§ 15. Die Epoche der Völkerwanderung.

(W. Stach.)

Für die Epoche abendländischer Geschichte, die wir Deutschen mit dem Stichworte »Völkerwanderung« zu benennen gewöhnt sind, ist in diesem Berichtsjahre die Ernte besonders vielseitig und reich.

In die Kernfrage der wechselvollen Ereignisse versetzen uns neben dem Festvortrage von A. Dopsch ( 582) der Abschnitt (S. 1--82) über die germanischen Reichsgründungen in dem Buche A. Cartellieris ( 581): Weltgeschichte als Machtgeschichte und die schwungvolle und eindringliche Darstellung von F. Lot ( 580): La fin du monde antique et le début du moyen-âge, zu der H. Berr noch ein eigenes geistvolles Vorwort: Antiquité et Moyen-âge beigesteuert hat. Dopsch gibt im wesentlichen eine Abwandlung seiner bekannten Kontinuitätstheorie, indem er diesmal für das südwestliche Deutschland die Frage aufwirft, ob dieser schon urzeitliche Siedelungsraum mit dem Aufhören der Römerherrschaft im 3. Jhd. »wirklich ein grandioser Kulturfriedhof war, in dem alles begraben wurde, was ein Jahrtausend vorgängiger Völkerarbeit allmählich geschaffen hatte«. Es ist selbstverständlich, daß Dopsch diese energisch zugespitzte Frage ebenso geharnischt verneint, und er bedient sich dazu eines gehaltvollen Resümees über jüngere Ergebnisse der germanischen Bodenforschung und Archäologie. Wird hier das zentrale Problem der Epoche unter vorwiegend siedelungs- und wirtschaftsgeschichtliche Gesichtspunkte gerückt, so glaubt Cartellieri die Auflösung des alten Imperiums und die Gründung von Germanenstaaten ausschließlich unter dem Gesichtswinkel der Machtpolitik sehen zu müssen. Obgleich er an sich jede Gliederung nach dem Schema: Altertum -- Mittelalter und selbst die Bezeichnung »Völkerwanderung« als unwissenschaftlich ablehnt, sieht er seinerseits den Vertrag Theodosius' I. mit den Westgoten v. J. 382 als das entscheidende Ereignis an, das im Sinne einer »Überleitung von der bloßen Siedelung der Germanen zu ihren Reichsgründungen« gelten soll. Von diesem Einschnitt aus, in dessen Bewertung er mit C. Jullian zusammentrifft, läßt er die äußeren Schicksale germanischer Völkerschaften von den Westgoten bis zu den Langobarden in ihrer Verflechtung mit dem politischen Verhängnis des Römischen Reiches gewissermaßen filmartig abrollen. Ohne Frage ist ein solches kaleidoskopisches Zeitbild der Jahre 382--611, gegründet auf die gewissenhafte und umsichtige Verarbeitung neuerer und namentlich außerdeutscher Spezialliteratur, in hohem Maße verdienstlich und nützlich. Gleichwohl bleiben dabei, wenn ich recht sehe, unsere heutigen Ansprüche an die Geschichtsschreibung in wesentlichen Stücken unbefriedigt. Wenigstens bemerkt auch Berr (unter Bezugnahme auf Cartellieri): eine einseitig politische Geschichtsauffassung sei angesichts des komplexen Geschichtsverlaufes »une thèse qui de plus en plus apparaît comme discutable et en elle-même et par l'incertitude des jalons qu'elle fournit«. Und ich meine, gerade einem Zeitabschnitt politischer Stürme und kultureller Krisis zugleich, wie der »Völkerwanderung«, wird man schwerlich gerecht, wenn man


