersten Bandes von R. Pilats polnischer Literaturgeschichte ( 178) treffliche Dienste leisten. Für einen beschränkten Zeitraum -- die Lebenszeit Bolesław Chrobrys -- hat St. Zakrzewski Quellen und Literatur kritisch wertend zusammengestellt ( 270), als Grundlage seiner weiterhin zu besprechenden Monographie über den ersten polnischen König, in der diese Übersicht den ersten Abschnitt bildet.

Mit den polnischen Chronisten bis zum 15. Jahrhundert beschäftigt sich F. Bujak in dem Wiederabdruck eines Aufsatzes ( 21), in dem er ihre geographischen


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Kenntnisse und Angaben untersucht: namentlich die Ausführungen über die Vorstellungen der Geschichtsschreiber von der Ausdehnung des Elb- und Ostseeslavenlandes und von seiner Germanisation sind für den deutschen Historiker wichtig. Die beste geographische Durchbildung zeigt der unbekannte Verfasser der sog. Großpolnischen Chronik des 14. Jahrhunderts. Einen Beitrag zur Erklärung der geographischen Nomenklatur des Gallus Anonymus liefert E. Kucharski ( 126): der bisher rätselhafte Name Selencia, der das Land eines nördlich angrenzenden, feindlichen Nachbarvolkes der Polen bezeichnet, soll sich, wie auf Grund einer Reihe ähnlich lautender Ortsnamen wahrscheinlich gemacht wird, auf das Gebiet der baltischen, den Preußen verwandten Jatwinger (Sudauer) beziehen. Dagegen setzt T. Tyc in seinen geistvollen, aus tiefer Kenntnis der mittellateinischen Literatur schöpfenden »Betrachtungen über Gallus Anonymus« (in 235) den Namen mit dem von Zielenzig (poln. Sulęcin) in der Neumark gleich; auch seine Ausführungen, die zu den besten in der polnischen quellenkundlichen Literatur gehören, knüpfen an die Analyse der geographischen Vorstellungen des Panegyristen Bolesławs III. -- das, und nicht ein Chronist, war der Anonymus in erster Linie --: seine Geographie ist nicht, wie bei den späteren polnischen Geschichtsschreibern, eine gelehrte und erlernte, sondern eine erlebte. Von dieser Grundlage aus führt die an treffenden Beobachtungen, über die Entwicklung des polnischen Nationalgefühls, über die Beziehungen Polens zu Kaisertum und Papsttum, zu Pommern und Preußen, über das Verhältnis des Anonymus zu der im Gnesener Klerus lebendigen Tradition des hl. Adalbert überreiche Abhandlung -- den deutschen Historiker wird u. a. eine glückliche Hypothese über die Entstehung des bekannten Aufrufes zum Wendenkreuzzug von 1108 besonders interessieren -- den Nachweis für die Wahrscheinlichkeit der Auffassung, daß der Verfasser des Panegyrikums ursprünglich der bedeutenden romanischen Kolonie in Ungarn angehörte: seine Bekanntschaft mit den Verhältnissen von St. Gilles in der Provence, die ihm die Herkunftsbezeichnung »Gallus« eingetragen hatte, erklärt sich ohne Schwierigkeit aus der bisher nicht beachteten Tatsache, daß ein Tochterkloster von St. Gilles in Somogyvár bestand, das von dem Anonymus ebenso erwähnt wird wie das benachbarte Eisenburg.

Der -- trotz der bekannten Mängel seiner Werke -- bedeutendste und vielseitigste Geschichtsschreiber des polnischen Mittelalters, Jan Długosz, wird in dem Wiederabdruck eines Aufsatzes von Bujak ( 20) und in einer ausführlichen, in dem beigegebenen englischen Résumé fast wörtlich wiedergegebenen Untersuchung von J. Kornaus ( 114) als Geograph gewürdigt: obgleich er Ptolemaeus und Aeneas Sylvius gewisse Anregungen verdankt, ist die mit seinem großem Geschichtswerk nur lose und nicht organisch verbundene »Chorographia Regni Poloniae« doch eine in ihrer Methode -- sie schöpft wesentlich aus der Autopsie und den Berichten von Gewährsmännern des Verfassers -- völlig selbständige, für ihre Zeit eigenartige Leistung, die für den deutschen Historiker deswegen besondere Beachtung verdient, weil sie in der Aufzählung und Beschreibung der Flüsse und Seen, die sich, wie Kornaus nachweist, im allgemeinen durch große Genauigkeit auszeichnet, auch Schlesien und Teile von Ostpreußen einbezieht.

Besitzt die von K. Kantak durchgeführte Analyse ( 104) der von dem ehemaligen Provinzial Kamieński zwischen 1724 und 1729 angelegten, durch die


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Inserierung zahlreicher Urkunden (von 1452 an), die der Bearbeiter im Regest wiedergibt, wertvolle Chronik des 1239 gegründeten, 1724 wiederhergestellten Thorner Konvents der Bernardiner (Franziskaner-Observanten) wesentlich lokalgeschichtliche Bedeutung, so ist K. Chodynickis Studie über die chronikalischen Quellen der ältesten litauischen Geschichte ( 47) von großer Wichtigkeit auch für den Historiker des Deutschordensstaates und seiner Beziehungen zu Litauen: sie bringt den Nachweis, daß die von Narbutt als Denkmal aus dem Jahre 1488 bezeichnete und von ihm abgedruckte sog. Raudaner Handschrift in ihren Angaben über die Herkunft des litauischen Herrscherhauses der Gedyminiden aus tendenziösen Moskauer Darstellungen des 16. Jahrhunderts schöpft und wahrscheinlich von dem Romantiker der litauischen Geschichte einfach gefälscht worden ist.

