IV. Lyrik.

In Italien interessiert man sich sehr für die Herleitung des Wortes »Goliarde«, und auch 1926 ist wieder ein umfassender Artikel von V. Crescini dazugekommen. Er hatte in seinen Appunti su l'etimologia di goliardo, Atti Istit. Veneto LXXIX, 1919--1920, 1079 in ausführlicher Darstellung und mit vielen Belegen den Gedanken entwickelt, daß das Wort gula (gulosus, gulae deditus) das Primäre sei; durch Anhängung des Suffixes -hart sei golart daraus geworden; wohl in Anlehnung an den gefräßigen Riesen Goliath, Golias habe sich goliart daraus entwickelt. Während W. Meyer- Lübke, Germ.-Roman. Monatsschr. 14, 1926, 76 sich ihm anschließt, verfocht F. Ermini, La Cultura A. I Nr. 4, S. 169 die These, daß Golias den Anspruch auf Priorität habe. Gegen ihn verteidigt Crescini, Postille goliardiche, Atti Ist. Veneto LXXXV, 1925--1926, 1065 ff. noch einmal unter Anführung neuer Beweise seine Ansicht und bringt zum Schluß eine hübsche Parallele, den Gorgias ingurgitantium abbas, der ganz entsprechend aus gurges, vulgär gurga entstanden sei. Dagegen hält J. H. Hanford ( 656) an der vielfach akzeptierten Deutung von Golias = diabolus fest. Um dem schwankenden Begriff Bischof Golias Inhalt zu geben, prüft er die bei Wright, Mapes unter dem Namen des Golias gedruckten Gedichte und sucht die gemeinsamen Züge herauszufinden -- ein nicht ganz unbedenkliches Verfahren, denn Wrights Zusammenstellung ist doch bis zu einem gewissen


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Grade ein Produkt des Zufalls. Die Tradition der ioculatores sei zweifellos alt, vielleicht ein Erbteil der Antike, neue Gestalt habe sie gewonnen im Primas Hugo von Orleans, der mit seinem Dives eram bei Wright vertreten ist, weitere Züge kamen dazu durch den Erzpoeten, dessen Beichte ebenfalls dort steht; weiteres bieten dann die übrigen Goliaslieder. Sehr hübsch liest sich die Schilderung des Primas und Erzpoeten, und der Zusammenhang zwischen den beiden ist ja wohl zweifellos, im ganzen möchte man doch manches Fragezeichen setzen. -- Zum ersten Gedicht des Erzpoeten (bei Manitius trägt es die Nr. II) Lingua balbus hebes ingenio sind neben der Göttinger Hs. zwei weitere heranzuziehen, clm 14343 und Breslau I Q 102, deren Abweichungen von K. Fiehn ( 658) verzeichnet und beurteilt werden. Sie bringen manche beachtenswerte Lesart, vor allem ist hervorzuheben, daß die zweite Strophe mit ihrer Hilfe richtig hergestellt werden kann. Im zweiten Gedicht (Manitius Nr. VIII) des Erzpoeten, in dem er in persona Ionae prophetae auftritt, hat die Wendung V. 56 vatem decalvatum Erklärungen gefunden, die nicht befriedigen. K. Strecker ( 659) erinnert daran, daß Jonas in der Kunst und auch in der Literatur (Cena Cypriani des Johannes Hymmonides) als Kahlkopf auftritt, in der erwähnten Ausdrucksweise mithin weiter nichts zu sehen ist als eine Variation für Jonam. Auch die Frage, warum der Dichter dies eigenartige Pseudonym gewählt hat, beantwortet der Verfasser in Fortsetzung des eingeschlagenen Weges: Jonas war nach den bildlichen Darstellungen nicht nur kahl, sondern auch nackt, als er vom Walfisch ausgespien wurde. Wenn also der Dichter als Jonas auftrat, so wollte er damit die Vorstellung erwecken, daß er, wenn der Walfisch -- die Verbannung vom Hofe -- ihn freigäbe, gebessert und ebenso rein sein wolle wie ein neugeborenes Kind, quasimodogenitus, wie es in der bekannten Beichte des Dichters heißt. Unser Gedicht ist also als Gegenstück zu jener Beichte zu betrachten. Anhangsweise wird darauf hingewiesen, daß wir die Vagantenzeile neben Abaelard auch schon beim Primas antreffen. -- Die deutschen Strophen der Carmina Burana, die schon oft, namentlich von den Germanisten, zum Gegenstand der Untersuchung gemacht worden sind, ohne daß eine Einigung über ihren Wert, über ihr Verhältnis zu den lateinischen Liedern, denen sie angehängt sind, speziell über die Frage, ob die deutschen Strophen Nachbildungen der lateinischen sind oder umgekehrt, erzielt worden wäre, hat O. Schumann ( 655) von neuem sorgfältig geprüft. Zuletzt hat H. Naumann, Reallex. d. deutschen Literatur, Carmina Burana, die Meinung vertreten, die deutschen Strophen seien den lateinischen Gedichten zur Angabe der Melodie angehängt worden. Demgegenüber kommt der Verfasser in überzeugender Untersuchung zu dem Ergebnis, daß in irgendeinem gelehrten deutschen Freundeskreis eine Anzahl lateinischer Lieder, meist Frühlings- und Liebeslieder, gedichtet wurde, natürlich nach den Regeln der lateinischen Rhythmik, wobei nicht ausgeschlossen ist, daß gelegentlich auch deutsche Strophen nachgebildet wurden. Diese Lieder wurden in ein Buch zusammengeschrieben, und dabei vielleicht auch einige ältere fremde Stücke wie Nr. 112. 138 mit aufgenommen. Der Sammler kam auf den Gedanken, zu den lateinischen Liedern formale Parallelen in der deutschen Lyrik aufzusuchen und anzufügen, vielleicht als Singmuster. Einige Parallelen stimmten, bei andern begnügte er sich mit allgemeiner Ähnlichkeit; wo auch die fehlte, dichtete