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in dem Ablauf machtpolitischer Auseinandersetzungen den inhärenten Zusammenstoß der Kulturen außer acht läßt. Denn wie aus den Trümmern des Imperiums und der älteren germanischen Reichsgründungen die späteren romanisch-germanischen Staaten hervorwuchsen, so entstand, mitbedingt und mitbedingend, aus der zunächst gewaltsamen und äußerlichen Durchdringung des antiken Kulturkreises mit dem »Barbarentum« der organische Synkretismus im geistigen Leben der romanisch-germanischen Völker. Darum gilt es, das eine Moment aus dem anderen zu verstehen und diese Verschränkung gleichsam zyklisch zur Darstellung zu bringen. Das hat auf seine Weise in umfassendem Maße Lot versucht ( 580). Seine Problemstellung zielt von vornherein darauf ab, unter Einschluß der politischen Vorgänge den Wandel abendländischer Kultur von der ausgehenden Antike (3. Jhd.) bis zum Beginn des eigentlichen MA. zu erfassen, das für Lot erst dann einsetzt, als Islam, Papismus und Vassalität zu zukunftweisenden Kräften erstarkt sind (8. Jhd.). Im ersten Teil seines Buches (S. 1--215) untersucht er demgemäß den innerpolitischen, wirtschaftlichen und geistigen Niedergang der antiken Welt, mit dem Ergebnis, daß dieser auch ohne die Barbareneinbrüche unaufhaltsam gewesen sei. Damit schafft er sich die geeignete Plattform, um in einem zweiten Teil (S. 217 ff.) den Zusammenbruch Roms und in einem dritten (S. 277--470) die weiteren politischen und kulturellen Folgeerscheinungen durch den Gärungsprozeß der Völkerwanderungsepoche hindurch bis zum Ende der Merovingerzeit zu würdigen. Im einzelnen sich mit seinen Ergebnissen und Urteilen auseinanderzusetzen ist hier nicht der Ort. Nur soviel sei noch gesagt, daß eine in jeder Beziehung bedeutende Leistung vorliegt, deren Verdienst weit größer ist, als der Verfasser Wort haben will, wenn er lediglich »die Anlage und vielleicht diesen oder jenen Gedanken« seines Buches für sich selber in Anspruch nimmt. Auch auf den reichen bibliographischen Anhang sei noch verwiesen, der in 742 Nummern die einschlägige Literatur bis zur Mitte des Jahres 1926 umfaßt.

Neben diese Versuche, den Sinn der Epoche als einer Zeitwende im ganzen zu deuten, tritt eine Reihe von Einzeluntersuchungen; sie lassen sich zwanglos der Geschichte der wichtigsten Stämme einordnen, mit denen es die Erforschung dieser Jahrhunderte zu tun hat.

Dem Auftakt der großen Völkerbewegung gelten die Monographien von E. Nischer ( 572), W. Heering ( 571) und R. Cessi ( 579). Nischer befaßt sich mit der Frage der Örtlichkeit und des Verlaufes der Alamannenschlacht von 357, in der es dem Feldherrngeschick Julians und der einheitlichen Schulung seiner gallischen Armee noch einmal gelang, die westrheinischen Provinzen für Rom zu retten; nach Nischer ist der Angriffsraum der Römer nördlich von Straßburg zwischen Niederhausbergen und Ill zu suchen. Die Arbeit von Heering, eine verdienstliche Dissertation aus der Schule Judeichs, zielt auf eine wohlabgewogene Ehrenrettung Valentinians I., dessen kraftvolle Barbarengestalt der Verfasser -- mit anderen Gründen als Jullian in seiner Histoire de la Gaule -- gegen die verkleinernde Charakteristik bei O. Seeck erfolgreich in Schutz nimmt. Der Hauptwert der Untersuchung liegt in der sorgfältigen Chronologie, die Heering insbesondere für die Alamannenkriege und den Quadenfeldzug Valentinians auf Grund minuziöser Quellenforschungen aufstellt. Die Studie von Cessi schließlich, Fortsetzung und Schluß einer früheren Veröffentlichung (ebd. 84, 805--820) über die Auflösung des Gotenreiches jenseits


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der Donau, schildert an Hand einer Exegese der Ammianischen Überlieferung den Einbruch der Hunnen und der mit ihnen vereinigten tanaitischen Alanen. Dabei übernimmt der Verf. in die Darstellung ihrer Lebensgewohnheiten -- wenn in dieser Kürze ein kritischer Hinweis gestattet ist -- auch Ammians Bemerkung über die Fleischkost der Hunnen (31,2 carne quam inter femora sua equorumque terga subsertam fotu calefaciunt brevi) und glaubt gerade darin ein Kennzeichen ihrer niedrigen Entwicklungsstufe finden zu dürfen; in Wahrheit aber handelt es sich um eine später zum ethnographischen Gemeinplatz gewordene Fabel, deren Ursprung wohl auf der Mißdeutung eines Verfahrens beruht, dessen man sich unter Nomaden noch heute bedient, um wundgerittene Pferde zu heilen (vgl. Solymossy, Ungar. Jbb. 3, 276 ff.).

