I. Allgemeines. Sprache.

Im vorigen Jahresbericht konnte ich betonen, daß das Interesse für das Mittellatein in starkem Aufschwunge begriffen sei. Ebenso hebt F. Ermini ( 631) einleitend hervor, daß die Zeit vorüber sei, wo man dieser Literatur nur gelegentlich, wenn der Zufall einen Gelehrten darauf führte, einige Aufmerksamkeit widmete, und man begonnen habe, auch hier ein wissenschaftliches Studium nach philologischer und historischer Methode zu fordern. Er gibt einen kurzen Überblick über die Entwicklung des mittellateinischen Schrifttums und schlägt folgende Periodisierung vor: 1. Età delle origini, 337--476 (von Constantin bis zum Falle des römischen Reiches), wo im Kampfe mit den heidnischen Autoren eine Literatur sich entwickelte, die die Schönheit der klassischen Zeit mit christlichem Inhalt erfüllte. 2. E. della letteratura barbarica 476--799. 3. E. del risorgimento 788--888. 4. E. della letteratura feudale 888--1000 (Pontificat Silvesters II.). 5. E. della letteratura scolastica, 11. bis 12. Jahrhundert. 6. E. della letteratura erudita, Vordringen


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der Nationalsprachen. Der Verfasser entwickelt seine Gedanken in anregender Weise, doch ist es selbstverständlich, daß der Versuch, eine Literatur, an der viele Nationen beteiligt sind, in ein solches Schema zu zwängen, immer sein Mißliches hat. -- Im zweiten Teil will der Verfasser zeigen, daß dies Mittellatein eine lebende Sprache war, und bringt aus den fränkischen Heiligenleben und den Leges barbarorum zahlreiche Beweise dafür, daß man diesen Ausdruck für die frühere Zeit mit Recht anwenden kann. Wenn er die Sprache des 11. und der folgenden Jahrhunderte ähnlich betrachtet wissen will, so wird man ihm doch nur mit Vorbehalt zustimmen können, denn der Einfluß, den die Schule ausübte, war außerordentlich groß und kann wohl kaum überschätzt werden. Mit dem gesprochenen Latein beschäftigt sich auch I. W. Thompson ( 644), der die Behauptung aufstellt, der Glaube, wir hätten in den Straßburger Eiden das älteste französische Sprachdenkmal, sei eine Chimäre. Die Eide seien in deutscher und lateinischer Sprache abgefaßt gewesen, die altfranzösische habe noch gar nicht existiert, sondern sei erst im 10. Jahrh. entstanden, während im 9. Jahrhundert auch im größten Teil von Frankreich und Belgien Deutsch die Volkssprache war (vgl. dazu auch Edw. Schröder, Zs. f. d. A. 63, 48). Nithard habe den deutschen und lateinischen Text vor sich gehabt und getreu wiedergegeben, im 10. Jahrhundert, zur Zeit Karls des Einfältigen, sei der lateinische Text aus politischen Gründen in das damals entstehende Altfranzösisch übersetzt worden. Der Verfasser hat allerlei interessantes Beweismaterial beigebracht, und man darf gespannt sein, welche Stellung die Romanisten, die den Aufsatz bisher übersehen zu haben scheinen, dazu einnehmen werden; A. Wallensköld, Les serments de Strasbourg, le plus ancien texte français conservé. Philologische Studien aus d. roman.-german. Kulturkreise Karl Voretsch dargebracht 1927, 87 ff., erwähnt ihn nicht. Entschieden abgelehnt wird er von Lawrence F.H. Lowe und Bateman Edwards im Speculum II 1927, 310 ff. Natürlich mit vollem Recht. Die Bedenken liegen ja auf der Hand. Waren denn die Eide wie heute so auch damals nur aus Nithards Werk bekannt? Man sollte doch annehmen, daß sie sorgfältig in den Archiven aufbewahrt wurden. Konnte Nithards Werk, das heute nur aus einer Handschrift bekannt ist, solchen Einfluß ausüben, wie eine derartige Interpolation voraussetzen würde? Sehr störend ist, daß der Verfasser mit dem Begriffe Vulgärlatein operiert, ohne ihn zu erklären. Wenn Adalhards Biograph Radbertus von diesem sagt quem si vulgo audisses, ... si vero idem barbara, quam Teutiscam dicunt, lingua loqueretur, ... quod si Latine, ... oder an der vom Verfasser übersehenen Stelle in Radberts Ecloga, Poetae 3, 45, 7 f. Rustica concelebret Romana Latinaque lingua, Saxo quibus (so L. Traube, quin Diez, quo und qui die Handschriften) pariter plangens pro carmine dicat, so möchte man doch gern wissen, wie der Verfasser sich das Verhältnis von der rustica lingua Romana und der Latina denkt.

