II. Ausgaben.

Das Berichtsjahr hat uns mehrere Erstausgaben beschert. Ganz besonders ist es zu begrüßen, daß Phyllis Abrahams ( 652) die teils zerstreuten teils noch unbekannten Dichtungen des sympathischen Baldericus Burguliensis in ihrem Buche zum erstenmal zusammenstellt. Leider ist sie, die sich selbst als »un novice« bezeichnet, dieser Aufgabe in keiner Weise gewachsen gewesen, und wie es scheint, würde sie sich nicht daran gewagt haben, wenn E. Faral sie nicht gedrängt hätte, der ja, wie seine Ausgabe der Poetria nova zeigt, an die Edition von Versen keine besonders strengen Anforderungen stellt; wie das auch sein mag, die Ausgabe muß als völlig ungenügend bezeichnet werden, sie wimmelt von Druck-, Lese-, Interpunktionsfehlern. Nun kann man ja die meisten Anstöße ohne weiteres fortschaffen, -- eine Seite sieht nach der Lektüre zuweilen aus wie eine korrigierte Fahne, -- aber man muß doch feststellen können, was an Fehlern auf Rechnung des Dichters, was auf die des Editors kommt, und schließlich ist es nicht die Aufgabe des Lesers, den Text herzustellen. Die Herausgeberin benutzt eine Photographie der einzigen Handschrift (Anfang des 12. Jahrhunderts) und daneben eine früher genommene Abschrift A. Salmons, man sollte meinen, unter solchen Umständen müßte sich ein korrekter Text schaffen lassen, aber in unzähligen Fällen bleibt man ohne Auskunft. Hat die Hs. wirklich valit für valet, hebit für hebet, anteferanda uaa? Einen tiefen Einblick tut man, wenn man die von P. Lehmann fast gleichzeitig (Pseudoantike Literatur des MA. 1927, 65 ff.) gedruckten Stücke vergleicht: die Herausgeberin hat einfach nicht lesen können, quam wird gesetzt für quoniam, genuini für gemini, dum für dii. Gern würde ich durch Mitteilung meiner Notizen das Buch benutzbarer machen, dann würde ich aber den ganzen mir zur Verfügung stehenden Raum verbrauchen, doch hoffe ich dies an anderer Stelle nachholen zu können. Man könnte über das Machwerk ohne weiteres den Stab brechen, wenn nicht andererseits ein zu Tränen rührender Fleiß darauf verwandt wäre, leider in falscher Richtung. Es lag doch nahe, die einzige Handschrift einfach abzudrucken, statt dessen wird die in klassischen Texten übliche Orthographie gewählt »qui facilite la lecture«, und in der Vorrede werden die Fälle aufgezählt, wo e, ę statt ae, ci statt ti, i statt y steht usw. Und wenn nur wenigstens die übliche Orthographie angewendet wäre! Man reibt sich die Augen, wenn man immer wieder proesens, madidoe, Groeci, usw. findet. In den Ausführungen über den Stil werden sämtliche Fälle der Repetitio, Annominatio uaa. aufgeführt, in der Metrik sämtliche hexametri caudati, leonini uaa., ich schätze 6--8000 Stellen. Dagegen für das, was wissenswert ist, fehlt völlig der Blick. Ein furchtbares Buch! -- Um so erfreulicher das von H. Liebeschütz ( 640), der Fulgentius metaforalis des englischen Franziskaners Johannes Ridovalensis, gegen Mitte des 14. Jahrhunderts, ein typisches Beispiel dafür, wie man im späteren Mittelalter die Moralisation der heidnischen Götter in den Dienst der Predigt stellte. Um das Verständnis dieser Literatur zu erleichtern, weist die gelehrte Einleitung die Linien auf, die von der spätantiken Allegorese zu der des hohen Mittelalters führen. Das Buch ist mit vortrefflichen Wiedergaben von Illustrationen


