4. Rechtsgeschichte, insbesondere Verfassungsgeschichte.

Für den deutschen Historiker, der sich mit den Rechtszuständen Schlesiens, der späteren Neumark, Pommerellens im Zeitpunkt und während des Ganges der Kolonisationsbewegung beschäftigen will, ist die Kenntnis der polnischen rechtshistorischen Forschung unerläßlich: deswegen müssen diejenigen ihrer Gaben aus dem Berichtszeitraum, die für eine solche Beschäftigung ergiebig sein können, hier genannt werden.

Über den Bereich der polnischen Rechtsgeschichte reichen in ihrer Bedeutung A. von Halbans grundsätzliche Ausführungen über die Notwendigkeit selbständiger, allseitiger Erforschung der fremden Einflüsse innerhalb der einzelnen nationalen Rechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung ( 88) die, auf


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die polnische Rechtsgeschichte angewandt, zu einem auch für den Historiker des deutschen Rechts höchst wertvollen Ergebnis führen müßten, und J. Siemieńskis scharfsinnige Bemerkungen über die Möglichkeiten der Erzielung der Einstimmigkeit in Körperschaften vom Charakter des polnischen Reichstags ( 217), auch die methodischen Forderungen für die weitere Entwicklung der rechtshistorischen Forschung, die St. Kutrzeba erhebt ( 131) und die in den sehr beachtenswerten Wunsch ausmünden, daß bei der rechtshistorischen Konstruktion die vergleichende Methode größere Berücksichtigung finden möchte, P. von Dąbkowski gibt konkrete Vorschläge für die Pflege der Erforschung der polnischen Rechtsgeschichte ( 54), deren Verwirklichung auch für die deutsche rechtshistorische Wissenschaft reiche Früchte tragen würde, steht doch die Erschließung des auf deutscher Grundlage aufgebauten polnischen Stadtrechtes und die des zweifellos durch die ländliche deutschrechtliche Siedlung beeinflußten polnischen Gewohnheitsrechts in seiner Desideratenliste an erster Stelle.

In einer gegenüber den früheren Auflagen -- die man, einschließlich der deutschen Übersetzung der dritten polnischen Ausgabe durch W. Christiani ( 1912), jetzt keinesfalls mehr als maßgebendes Bild des Standes der Forschung wird betrachten dürfen -- völlig veränderten, ansehnlich erweiterten Gestalt legt St. Kutrzeba seinen unentbehrlichen Grundriß der polnischen Verfassungsgeschichte zum sechsten Male vor ( 132): die Umgestaltung ist namentlich auch den für den deutschen Historiker besonders wichtigen Abschnitten über die Voraussetzungen, den Vorgang, die Auswirkungen und den Ausklang der deutschrechtlichen Siedlung auf polnischem Boden zugute gekommen. Auch dieses Werk gehört zum eisernen Bestand des Arbeitszeuges für jeden, den seine Studien irgendwie mit Fragen der Geschichte Polens oder seiner Grenzgebiete in Berührung bringen.

Unter den Einzelstudien zur Verfassungsgeschichte brauchen wir Arnolds bedeutungsvolle Forschungen über die älteste Landeseinteilung Polens ( 8, 10) hier nicht zu würdigen, weil sie inzwischen in ausgeführter Gestalt in Buchform erschienen sind. Unsere Kenntnis der infolge der verwirrenden Fülle der in den Quellen auftretenden termini schwer zu übersehenden altpolnischen Abgabenorganisation wird durch die Monographie von J. Widajewicz über die Leistungen für den landesherrlichen Tisch ( 250) entscheidend gefördert: der Verfasser rechnet zu dieser Gruppe nicht nur die statio, den »stan« der altpolnischen Terminologie, sondern auch die Abgaben, die unter den Bezeichnungen »narzaz« (incisio), »opole«, »podworowe« und »podymne« auftreten; es handelt sich dabei nur um verschiedene Einhebungsarten einer ihrer Substanz nach identischen Steuer. Scharfsinnige Beobachtungen über den allgemeinen Gang der Entwicklung des Abgabenwesens im piastischen Polen beschließen das Buch, das für jeden Historiker, der etwa die älteren schlesischen Verfassungs- und Wirtschaftsverhältnisse verstehen will, unentbehrlich ist. Jetzt wird er daneben freilich auch immer die in manchen Stücken die Ergebnisse von Widajewicz berichtigenden und ergänzenden Untersuchungen von O. Balzer über die incisio heranziehen müssen, von deren Bedeutung der im Berichtszeitraum veröffentlichte Auszug ( 11 a) freilich nur eine schwache Vorstellung gibt; auf sie wird bei der Verzeichnung des inzwischen ( 1928) erschienenen abgeschlossenen Werkes zurückzukommen sein. Wertvolle Aufschlüsse bringt