Mitten in die Kämpfe Alarichs um den Boden Italiens führt sodann der Panegyrikus Claudians De bello Pollentino, eine historisch wie philologisch bedeutsame Quelle, die der vorzügliche Sprach- und Sachkommentar von H. Schroff ( 570) erstmalig näher erschließt. Die Geschichte der Westgoten berührt auch der Beitrag von L. Schmidt ( 573) zur Frage der Heruler-Wohnsitze. Nicht nur, daß Schmidt (gegen v. Friesen) an einer dauernden Niederlassung von Herulern am Unterrhein festhält, die danach spätestens seit dem 4. Jhd. bestand; sondern indem er Apoll. Sid. ep. 8,9 v. 31 ff. mit Cass. Var. 3,3 kombiniert, glaubt er auch die weitere Vermutung gesichert zu haben, daß eine Gesandtschaft von dort am Hofe König Eurichs erschien und um Hilfe gegen die salischen Franken bat.

Von besonderem Interesse ist ferner die rege Forschung zur Geschichte des Ostgotenreiches. Im Mittelpunkte steht die markante Persönlichkeit Theoderichs, um deren Würdigung man neuerdings streitet. Den Anstoß dazu hatte Fed. Schneider mit der Forderung gegeben, in dem Bilde des grimmigen Recken der Wanderzeit, der unter die Werke von Cassiodors Sprachkunst seine Unterschrift durch die Schablone tuschte, die romantische Übermalung von vierzehn Jahrhunderten wieder zu tilgen; denn all das emphatische Lob, das man dem König-Analphabeten gezollt habe, gebühre in Wahrheit nicht ihm, sondern seinem genialen Minister Cassiodor, dem letzten wahren Römer (Rom und Romgedanke, S. 82 ff.). Wie nun die Literatur des Berichtsjahres diese Abkehr von der herrschenden Meinung aufnimmt, vermag ich trotz meiner Bemühungen nicht restlos zu überschauen. Denn weder ist mir bisher die Charakteristik zugänglich geworden, die K. Hampe ( 170) Theoderich widmet, noch habe ich die eingehende Analyse der Varien und darauf gegründete umfassende Darstellung der Zeit Cassiodors von G. Punzi ( 578 a) einsehen können, so daß ich mich hierfür mit einem Hinweis auf die empfehlende Anzeige durch F. Baethgen begnügen muß (Neues Arch. 47, 587). Im übrigen hat L. Schmidt ( 578 b) gegen Schneiders These eine Reihe gewichtiger Einwände erhoben, und er meint, man täte dem eitlen und charakterlosen Römer zu viel Ehre an, wenn man ihm eine maßgebende, schöpferische Tätigkeit im ostgotischen Reiche zuschriebe. Nur den Vorwurf der barbarischen Unbildung gegen Theoderich will Schmidt sogar unterstreichen, indem er auch aus Prokops bell. Goth. I, 2 die Angabe herausliest, Theoderich habe »selbst vom Schriftwesen keine Ahnung gehabt«. Daß man freilich das καίπες γςαμμάτων οὐδέ ὅσον Ἀκόήν ἔχων wirklich so übersetzen darf, möchte ich nach dem Zusammenhang der Stelle bezweifeln; denn von γςάμματα im Sinne des bloßen Lesens und Schreibens ist keine Rede,


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sondern -- wie bei dem »inlitteratus« (sc. Theodericus) im c. 61 des sog. Anonymus Valesianus auch -- von schulmäßig erworbener Bildung überhaupt. Nun bedient sich zwar der Anonymus c. 79 noch einmal der Bezeichnung »inlitteratus« und stempelt dabei Theoderich durch die bekannte Ausführung über sein eigentümliches Schreibgerät ausdrücklich zum Analphabeten. Aber die Glaubwürdigkeit dieses weiteren Zeugnisses, das man allgemein für unanfechtbar gehalten hat, ist heute durch R. Cessi ( 578) auf das schwerste erschüttert. Schon früher (Muratori, rer. Ital. SS. 24,4 praef.) war Cessi der Nachweis gelungen, daß von dem c. 79 des Anonymus ab ein Fortsetzer am Werke gewesen sein muß, der im Gegensatz zu der vorausgegangenen Partie den Ostgotenkönig in feindseliger Absicht herabsetzt. Und im Verfolg dieser Erkenntnis hat Cessi nunmehr jenes c. 79, zusammen mit der merkwürdigen Justin-Parallele aus den Anecdota Prokops (hist. arc. 6), einer aufschlußreichen Spezialuntersuchung gewürdigt. Den Verdacht, die auffallende Ähnlichkeit der beiden Berichte, dort über Theoderich, hier über Justin, könnte auf textliche Abhängigkeit hindeuten, weist er von vornherein als unwahrscheinlich zurück. Die Lösung findet er vielmehr auf dem scharfsinnigen Umwege über einen diplomatischen Exkurs, der die Spuren aufdeckt, die der Wandel in der unterschriftlichen Ausfertigung kaiserlicher Erlasse und der Anteil des Quästors an solchen Reformen in der Gesetzgebung von Diokletian bis z. J. 541 zurückgelassen haben. In das Bild dieser auch allgemeinhistorisch interessanten Entwicklung byzantinischer Kanzleigebräuche fügt er dann die Angaben der beiden Chronisten ein, indem er sie umsichtig und behutsam con beneficio di inventario behandelt. Dabei stellt sich m. E. überzeugend heraus, daß jenes c. 79 des Anonymus tatsächlich ein boshaftes Gemisch von Dichtung und Wahrheit enthält, aus dem man zwar manches für das innere Verhältnis Theoderichs zu Ostrom und zur römischen Kultur, aber nichts für die Behauptung seines Analphabetentums entnehmen darf.