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er (oder mehrere Genossen) selbst neue, was vor allem für die Strophen gelten dürfte, wo die deutsche Strophe der lateinischen entspricht, in der deutschen Lyrik aber keine Entsprechung hat, besonders die Vagantenstrophe. So oder ähnlich muß man sich diese deutschen Zusätze erklären. Wenn das stimmt, muß man natürlich aufhören, in diesen deutschen Strophen etwas besonderes Wertvolles zu sehen und womöglich bei der Frage nach dem Ursprung des deutschen Minnesanges auf sie zurückzugehen. Noch wichtiger ist ein anderes Ergebnis, das für die Beurteilung der ganzen Hs. in Betracht kommt. Die deutschen Strophen sind mit wenigen Ausnahmen alles andere als altertümlich und volkstümlich, ziemlich dürftige Reimereien und Zusammenstoppelungen üblicher Motive und Phrasen, und einzelnes ist unverkennbar Entlehnung aus Minnesängern, deren Zeit ungefähr feststeht. Danach werden wir für die deutschen Strophen in den Ausgang des 13. Jahrhunderts geführt, müssen also den Codex Buranus etwa 50 Jahre später setzen, als man bisher anzunehmen pflegte. Und auch für die Lokalisierung ist aus den deutschen Texten ein Schluß zu ziehen: Die von W. Meyer aufgebrachte Meinung, die Sammlung stamme von der Mosel, ist nicht zu halten, der Dialekt weist nach Bayern. Diese Ergebnisse werden der von dem Verfasser zusammen mit A. Hilka vorbereiteten Ausgabe zugrunde gelegt werden. Sie beruhen auf einer erneuten minutiösen Prüfung der Hs. Gewissermaßen programmatisch für die zu erwartende Ausgabe ist ein Aufsatz des Verfassers ( 657), in dem er zwei besonders wertvolle Gedichte, das schöne und ergreifende Nr. 88 Hucusque me miseram, in dem er ein reales Erlebnis sieht (vgl. dagegen F. Baethgen, Deutsche Vierteljahrsschr. 5, 56) und das darauffolgende ebenfalls sehr fesselnde Deus pater adiuva eingehend analysiert und Stellung nimmt zu den Methoden, nach denen man sie bisher behandelt hat. -- Auf die ziemlich unbeachtet gebliebene Hs. Fulda C 11 fol. s. XV, die eine Anzahl Gedichte enthält, die freilich auch sonst bekannt sind, weist Strecker ( 634) hin. Ebenda vergleicht er die Metamorphosis Goliae mit Martianus Capella und zeigt, daß letzterer für das Verständnis und die Verbesserung des Gedichtes von ziemlichem Werte ist. -- Von den Tegernseer Liebesbriefen, die M. Haupt im kritischen Apparat von Minnesangs Frühling abdruckt, endet der zweite mit einer Reihe abrupter Satzanfänge, und man erkennt ohne weiteres, daß es Hexameteranfänge sind. R. Ganszyniec ( 647) hat sich das Vergnügen gemacht, diese zu ergänzen, wobei er von der möglichen, aber doch ganz unsicheren Annahme ausgeht, daß es leoninische Hexameter waren. Wertvoller sind die angehängten Beispiele dafür, daß chimera in Klerikerkreisen als Spitzname für Dirne gebraucht wurde. --

Die von J. Werner NA. 32, 602 f. bekanntgemachte Notiz der Basler Hs. D IV. 4, daß der Conflictus ovis et lini von Winricus stammt, wird bestätigt durch eine Angabe des Katalogs von St. Eucharius-Matthias in Trier, die J. Montebaur, Vinricus episcopus Placentinus, scholasticus Trevirensis, Degeringfestschr. S. 187 abdruckt ( 208). -- In seinem Aufsatz »Die Testamentsidee als dichterisches Formmotiv« ( 737) behandelt H. Tardel auch das Testamentum porcelli und druckt das Testamentum asini, wofür die sämtlichen bekannten Hss. angegeben werden, nach der Lübecker ab und diskutiert die Abweichungen der einzelnen Fassungen voneinander.


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