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auch die in vergleichender, ethnologischer Betrachtung gebotene Behandlung einiger der bäuerlichen Abgaben im alten Polen durch St. Ciszeweski (in 49). Wichtig für den Historiker Schlesiens, aus dessen Arbeitsgebiet sie ihre meisten Belege schöpfen, sind auch die Untersuchungen von J. Łoś, R. Grodecki und J. Czubek ( 145, 52 a) über die »Waldroder« (łazęki) und andere Schichten der wirtschaftlich und rechtlich vom Landesherrn abhängigen Bevölkerung Polens in der Zeit vor der deutschrechtlichen Siedlung, während Czubeks Ausführungen über den Garbenzehnt der Bauern in Polen (und Schlesien, 52) nichts wesentlich Neues bringen und die Vertrautheit mit dem Stande der Forschung vermissen lassen. Gänzlich mißlungen ist der Versuch desselben Forschers, die von Bujak in einer eigenen Monographie ( 27) neuerdings entwickelte These, die auch den schlesischen Quellen bekannte Institution des »narok« -- seine Träger, die »narocznicy«, stehen in einem schwer zu deutenden Abhängigkeitsverhältnis zu bestimmten landesherrlichen Burgen -- sei strafrechtlichen Ursprungs, der »narok« stelle also konfisziertes Land dar, durch philologische Argumente zu erschüttern ( 53) und den terminus als Bezeichnung der Burgbesatzung aufzufassen. Bujak hat ihn in einer Replik ( 24) auf das bündigste zurückweisen können.

In die Verfassungsgeschichte der deutschrechtlichen Siedlungen führt uns T. E. Modelski in seiner Studie über die nach ungarländischem Muster mehrere Städte und Dörfer zu einem einheitlichen Gerichtsbezirk zusammenfassende »Kreis« organisation im kleinpolnisch-ungarischen Grenzgebiet ( 167), dann Kutrzebas bedeutsame Abhandlung über die Entwicklung der Autonomie der Städte und die Gesetzgebungsgewalt der Stadtherren im altpolnischen Staat ( 130): erst im 14. Jahrhundert macht sich in den nach deutschem Recht lebenden Städten Polens das Bedürfnis nach einer Ergänzung der in den Bestimmungen der Lokationsurkunden niedergelegten und der in den aus Deutschland empfangenen Rechtsbüchern enthaltenen Normen durch besondere, den örtlichen Verhältnissen angepaßte Statuten geltend; zunächst gehen sie vom König als Stadtherrn aus, seit 1364 entwickeln die Räte, namentlich in den größeren Städten, wie Krakau, eine autonome Gesetzgebungstätigkeit. Der König greift in ihr Rechtsleben fast nur auf Grund besonderer Rechtstitel ein, namentlich bei Streitigkeiten zwischen verschiedenen Faktoren des Stadtlebens, in denen seine Entscheidung angerufen wurde. Viel weniger entwickelt ist die Autonomie der kleineren, den königlichen Starosten unterstellten, und namentlich die der grundherrlichen Städte. Für die Städte Polnisch-Preußens bedeutet der Anschluß an Polen 1454 eine Erweiterung ihrer Autonomie: der Anspruch der Ordensregierung auf Vorlage und Bestätigung der Stadtgesetze wurde von Polen nicht übernommen, so daß die Städte nunmehr ihre umfangreichen »Willküren« in voller Selbständigkeit erlassen konnten. Nur in besonderen Fällen, wie etwa bei Konflikten zwischen den Stadtstatuten und den allgemeinen Landesgesetzen, greift der König ein. Die Umgestaltung der durch die deutschrechtliche Siedlung geschaffenen Grundlagen des städtischen Verfassungslebens im 16. Jahrhundert beleuchtet an einem Beispiel J. Ptaśnik ( 190). Die Geschichte des deutschen Stadtrechts auf dem Boden des Litauischen Reiches fördert Wł Kowalenko in den ersten Kapiteln einer Arbeit ( 115) über die Bedeutung Wilnas im Verfassungsleben des polnischlitauischen Staates, in denen die Verleihung des Magdeburger Rechtes an die