Zur Glossographie sei vor allem auf die Glossarienausgabe der britischen Akademie hingewiesen ( 632 a). Einem wirklichen Bedürfnisse entspricht die Ausgabe des Riesenlexikons, das man gewöhnlich Liber glossarum zu nennen pflegt, während hier nach französischem Gebrauch der Name Ansileubus eingesetzt ist. Um Raum zu sparen und den teuren Druck zu ermöglichen, haben die Herausgeber, an deren Spitze W. M. Lindsay steht, ein wohldurchdachtes


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System von Abkürzungen und Verweisungen ersonnen, so daß man zuerst eine Logarithmentafel in die Hand zu nehmen glaubt, und man muß sich vor dem Gebrauch sorgfältig mit den befolgten Prinzipien vertraut machen, wie sie in der knappen Vorrede dargelegt werden. Ferner wird dort kurz gehandelt de glossarii fontibus, de vitiis archetypi, de ordine glossarum, de patria glossarii (die meist geltende Annahme, daß das Glossar seine Heimat in Spanien hat, ist kaum zu beweisen, die ältesten Hss. stammen aus Corbie), de glossarii utilitate, de glossariorum aliorum testimonio. Als willkommene Ergänzung gibt Lindsay im dritten Bande das Abolitaglossar und mit H. S. Thomson zusammen das Abstrusaglossar mit kurzer Einführung, worin er über die Entstehung dieser Glossare handelt und zu den Ansichten der 'Ritscheliani' Stellung nimmt. Der zweite Band bringt Armafragment von R. G. Austin und W. M. Lindsay, Abavusglossar von J. F. Mountford und Philoxenos von M. Laistner. Sehr ungeschickt ist, daß im zweiten Bande, anders als im ersten und dritten, am Kopf der Seite immer nur Glossaria latina steht. Über die ganze Ausgabe vergleiche man auch die Selbstanzeige Lindsays im Archivum latinitatis medii aevi 3, 1927, 95 ff. -- Sehr nützlich und belehrend ist die kleine Arbeit von Ch. H. Beeson ( 642). Er geht von der Beobachtung aus, daß Uneingeweihte sich leicht eine übertriebene Vorstellung von dem Beitrag machen, den das Mittelalter zum mittellateinischen Sprachschatz geliefert habe, und vergleicht die Annales Fuldenses mit Du Cange und Forcellini-de Vit, mit dem Ergebnis, daß neue Wörter in den Annalen eigentlich gar nicht vorhanden sind, sie finden sich alle im Du Cange, fast alle im Forcellini. Auch neue Formen kommen fast gar nicht vor. Dagegen haben viele natürlich eine neue Bedeutung entwickelt, und es ist sehr fesselnd, an der Hand des gelehrten Führers diese Liste durchzugehen, immer den Blick darauf gerichtet, wie weit diese neuen Bedeutungen bei Du Cange und Forcellini verzeichnet sind. Zum Schluß werden einige syntaktische Bemerkungen angefügt. -- In frühere Zeit führt uns Schwester M. F. Barry ( 641). Sie stellt den Wortschatz der moralasketischen Werke des hl. Ambrosius nach dem Schema zusammen a) anteclassical, b) lateclassical, c) postclassical, d) ecclesiastical, e) poetical, f) rare words. Zum Schluß ist noch ein Verzeichnis beigegeben, das den Leser in den Stand setzt, sich über jedes Wort zu unterrichten. Hingewiesen sei auf das interessante achte Kapitel, das die große Abhängigkeit des Ambrosius von Cicero deutlich macht. Für das Mittellatein hat das Buch nicht wesentliche Bedeutung. Mehr Nutzen wird man aus der Arbeit von I. Lhevinne ( 651) ziehen, obwohl sie vor allem für Romanisten schreibt. Nicht zugänglich war uns leider die Dissertation von P. Taylor ( 650). Ausdrücklich hingewiesen sei auf A. Sleumers Kirchenlateinisches Wörterbuch ( 633). Wer weiß, wie sehr das Mittellatein unter dem Einfluß des Kirchenlateins steht, wird den Nutzen dieses Buches erkennen, wenn er den vollen Titel hört »Ausführliches Wörterverzeichnis zum römischen Missale, Breviarium, Rituale, Graduale, Pontificale, Caeremoniale, Martyrologien sowie zur Vulgata und zum Codex iuris canonici, desgleichen zu den Proprien der Bistümer Deutschlands, Österreichs, Ungarns, Luxemburgs, der Schweiz und zahlreicher kirchlicher Orden und Kongregationen.« Dieser erste Versuch, den Wortschatz der kirchlichen Schriften zu erfassen, bietet natürlich ein gewaltiges Material, so konnte auf das einzelne Wort

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nicht viel Platz kommen, und manches mutet etwas elementar an. Weshalb am Anfang auf fast 40 Seiten über die richtige Aussprache des Lateins gehandelt werden mußte, wird nicht klar.


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