Von den hagiographischen Quellen zur polnischen Geschichte sind die Lebens-, Passions- und Wunderbeschreibungen des hl. Adalbert von Prag durch J. Fijałek in einem den Stand der Forschung -- teilweise im Gegensatz zu seinen polnischen Vorgängern -- zusammenfassenden Referat ( 70), das als Probe einer umfassenden Historiographie der polnischen Kirche gedacht ist, kurz behandelt worden. Die Legende der Dominikanerheiligen Hyacinth (Jacek, Jacko), dessen Name mit der Begründung der Klöster seines Ordens in Friesach (Kärnten) und Krakau ( 1223) verknüpft ist, unterzieht K. Dobrowolski einer eingehenden, von umfassender Kenntnis der mittelalterlichen Hagiographie zeugenden Untersuchung ( 64), die für viele der berichteten Geschehnisse Quellen in den Legenden des hl. Dominikus, einzeln auch in denen anderer Heiliger seines Ordens nachweist.

Aus dem spärlichen Ertrag der polnischen Urkundenforschung im Berichtszeitraum müssen wir außer der Studie St. Kętrzynskis über die großpolnische Kanzlei des 13. Jahrhunderts ( 106) der Abhandlung von K. Sochaniewicz über die angeblich ältesten Urkunden Witolds von Litauen ( 223) gedenken, da sie den Nachweis, daß drei das Ausstellungsjahr 1380 nennende Urkunden des Fürsten nicht diesem Zeitpunkt angehören können, auf wertvolle, für den Historiker des Deutschordensstaates wichtige Ausführungen über das Archiv- und Siegelwesen der Gedyminiden gründet. Die aufschlußreiche Arbeit von T. Tyc über »Stanisław Ciołek (1382--1437) und die literarischen Denkmäler in den polnischen Formularien« (in 235) interessiert zwar in erster Linie den Literarhistoriker, bringt aber auch manches für die historische Beurteilung der bekannten Briefmustersammlung wichtige Ergebnis.

Auf die meisterhafte Studie Wł. Abrahams über das älteste erhaltene polnische Pontifikale, von der im Berichtszeitraum nur ein kurzer Auszug ( 2) erschienen ist, werden wir wegen ihrer Bedeutung für die Historiker der Liturgie, des deutschen und des kanonischen Rechts im nächsten Bericht bei der Würdigung ihrer inzwischen ( 1927) erschienenen Buchausgabe zurückzukommen haben. Für die deutsche Stadtbuchforschung sind wichtig der kurze Bericht von K. Sochaniewicz über das kürzlich aus Rußland zurückerworbene, deutsch geschriebene Einträge aus den Jahren 1363--1418 umfassende älteste Thorner Schöffenbuch ( 223) und die Beschreibung der Lubliner Stadtbücher durch J. Riabinin ( 195).

Von den verschiedenen Editionsprogrammen und -plänen, die auf dem Posener Historikerkongreß zur Diskussion gestellt worden sind, versprechen,


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wenn sie zur Durchführung kommen, die von Wł. Semkowicz als eine der dringendsten Aufgaben der polnischen historischen Forschung bezeichnete Neuausgabe aller Geschichtsquellen der Piastenzeit -- einschließlich der auf schlesischem und pommerellischem Boden entstandenen Denkmäler -- ( 213) für die gesamte ostdeutsche Geschichte, die von Wł. Abraham geforderte Veröffentlichung der Akten und Beschlüsse aller Synoden der polnischen Kirchenprovinzen und ihrer Diözesen (also auch Breslau und Lebus) ( 1) für die Kirchengeschichte des Koloniallands reichsten unmittelbaren Ertrag, während die Publikationen zur Geschichte der polnischen Städte, deren Plan K. Kaczmarczyk entwirft ( 102), und die Auswertung der Aktenbücher der Land- und Gródgerichte für die Urkundenbücher, deren Bedeutung J. Stojanowski betont ( 226), der Erforschung der Geschichte des deutschen Rechts auf polnischem Boden zugutekommen werden.

Einige zweifellos auch für den deutschen Historiker ergiebige Archiv- und Bibliotheksbeschreibungen ( 48, 66, 166, 192, 274) und Kutrzebas methodologisch wichtige Ausführungen über Archivinventare und Handschriftenkataloge ( 134) brauchen wir nur zu erwähnen, um abschließend auf die Bedeutung des wichtigen quellenkundlichen Hilfsmittels hinzuweisen, das in der Neuauflage von T. Wierzbowskis »Vademecum« ( 251, einzelne Verbesserungen und Ergänzungen in 19) vorliegt. Bei der Beschäftigung mit den Quellen der Gebiete, die politisch oder kirchlich mit Polen verbunden gewesen sind, wird es auch dem deutschen Historiker als Ergänzung zu Grotefends Taschenbuch, das die Grundlage für seinen chronologischen Teil gebildet hat, unentbehrlich sein. Reich ausgestaltet sind die Herrscherverzeichnisse, die alle Polen benachbarten oder mit ihm durch engere Beziehungen verknüpften Staaten berücksichtigen. Selbständige Bedeutung haben die Verzeichnisse der polnischen Kolloquien, Land- und Reichstage und Provinzialsynoden und ganz besonders die von K. Sochaniewicz angelegten metrologisch-numismatischen Tabellen.


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