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des Vat. Palatinus 1066 und Vat. Reg. lat. 1290 ausgestattet. -- Literarhistorisch und historisch nicht ohne Interesse ist das lange Schmähgedicht des Michael von Cornwall gegen Heinrich von Avranches, den Erzpoeten König Heinrichs III. aus den Jahren 1250--1260, das A. Hilka ( 660) bekannt macht. Es ist vor allem bemerkenswert wegen der fabelhaften Wortspielerei und Künstelei im Versbau. Natürlich erschließt sich ein solches Gedicht nicht überall leicht dem Verständnis, und der Herausgeber hat recht, wenn er bedauert, daß ihm kein Raum für erläuternde Anmerkungen blieb. Fünf Handschriften sind herangezogen, aber leider ist der Text nur nach einer gegeben, vielleicht wäre hier und da aus den andern doch etwas zu gewinnen gewesen. An Änderungsvorschlägen notierte ich bei der Lektüre: 19 sum 20 at es 33 pari, lis 101 duce vovi (?). 189 sine: l. sive 235 semper: l. sepe 384 wohl moriaris 424 nomini kaum möglich, l. homini 493 l. minaci, 593 nec: l. hec 644 l. servus 681 l. multiplice 876 l. quia pravus 902 l. pravi cum 924 clausa ohne Punkt. 945 l. iurisque 1127 l. in ere. -- Zwei hübsche Gedichtchen macht K. Strecker ( 635) aus Cod. Digby 166 s. XIII bekannt, Nos per mundi climata ferimur vagantes und Tria sunt officia, quibus laus honoris, von denen namentlich das erste als ein echtes Vagantenlied Aufmerksamkeit verdient; (2, 4 ist natürlich hinter non ein Komma zu setzen). Besonders interessant wird es dadurch, daß der Dichter, wie Strecker Zs. f. d. Phil. 52, 396 zeigt, offenbar ein entlaufener Mönch war, denn er kennt die Benediktinerregel gut und parodiert sie in frecher Weise. Zu dem Gedicht gibt F. Schwarz, Zs. f. d. Phil. 51, 476 einige Bemerkungen, die nicht sehr überzeugen. Dagegen hat E. Herkenrath in seiner Auswahl für die höheren Schulen »Scholaren, Das Treiben mittelalterlicher Schüler, Studenten, Vaganten in ihrer Dichtung«, Leipzig (o. J.) S. 35 durch die Änderung huius beneficio redimatur sonus, »dessen Stimme soll man durch Wohltaten erkaufen«, es wesentlich gefördert. Das erwähnte Büchlein ist für die Schule bestimmt, aber der Verfasser zeigt, daß er den Stoff beherrscht. Er hat lesbare Texte hergestellt, die vorgenommenen Änderungen sind vielfach sehr kühn und bedenklich, aber man wird sich mit ihnen auseinandersetzen müssen. -- Der pauper Henricus, den man bisher nur in alten Drucken benutzen konnte, ist jetzt in einer Separatausgabe zugänglich gemacht worden: Henrici Septimellensis elegia sive de miseria. Recensuit, praefatus est, glossarium et indices adiecit Aristides Marigo Patavii 1926. Das Gedicht ist ja in zahllosen Hss. verbreitet, und es hat sich bisher noch niemand an die Aufgabe herangewagt, nach ihnen eine Rezension zu veranstalten. Marigo hat kurz entschlossen den Knoten zerhauen und eine Ausgabe geschaffen, die nur auf italienischen Hss. beruht; er glaubt mit diesen auskommen zu können, da das Gedicht in Italien entstanden und dort zuerst verbreitet worden sei, so werde sich dort auch der beste Text erhalten haben. Man muß ihm dankbar sein, daß er diese Arbeit geleistet hat; ob die Begründung seiner Beschränkung ganz zutrifft, ist freilich nicht sicher, die ältesten italienischen Hss. sind 100 Jahre nach der Entstehung des Gedichtes geschrieben, und es ist doch nicht undenkbar, daß schon früher ein guter Text über die Alpen kam und dort verbreitet wurde. Wünschenswert ist es sicherlich, daß allmählich auch die andern Hss. untersucht werden, was man gern schon in dieser Ausgabe gehabt

