I. Allgemeines. Sprache.

Natürlich verfolgt man den Fortgang der Vorbereitungen für den Thesaurus lat. m. aevi mit besonderer Aufmerksamkeit. Hervorgehoben sei, daß in der Maisitzung 1927 der Vorschlag gemacht worden ist, ein provisorisches Vocabularium, das aber so vollständig wie möglich sein sollte, zu schaffen, doch ist dieser Plan zunächst zurückgestellt worden. Als bemerkenswert ist aus den Verhandlungen noch zu erwähnen, daß die Exzerpierung der Texte von den einzelnen Nationen verschieden gehandhabt wird, einige lassen die Wörter, die in klassischem Sinne gebraucht werden, kurzerhand fort, die andern verzeichnen sie, wenn auch nur 'pour mémoire'. -- Es liegt auf der Hand, daß diese Vorbereitungen die Anregung zu wortgeschichtlichen Studien bringen, die ihren Niederschlag zumeist im Organ der sogenannten Union académique internationale, dem Archivum lat. m. aevi, finden. Da es sich zum großen Teil um Einzelheiten handelt, kann hier nur kurz darauf hingewiesen werden ( 443). V. Ussani zeigt S. 142 ff., daß die Form missibilis, -a, -ia, usw. neben missilis erst sehr spät auftaucht und ein kurzes Leben gehabt hat, A. Thomas, S. 49 ff., erklärt das Wort crassantus, craxantus als 'Kröte', P. de Labriolle, S. 196 ff., gibt die Geschichte des Wortes paroecia, parochia, M.-D. Chenu, S. 81 ff., die von auctor, actor, autor, A. Testi Rasponi, S. 5 ff., weist nach, daß der Titel archiepiscopus im Okzident zuerst in Ravenna zur Zeit des Bischofs Maximian 546--555 auftritt, F. Arnaldi, S. 30 f., C. Johnson, S. 87, Nicolau d'Olwer, S. 145 f., kommen auf die Bedeutung von patria zurück (vgl. Arch. 1. m. ae. 2, 93 ff.). D. Tardi ( 449) gibt einen Auszug aus dem Grammatiker Virgil und hebt die Wörter heraus, die in den Du Cange-Henschel aufgenommen sind. Eine Förderung der Probleme bietet er nicht. L. Nicolau d'Olwer ( 446) liefert Nachträge und Berichtigungen zum Du Cange aus catalonischen Urkunden vor d. J. 1000. H. Goelzer ( 450) stellt beachtenswerte Vokabeln aus seinem vergriffenen Buch Le latin de saint Avit 1909 zusammen. P. Jourdan ( 447) weist auf eine nicht beachtete Quelle der von Heiberg publizierten Glossae medicinales hin. Heiberg hatte erkannt, daß das Buch eines 'Esculapius' darin benutzt sei; Jourdan hat nun gefunden, daß außerdem die Arbeit eines Aurelius zugrunde liege und daß es sich um zwei Teile eines und desselben Werkes handele, das sich im ersten


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Teil mit den acutae passiones, im zweiten mit den tardae passiones beschäftigte. Dieser Aurelius-Esculapius ist eine Compilation des 6./7. Jhds. Sehr lesenswert ist die Besprechung, die W. M. Lindsay, S. 95 ff., seiner Ausgabe der Glossaria latina (vgl. Jahresber. 2, S. 207, Nr. 632 a) widmet. Glossographisch ist teilweise auch der Aufsatz von Mohlberg ( 453), wir lernen, daß das Wort infirmitas im Sacramentarium Leonianum 'Wäschewechsel' bedeutet und so auch in den Kluniazenser- und Zisterziensergewohnheiten wiederkehrt. Des weiteren beschäftigt er sich mit den rätselhaften Notae des Sacramentariums. -- Offenbar mehr als Einführung gedacht ist eine kurze Zusammenstellung von charakteristischen Erscheinungen aus MG. Diplomata imperii I von H. Miller Martin ( 445), während das Buch von J. Vielliard)) Das oben genannte Buch von J. Vielliard ( 444) behandelt Phonetik, Morphologie und Syntax; ein Abschnitt über Wortbedeutung, der besonders erwünscht wäre, fehlt leider. Bibliographie und Register sind sehr ausführlich. ( 444) offenbar eine umfassende Untersuchung über dasselbe Thema darstellt. Es war uns leider noch nicht zugänglich. Daß I. W. Thompsons ketzerische Anschauungen über die Straßburger Eide von L. F. H. Lowe und B. Edwards mit Recht energisch abgelehnt worden sind ( 455), haben wir schon im vorigen Jahresber. S. 207, Nr. 644 vorweg genommen. -- In diesem Zusammenhange ist auch ein Aufsatz von A. Marigo, De Hugucionis Pisani derivationum latinitate earumque prologo, Archiv. romanicum 1927, 98 zu erwähnen, der darauf aufmerksam macht, daß man für das Mlatein mit den Lexicis nicht auskommt, sondern Werke wie Papias, Osbern, Hugucio, Johannes Januensis zu Rate ziehen muß. Um die Aufmerksamkeit auf den immer noch unzugänglichen Hugucio zu lenken und eine Vorstellung von ihm zu geben, druckt er den Prolog mit Apparat und Erklärung der einzelnen Wörter ab. -- Das fesselnde Büchlein von J. Balogh ( 433), in dem die schon früher erkannte Tatsache, daß man in der Antike laut zu lesen und zu schreiben pflegte, eingehend behandelt wird, ist auch für das MA. zu beachten. Balogh erschließt aus zahlreichen Stellen, die freilich nicht alle gleich beweisend erscheinen, daß diese Sitte ins MA. überging, aber doch im Laufe der Zeit allmählich erstarb, wofür wohl mit Recht als ein Hauptgrund der Umstand angeführt wird, daß das Zusammenleben in den Klöstern, die ja doch die Hauptträger dieser Kultur waren, dies laute Lesen und und auch Schreiben, wenn eine Anzahl von Schreibern in den Scriptorien beschäftigt war, von selbst verbot. Dazu führt er als zweites Moment ins Feld, daß das christliche Lebensideal durchaus unrhetorisch war und die Freude am Wohlklang des gesprochenen Wortes ablehnte. Aber völlig ausgestorben ist wenigstens das laute Lesen im MA. wohl nicht und bei den Humanisten in ihrer Freude an der antiken Rhetorik vielfach, nicht durchweg wiederaufgelebt.


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