II. Neue Texte.

Das Berichtsjahr hat uns eine überraschende Zahl unbekannter Texte beschert. Sehr eigenartig ist das von C. J. Fordyce ( 452) aus einer Mainzer Hs., Vatic. Palat. 1448 (ausführlich beschrieben von Lindsay, The early Mayence Scriptorium, Palaeographia latina, 4, 1925, 22 ff.) veröffentlichte komputistische Gedicht, Inc. Tenditur ratio, das nichts ist als eine Umsetzung von Beda, De ratione temporum in rhythmische Verse; das Schema ist 5—‿+ 5—‿; doch ist es bei dem spröden Stoffe begreiflich, daß diese Form oft in die Brüche geht. Der Dichter hat diesem Mangel dadurch abgeholfen,


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daß er die beiden Versikel zugleich durch Alliteration bindet, am liebsten die beiden Anfangswörter. Dem Herausgeber ist dies ganz entgangen, und doch ist es bei der Emendation, deren der Text dringend bedarf, vorzugsweise zu beachten. Regel ist, daß sämtliche Vokale alliterieren können; ebenso alliteriert h mit sämtlichen Vokalen, z mit ce, ci, s, aber auch qu mit ce, ci (260 certum-qui, 139 quadris-certe). Zu beachten ist, daß f und v sich entsprechen wie 97 vespera-firma, 117 finem-verius, Eine genauere Prüfung wäre wünschenswert, wo natürlich der Bedatext herangezogen werden müßte; eigentlich wäre es wohl die Aufgabe des Herausg. gewesen, die betreffenden Bedastellen anzugeben. Ist das Gedicht von einem Angelsachsen? Eine besondere Überraschung erfährt der Leser, wenn er -- was dem Herausgeber ebenfalls entgangen ist -- 836 ff. die bekannten Engelsverse Non Arpaeiles norunt quinos findet, die ich zuletzt Poetae 4,670 abgedruckt habe. --Klappers verdienstvolle Sammlung der sogenannten Proverbia Fridanci ( 478 a) aus über 40 meist schlesischen Hss. wendet sich zunächst an die Germanisten, ist aber für uns wertvoll, weil eine Zusammenstellung von 440 lat. Sprichwörtern aus der Breslauer Hs. Universitätsbibl. I. Q. 50 (15. Jhd.) beigegeben ist, die aus anderen auf 632 vervollständigt wird. I. Q. 50 deckt sich zum Teil mit der von J. Werner für seine lat. Sprichwörter benutzten Basler Hs. Die Ausgabe würde noch wertvoller sein, wenn der Herausgeber etwas mehr Interesse dafür aufgebracht hätte, aber er beschränkt sich auf einen Abdruck ohne jeden Zusatz, selbst sich ohne weiteres aufdrängende Verbesserungen werden nicht notiert. Man kann sich ja vielleicht auf den Standpunkt stellen, daß solche Sprichwörter in der Form wiedergegeben werden sollen, die sie in der Hs. haben, aber in einem Apparat müssen Korrekturen wenigstens versucht werden, z. B. 425 Omnibus in rebus gratis est incepcio prima, wo gravis ohne weiteres eingesetzt werden müßte. 388, 2 und 487 wird derselbe Spruch einmal mit cēdit, einmal richtig mit cădit gegeben. Bei einer solchen Ausgabe erwartet der Leser auch, daß die Herkunft der Sprüche nachgewiesen wird. Hier ist nur bei den mit Werner stimmenden Versen auf diesen verwiesen, aber selbst Weymans Nachträge zu Werner sind nicht berücksichtigt. Sogar klassische Zitate werden nicht festgestellt. Es wird nicht jeder Benutzer ohne weiteres wissen, daß 55 und 280 aus Juvenal stammen, 89 aus Ovid, 205 aus Prudenz, 374 aus Horaz, 407 aus Vergil; 3 und 234 stehen in der Poetria nova, 38 bei Claudian, 567 ist ein bekannter Schreibervers usw. Ich habe nur notiert, was mir bei kursorischer Lektüre auffiel, die Liste wird leicht zu erweitern sein. Von den Verweisungen auf Werner habe ich etwa 30 nicht gefunden. -- Dankenswert ist auch F. Baethgens ( 473) Ausgabe des interessanten, kurz vor 1215 verfaßten Liebesbriefstellers von Magister Boncampagno, den der Verfasser Rota Veneris nennt, weil die Liebenden tamquam rota orbiculariter volvuntur vgl. Carm. Bur., Nr. 99, 3; bisher war er nur bruchstückweise publiziert. Die Vorrede bringt das Nötigste über Leben und Wirken des merkwürdigen Mannes und eine kurze Würdigung seiner literarischen Bedeutung. Der Text ist im ganzen nach der besten Hs. (aus Siena) wiedergegeben, deren Orthographie beibehalten ist. Am Fuße sind die Entlehnungen aus Ovid und der Vulgata, auch Anklänge an Andreas Capellanus de amore angegeben. Was die kurze Vorrede nur andeuten konnte, führt der Vf. in dem Aufsatz in der Vierteljahrsschrift für Geistesgeschichte ( 473) weiter aus und weist dem Werke seinen Platz in der literarischen Tradition zu. -- In