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hätte. Die zugrunde gelegten Hss. teilt der Herausgeber in drei Klassen, von denen vor allem die erste in Betracht kommt. Es versteht sich von selbst, daß der so fundierte Text die früheren Ausgaben bedeutend überragt, und man liest ihn mit Vergnügen. Freilich will ich nicht verschweigen, daß ich nicht überall einverstanden bin, gelegentlich erschweren auch Druckfehler (v. 156 lupis) und zweifelhafte Interpunktion das Verständnis. Die Orthographie ist verständigerweise der Zeit angepaßt, doch geht dies zuweilen wohl zu weit und wirkt schrullenhaft, z. B. 623 yrtus Licaon = hircus, sotius, tyrampnus. Sehr angenehm ist es, daß vier Indices beigegeben sind: 1. Glossarium locutionum et verborum, in dem Hugutio, Papias, Johannes de Janua herangezogen sind. 2. I. grammaticus et metricus. 3. I. nominum et rerum. 4. I. auctorum, an dem freilich mancherlei auszusetzen ist, wie ich im einzelnen an anderer Stelle zeigen werde. Ein empfindlicher Mangel ist es z. B., daß der Verfasser nur an klassische Autoren denkt und die zeitgenössischen gar nicht berücksichtigt. Hoffentlich wird dies in der geplanten größeren Ausgabe nachgeholt. Das wird dann freilich nach langer Entbehrung ein reicher Segen werden, zumal gleichzeitig, wie ich einer Anmerkung entnehme, zugleich ein Buch Arrigo da Settimello, Cremona 1926 von I. Spagnolo erschienen ist. Zu V. 982 Longepres vgl. jetzt Studi medievali 1928 S. 157 ff. -- Derselbe Marigo handelt, wie ich nachtragen möchte, Giorn. storico della Letteratura Italiana LXXXVI, 1925, 299, über den kritischen Text von Dantes De vulgari eloquentia und tritt für die Bedeutung des Codex Berolinensis als Textzeugen ein. -- Im Archivum latinitatis medii aevi 1926, 76 druckt V. Ussani ein Breviarium historiae Judaicae, das ein Schreiber des 12. Jhd. in Gembloux nach einer älteren Vorlage in den jetzigen Codex Bruxellensis 5540 eingetragen hat. -- H. Walther ( 636) gibt eine genaue Übersicht über den reichen Inhalt von Amplonianus Q 12 und Q 345 an mittellateinischen Dichtungen. Für die einzelnen Stücke notiert er meist nur die Initien und gibt aus seinen reichen Sammlungen weitere Fundorte an. Dieser, allerdings weitaussehende, Weg wird weiter verfolgt werden müssen, wenn wir allmählich eine Vorstellung von der außerordentlichen Fülle an lateinischer Dichtung des späteren Mittelalters gewinnen wollen. Aus der ersten Hs. werden einige Stücke ganz abgedruckt, Nos sumus hic sedentes, Grecorum gens induere v. J. 1453, Bifurcate littere. -- Sehr zu begrüßen ist auch die sorgfältige Beschreibung einer Reihe von Handschriften grammatischen Inhalts aus der Bibliothek von Brügge von A. de Porter ( 637), die nicht nur für die Grammatikerüberlieferung sehr aufschlußreich ist, sondern auch auf andere Werke der späteren m.-lateinischen Literatur Licht wirft. Es sei vor allem auf Cod. 546 hingewiesen, der Aufklärung gibt über die immer noch ziemlich dunkle Produktion des Johannes de Garlandia. Sehr hübsch ist in den mitgeteilten Versen die Polemik gegen das Doctrinale und den Graecismus. Wertvoll ist auch die Beschreibung von Handschriften des Priscian, Donat, Graecismus, Hugutiso, Ad mare ne videor uaa. Die reichhaltige Handschrift 548 bietet auch literarische Texte, Omne punctum, Phagifacetus, Pamphilus, Palpanista. Überall werden die nötigen Literaturnachweise gegeben, beim Pamphilus fällt auf, daß die, allerdings recht schlechte, Ausgabe von Baudouin nicht genannt ist. -- Die schon vor 100 Jahren von Pertz geplante Ausgabe der sogenannten Cambridger Lieder ist jetzt von K. Strecker ( 645)