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litauische Hauptstadt und die Entwicklung seiner Institute in ihrer Geschichte dargestellt werden. Ein höchst bedeutsames Problem schneidet W. Kamieniecki in seiner -- leider größtenteils der Quellen- und Literaturangaben entbehrenden -- Untersuchung über die Auswirkungen von Einflüssen aus dem Deutschordensland im Verfassungsleben des litauischen Staates ( 103) an: schon im 13. Jahrhundert hatte Mendog (Mindowe) Hofhaltung und Kanzlei nach livländischem Muster gestaltet, wohl auch die Grundsätze der Lehensorganisation, um die Wehrkraft seines Landes zu stärken nach demselben Vorbild eingeführt. Auch Gedymin, mit dem Erzbischof von Riga durch enge Interessengemeinschaft verbunden, organisiert seinen Bojarenrat ähnlich, wie der Rat des Hochmeisters zusammengesetzt war, fördert Stadtleben und Landesausbau durch fremde Siedler in Anlehnung an die Einrichtungen, die ihm in Livland bekannt wurden. Nach seinem Tode ( 1341) jedoch übernimmt Preußen die Rolle des Vorbildes für die Ausgestaltung der staatlichen Einrichtungen Litauens: die trotz der ständigen Grenzkämpfe lebhaften Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern wirken sich in der Anpassung des litauischen Münz- und Zollwesens an das preußische Muster aus. Litauische Fürsten und Ritter weilen häufig als Gefangene, Geiseln und Gäste im Deutschordensland und lernen namentlich seine militärische Organisation genau kennen: sie wird für die Heeresverfassung Litauens im ausgehenden 14. Jahrhundert beispielgebend, aber auch für den Ausbau der Landesburgen und einer auf sie gestützten, rein militärischen Zwecken dienenden Burgbezirksverfassung. Um 1400 endlich überträgt Witold auch das Institut der »Dienste«, d. h. der Zusammenfassung mehrerer bäuerlicher Betriebe zu einer die gleichmäßige Radizierung der militärischen Lasten ermöglichenden Einheit, nach Litauen, wo die neue Einrichtung bald auch in der Steuerverfassung Bedeutung gewinnt. Diese Erscheinungen bestimmen zwar nicht die allgemeine Richtung der Verfassungsentwicklung Litauens, in der zunächst das ostslavische, dann das polnische Vorbild maßgebend bleibt, sind aber namentlich für das Verständnis der litauischen Sozialgeschichte nicht ohne Bedeutung: auf sozialgeschichtlichem Gebiet liegt auch der Kern der Auswirkungen der ja noch viel engeren Beziehungen, die Samaiten jahrhundertelang mit dem Deutschordensland verknüpft haben; das Verschwinden des Magnatentums, die eigentümliche Gestaltung der Wirtschaftsverfassung ist dort vielleicht auf sie zurückzuführen. Wie in Oberschlesien das in der Kolonisationszeit rezipierte deutsche Recht allmählich durch Einflüsse von böhmischer Seite, die zum Teil noch die Spuren polnischen Rechtslebens nutzen konnten, zurückgedrängt wurde, solange das Gebiet im staatlichen Verbande mit den Ländern der böhmischen Krone stand, schildert, im wesentlichen die Ergebnisse eigener früherer Forschung zusammenfassend, der tschechische Rechtshistoriker Jan Kapras ( 105).

Einzelne Momente der Geschichte des deutschen Rechts auf polnischem Boden beleuchten weiterhin einmal Wł. Abrahams grundlegende Darstellung des Eheschließungsvorgangs im mittelalterlichen Polen ( 3) -- ein Werk, das auch für die germanische Rechtsgeschichte im weitesten Sinne große Bedeutung hat, das außerdem besonders auch in der Beschreibung und Wiedergabe liturgischer Texte dem deutschen Rechtshistoriker Wichtiges bringt (vgl. die ausführliche Anzeige durch H. F. Schmid, Zeitschr. d. Savigny-St. f. Rechtsgesch. XLVI, Kan. Abt. XV, 1926, S. 557--569) --, dann die Monographie


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B. Barwińskis über den von ihm wie von früheren (u. a. R. F. Kaindl) wohl mit Recht als Auswirkung der deutschrechtlichen Siedelung gewerteten Rechtsbrauch der Losbittung zum Tode Verurteilter durch zur Eheschließung mit ihnen bereite Personen ( 12), J. Dickers aus den Schöffenbüchern deutschrechtlicher Dorfgemeinden schöpfende Studie über die Kirchenbuße im polnischen Dorfrecht ( 59); hierher gehören auch die Untersuchungen K. Dobrowolskis über das bäuerliche Testament im südlichen Kleinpolen ( 63), in dem deutschrechtliche Elemente festgestellt werden, auf die, wenn sie in ausgeführter Gestalt vorliegen werden, noch ebenso zurückzukommen sein wird, wie auf R. Taubenschlags hochbedeutsame Forschungen über den altpolnischen Prozeß ( 230), in dessen Aufbau der bewährte Romanist langobardische und römische Elemente erkennen möchte.

Unser Wissen vom altpolnischen Prozeßrecht hat J. Rafacz in einem großenteils aus den Ergebnissen eigener Forschungen schöpfenden Buche ( 193) zusammengefaßt, während eine feinsinnige Abhandlung ( 194) wichtige Anhaltspunkte für die Periodisierung nicht nur der Prozeßrechtsgeschichte, sondern der gesamten polnischen Rechtsentwicklung bietet: beide Schriften und die eindringliche Untersuchung St. Borowskis über Form und Bedeutung des Beweiseides im altpolnischen Prozeß ( 15) müssen von jedem beachtet werden, der sich ein Bild etwa des schlesischen Rechtslebens im 12. und 13. Jahrhundert machen will.


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