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seinem Bericht über Basler Hss. ( 119) macht G. Morin aus Codex F. III.151 s. XI/XII, der aus der Gegend Fulda--Mainz stammt, einen Rhythmus auf Erzb. Sigfrid I. v. Eppenstein (1060--1084) bekannt, Miror mundi gaudia tam cito decrevisse. Es sind Vagantenzeilen, zu 2 und 2 reimend, nur in Str. 3 ist das Schema nicht in Ordnung; vielfach reimen auch noch die Siebenzeiler paarweise; eine siebente Zeile, die auf 5/6 reimt, ist durch Einfügung eines zweiten Siebenzeilers, der mit dem ersten reimt, erweitert. Gelegentlich findet sich Auftakt. Da Str. 3 beginnt Vale praesul nobilis, müssen wir das Gedicht in die Zeit Sigfrids setzen, was ja auch zu dem Alter der Hs. stimmt, somit wäre es das älteste (wenigstens mir bekannte) Beispiel für das Auftreten der Vagantenzeile. Leider ist das Gedicht vielfach unverständlich, eine genaue Nachprüfung wäre erwünscht. -- Von dem Rhythmus Jam lucis orto sidere, der sich nahe mit dem bekannten In taberna quando sumus berührt, sind in Italien drei Fassungen publiziert. L. Sutina ( 475, SA. aus Nuovi Studi med. 1927) druckt eine neue Bearbeitung in 28 Zeilen, Inc. Qui vult esse noster frater, von denen die letzten 20 mir unbekannt sind; sie sind in Italien entstanden. Der Text ist sehr schlecht, der Herausgeber mit Korrekturen zurückhaltend. Aus derselben Hs. teilt er noch einen leoninischen Dreizeiler mit 'carmina Primatis', Inc. Nichil valent vina (Nil valeant vina?). Die Verse sind ebenso übel; quantum V. 3 ist wohl nur ein Druckfehler. -- Auch die Literatur über die Vorzüge des Weines und Bieres hat eine Bereicherung erfahren. Von Peter v. Blois haben wir ein Gedicht in 15 Hexametern, die sämtlich auf ena endigen, in denen das Bier heftig angegriffen wird. E. Braunholz ( 476) teilt aus der Hs. Cambridge Univers. Gg. 6,42 ein Antwortsgedicht von 24 ebenso reimenden Hexametern über die unheilvollen Folgen übermäßigen Weingenusses mit, das ein Robertus de Bellofago, Domherr von Salisbury, darauf gegen Petrus richtete, Inc. Eloquio dulci vernans. Sämtliche von Petrus verwendeten Wörter auf ena kehren hier wieder. -- Die Frage nach dem Verhältnis der verschiedenen Fassungen der Erzählung vom Herzog Ernst ist dadurch von neuem akut geworden, daß P. Lehmann ( 461) aus dem Codex 2 132 der Stadtbücherei Erfurt, 1445/6 geschrieben, früher Stadtarchiv I 184, eine unbekannte lat. Prosabearbeitung der Sage ans Licht gezogen hat; der Codex ist ziemlich sicher aus zwei Hss. abgeschrieben, die 1412 Amplonius Ratinck gehörten, und der Herausgeber nimmt an, daß Amplonius sich den lat. Text am Niederrhein verschafft hatte. Schon im 13. Jhd. sind Spuren davon im Liber aureus von Echternach nachweisbar. Natürlich hat der Herausgeber sich bemüht, die Stellung dieser Erfurter Version der Sage in der Überlieferung festzulegen. Sein Ergebnis ist, daß Erf. direkt, wenn auch durch verlorene Mittelglieder, aus einer lat. Urfassung, die um 1150 entstand geflossen ist. Aus derselben Urfassung sei auch eine lat. interpolierte Version hervorgegangen, die zum Stammvater aller anderen Formen der Erzählung wurde. Während S. Singer, Dt. Lit.-Zt. 1927, 1265 durch den schönen Fund die ganze Forschung auf eine neue Grundlage gestellt sieht, zeigt Edw. Schröder ( 461) an vielen Beispielen, daß Erf. eine keinesfalls vor dem 13. Jhd. entstandene gelehrte Bearbeitung einer gereimten deutschen Vorlage ist, die der Fassung B. nahestand. Die Heimat des Erf. sucht er nicht am Niederrhein, wohl aber in Norddeutschland. Ob der Bearbeiter neben dem deutschen Gedicht noch die älteste lat. Fassung gehabt hat, muß vorläufig dahingestellt bleiben. Die Hs. des Erf. ist schlecht geschrieben und bietet viele ungewöhnliche