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auf Grund des Facsimiles in Breuls Ausgabe geliefert worden, und man hat zum erstenmal die Möglichkeit, einen Überblick über die Anlage dieser wichtigen Sammlung zu gewinnen. Für jedes Stück ist die ganze Überlieferung, soweit sie bekannt ist, herangezogen worden. Da die Texte nicht überall leicht zu verstehen sind, mußte vielfach ein ausführlicher Kommentar gegeben werden; die Form der Sequenzen ist durch ein Schema erläutert. In der Vorrede nimmt der Herausgeber Stellung zu der allgemeinen Annahme, daß die Sammlung am Rhein entstanden sei. Man müsse mehrere Teile unterscheiden: 1. eine Sequenzensammlung, 2--15. 30. 30 a, die in Deutschland entstand, deren Heimat aber nicht näher feststeht, 2. eine in Frankreich entstandene Liedersammlung, 35--47. Zwischen beiden steht eine Reihe mannigfaltiger Gedichte, 16--34, darunter hintereinander drei, die nach Köln, Mainz, Trier führen, 24--26. Auf diese könne man sich berufen, wenn man daran festhalten wolle, daß die ganze Sammlung am Rhein zusammengestellt wurde. Ebenso bezweifelt der Herausgeber die Richtigkeit der Behauptung, daß das Ganze ein Vagantenliederbuch sei, es handle sich vielmehr um eine einfache Anthologie. Im Anhang ist eine köstliche Parodie des Nachtigallenliedes beigefügt, das Gedicht Admensam philosophiae ganz abgedruckt und schließlich eine Übersicht gegeben über die vielen Deutungen, die De Henrico erfahren hat. -- Auf Walahfrid Strabo ist durch das 1925 erschienene Prachtwerk »Die Kultur der Abtei Reichenau« die Aufmerksamkeit von neuem gelenkt worden, so wird auch die Wiedergabe des ersten Druckes des Hortulus ( 649), den Joachim von Watt (Vadianus) 1510 in Wien veranstaltete, willkommen sein, und gern wird das Auge des Liebhabers auf dieser vortrefflichen Nachbildung des feinen Antiquadruckes ruhen. Walahfrid als literarische Persönlichkeit wird hübsch geschildert von K. Sudhoff, die botanische Erläuterung hat K. Marzell übernommen und einen kurzen Exkurs über den Drucker Hieronymus Philovallis E. Weil beigesteuert. Hingewiesen sei noch auf die Wiedergabe der Vorrede des Vadianus. -- Die Anthologie von C. Beck ( 630) sollte ein kleines Bändchen sein, dadurch ist die Auswahl sehr beschränkt. Der Stoff ist in fünf Abschnitte geteilt: 1. Aus der Zeit der Karolinger, 2. Sequenzen des Notker Balbulus, 3. Aus den Cambridger Liedern, 4. Lieder der fahrenden Kleriker, 5. Hymnen. Man sieht sofort, daß die Zusammenstellung etwas einseitig ist. Was geboten wird, ist mit gutem Urteil ausgewählt, man möchte kaum etwas missen (vielleicht etwa 1, 7, das die Leser meist doch nicht verstehen werden), aber vieles fehlt, was man bei dem Titel, den die Sammlung erhalten hat, ungern entbehrt. Vom Epos erhalten wir nur ein Stück aus dem allerdings sehr reizvollen De Carolo rege et Leone papa, das man aber nicht immer wieder dem Angilbert zuschreiben sollte, von Einhart ganz zu schweigen, vom Drama gar nichts, und doch gehört beides auch zur Dichtung. Wenn dieser Titel gewählt werden sollte, so wäre ein zweites Bändchen nötig gewesen, das diese Lücke ausfüllte. Die einzelnen Abschnitte sind mit Einleitungen versehen, die zeigen, daß der Verfasser die Literatur sorgfältig verfolgt und ausgenutzt hat. Wer als Benutzer gedacht ist, wird nicht ganz klar. Leser, denen man dirus, ditare, dogma usw. übersetzen muß, werden schwerlich den rechten Genuß an diesen Texten haben, und wenn sie in der Schule verwertet werden soll, so meine ich, man sollte die Schüler daran gewöhnen, ein Lexikon zu gebrauchen. Und gar nicht gefällt mir, daß solche Anmerkungen auch unter dem Text stehen. Ich würde mich freuen, wenn in einer Neubearbeitung, die ich erhoffe, diese Anmerkungen

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auf ein etwas höheres Niveau gehoben würden, wo dann auch einige üble Versehen verschwinden könnten. -- Auf die Figurengedichte des Optatianus Porfyrius ( 640a) wurde schon im Bericht des Jahres 1925 S. 190 hingewiesen.


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