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Abkürzungen, so konnte C. Weyman ( 461) eine Reihe von Beiträgen zur Textgestaltung liefern und auch die Nachweise von Entlehnungen aus Klassikern (stark vertreten besonders Vergil, von Prosaikern Sallust) und der Vulgata beträchtlich vermehren. -- Auch von Johannes v. Garlandia ist uns durch Paetow ( 1957) ein wichtiges Werk bekannt gemacht worden. E. Habel hatte ja mit großem Erfolge begonnen, das Dunkel, das über der Person dieses für die Literatur des 13. Jhds. so wichtigen Mannes liegt, zu lichten, hat aber leider die Fortsetzung dieser Studien aufgegeben, darum ist diese breit angelegte Publikation besonders dankbar aufzunehmen. Auf 70 Seiten größten Formates handelt der Vf. über Person und Werke des Johannes und legt dar, was von den in den Hss. gelegentlich ihm zugeschriebenen Stücken ihm wirklich gehört oder zweifelhaft ist bzw. gestrichen werden muß. Überraschend ist dann freilich S. 258 die Liste 'Initia operum Johannis de Garlandia', wo alles, auch die zweifellos unserem Autor nicht gehörenden Werke, wie der Liber quinque clavium, der Facetus Cum nihil utilius, der Floretus ohne Warnungszeichen aufgenommen ist. Der zweite Teil bringt dann das Morale scolarium, spricht über seine Erwähnung in der Literatur, wo merkwürdigerweise die interessante Tatsache übersehen ist, daß der Anfangsvers Scribo novam satiram als Auctoritas in dem Rhythmus Ludere volentibus (Wright, Pol. Songs 1839, 160, 1,4) verwendet ist, bespricht die 4 (bzw. 5) Hss., unter denen die von Brügge die erste Stelle einnimmt -- von ihr sind 4 Seiten als vortreffliche Tafeln beigegeben -- schließlich die Autorschaft und Abfassungszeit des Morale sc., S. 154 bis 257 folgt dann die Ausgabe. Wenn man bedenkt, daß es selten gelingt, einen Erstdruck fehlerlos zu gestalten, ist anzuerkennen, daß die Ausgabe vortrefflich ist, wenn auch gelegentlich Änderungen nötig sein werden. (S. 186, 130 ecclesie preparent l. mit Hss. CLO e. e. prepararent, wie Grammatik und Kursus fordern, S. 204, 183 l. subintret mit Hs. B. S. 191 V. 41 caute inungatur nasus: Johannes meidet Hiat und Elision (letztere fand ich V. 125), und was soll das heißen? l. Caute mungatur. Paetow übersetzt: 'Wipe your nose carefully'. V. 129 tarderis: l. cuncteris. V. 514 donec sibi parcere fuérit ist kein Versschluß und gibt keinen Sinn: l. suerit. So wird wohl noch manches zu ändern sein, viele Stellen sind recht dunkel, und die Art, wie der Verf. das Gedicht interpretiert, hat meinen Beifall nicht; er schickt eine englische Prosaversion voraus, begnügt sich aber im übrigen damit, unter dem Text die Scholien der Hss. in extenso abzudrucken. Das ist sehr nützlich, es fragt sich aber, ob hier nicht doch eine Auswahl angebracht und der gesparte Raum für Einzelerklärungen zu verwenden gewesen wäre; da das Buch sehr verschwenderisch gedruckt ist, hätte es wohl auch noch um einige Seiten erweitert werden können. Solche Einzelerklärung wäre sicher dem Verständnis sehr zu Hilfe gekommen. Beispielsweise fordert der Leser mit Recht, daß Zitate nachgewiesen werden, das hat der Verfasser nur für die Scholien getan. Wenn er sich zu V. 19 f. erinnert hätte, daß auf den immer wiederholten Ovidvers (Ars a. 2,280) angespielt ist, der nebenbei bemerkt in den Scholien der Brügger Hs. sogar angeführt wird, so würde er hinter eicieris keinen Punkt, sondern ein Komma gesetzt haben; zu 384 war auf Horaz zu verweisen, Vulgatastellen waren anzugeben usw. Schmerzlich vermißt man ein Verzeichnis der selteneren Vokabeln, zumal in der Vorrede die ausführliche Wiedergabe der Scholien damit begründet wird, daß sie vieles bringen, was die Philologen interessieren werde. Manche Nachträge

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auch bei P. Lehmann, Hist. Zs. 139, 1929, 353 ff. Trotz dieser Bedenken ist das Buch äußerst dankenswert. Sehr schmerzlich ist es, daß vor kurzem die Nachricht von Paetows Tode eintraf. Wer wird die Arbeit am Johannes v. G. fortsetzen? -- Anthologien und Schullesebücher fallen im allgemeinen nicht in den Kreis unserer Besprechungen, doch sei hier eine Ausnahme gemacht mit dem Buche von A. Kaiser ( 441), das ein Gedicht auf das Konzil zu Basel in einer verwahrlosten Stabatstrophe, Inc. Pontifices ecclesiarum aus dem Vindobonensis 5393 ans Licht zieht. Auch sonst ist eine Reihe von Stücken, namentlich der späteren Zeit, aufgenommen, die wenig bekannt sind. Für die höhere Schule wird die Sammlung schwerlich zu verwerten sein, eher könnte sie in der Hand von Studenten nützlich sein. Allerdings ist Vorsicht anzuraten. So scheinen zum 1. Stücke, dem Prolog der Lex Salica, der übrigens gar nicht in dies Buch gehört, die Verhandlungen der letzten Jahre darüber ganz unbekannt zu sein. Stück 2 war nach Poetae 4,545 wiederzugeben. -- Von dem Lazarusrhythmus des Paulinus von Aquileja, von dem Poetae 1,133 28½ Strophen gedruckt sind, hat A. Wilmart in einer Hs. von Autun (9. Jhd.) 70 Strophen aufgefunden, und damit scheint das Gedicht vollständig oder wenigstens nahezu vollständig zu sein. Da die Rev. Bénédictine 34, 1922, 37 ff. nicht überall leicht zugänglich ist und das kümmerliche Fragment im ersten Poetaebande ersetzt werden mußte, hat K. Strecker ( 459) Wilmarts Ausgabe wiederholt und einige Stellen richtiger herzustellen und zu erklären versucht. -- Durch Heranziehung weiterer Hss. ergänzt und verständlicher gemacht ist auch der Ovidius puellarum durch P. Lehmann ( 474), der aus 2 Hss. der Vaticana, lat. 1602 und Pal. lat. 910, 77 Schlußverse der Ausgabe von Jahnke zufügen und so die Erklärung erheblich fördern konnte. Doch ist noch nicht alles in Ordnung. -- Neue Texte bringt auch P. Lehmann in seinem wertvollen Beitrag zur Geschichte des Fortlebens und der Nachahmung der Klassiker im MA. ( 436). Mit seiner ausgezeichneten Handschriftenkenntnis behandelt er, überall neues Material beisteuernd, die große Zahl der Pseudoovidiana, dabei namentlich auf die Vetula näher eingehend, dann auch Nachbildungen des Martial, Pseudoapulejus und Pseudofulgentius, Valerius ad Rufinum u. a.; in 157 Anm. ist die einschlägige Literatur in weitestem Ausmaße angeführt. Anhangsweise werden mehrere noch nicht veröffentlichte Gedichte von Pyramus u. Thisbe gedruckt, von denen die erste den Matthaeus v. Vendôme, eine zweite, die im Osten verbreitet ist, einen Dietrich zum Verfasser hat, dazu 4 Heroiden des Baudri d. B., die gleichzeitig auch von Phyllis Abrahams ediert worden sind, (vgl. Jahresb. 2 S. 209 Nr. 652), dazu einige kleinere Stücke. Mit der Behandlung dieser Texte bin ich nicht überall einverstanden, wie ich für ein Pyramus- u. Th.-Gedicht im Hermes ( 436 a) im einzelnen dargelegt habe. -- Längst bekannt, aber nicht gedruckt und wohl auch in ihrer Echtheit bezweifelt war eine Predigt (Brit, Mus., Reg. 8. B. XIV), die der berühmte Abt Lupus von Ferrières am Fest des hl. Jodokus gehalten hat, und W. Levisons Publication ( 456) ist mit Dank zu begrüßen. Anhangsweise werden die Gründe aufgeführt, die für die Echtheit sprechen. -- E. A. Lowe ( 454) stellt fest, daß der Codex des Sacramentum Gelasianum Vat. Reg. 316, der mit Lage 34 abbricht, unvollständig ist und zwei weitere Lagen in den Codex 7193 der Bibl. nat. zu Paris geraten sind. Sie enthalten einen Exorcismus contra inergumenos, ein schon bekanntes Paenitentiale und den sogen. Breviarius apostolorum, die genau abgedruckt werden. Die

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Zeit der Hs. möchte Lowe um 750 setzen, die allgemein geltende Ansicht, daß die Heimat S. Dénis wäre, bezweifelt er.


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