Während hier eine schwierige Quellenfrage durch ihre gesteigert kritische Betrachtung geklärt wird, ist umgekehrt M. Bloch ( 577) in seinem Aufsatz über die Eroberung des römischen Galliens durch die fränkischen Könige bestrebt, die strenge kritische Haltung zu lockern, mit der man sonst der Überlieferung für die Zeit der ersten Merovinger entgegentritt. Man wird ihm auf diesem Wege schwerlich in allen Stücken Gefolgschaft leisten und am wenigsten dort, wo er sich auf die Angaben der Vita Genovefae über Childerich beruft, während er die erdrückenden Beweise Kruschs, der diesen Text als eine Fälschung des 8. Jhds. entlarvt hat, mit befremdlicher Leichtigkeit abtut. Aber trotz solcher Bedenken ist es im ganzen lehrreich und anregend, wie der Verf. seine These durchführt: Die Errichtung der salischen Herrschaft in Nordgallien dürfe man nicht für das alleinige Werk Chlodowechs halten, sondern sein Vater Childerich habe ihm bereits ein staatliches Gebilde hinterlassen, das fest auf die römischen Städte weit im Süden von Tournai gegründet war. Insbesondere scheint mir ein glücklicher Griff, daß Bloch im dritten Teil seines Aufsatzes die in die Vita Severini eingestreuten Notizen über das Donaukönigtum der Rugier benutzt, um an diesem Paradigma die Situation der Bürger von Belgica Secunda und Gallia Lugudunensis während der fränkischen Eroberung zu erläutern. Ungewiß bleibt es nur, wie nun hier, d. h. außerhalb der ersten fränkischen Kolonisationsgebiete, die Verteilung des Bodens erfolgte und die Franken Seigneurs der villae geworden sind. Doch erhofft sich Bloch in diesem


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Punkte noch weitere Aufhellung von der Archäologie und Ortsnamenforschung.

Eben diese Beweismittel sind es auch -- vereint mit einer kritischen Kontrolle an den erzählenden Quellen -- mit deren Hilfe R. Zachrisson ( 576) in das nicht minder dunkele 5. und 6. Jhd. der englischen Geschichte vorzudringen versucht. Inwieweit allerdings die linguistischen Argumente, auf die sich der Verf. vorwiegend stützt, stichhaltig und durchschlagend sind, entzieht sich im einzelnen meiner Kompetenz. Doch nimmt sein begründetes Mißtrauen gegen chronologische Rückschlüsse aus archäologischen Momenten, insonderheit gegen die viel berufenen Funde angelsächsischer Begräbnisplätze, und seine quellenkritische Vorsicht in der Verwertung z. B. der Angelsächsischen Chronik, soweit sie auf diese Frühzeit Bezug nimmt, sehr für seine allgemeine methodologische Haltung ein. Das Bild der angelsächsischen Kolonisation, das sich aus seinen Untersuchungen ergibt, weicht jedenfalls von der communis opinio in einigen Zügen nicht unerheblich ab. Zu einer dauernden Besetzung englischen Gebietes ist es danach erst gekommen, als Vortigern die Hilfe der germanischen Einwanderer gegen die Pikten und Skoten anrief. Bis dahin, d. h. etwa bis zur Mitte des 5. Jhds., dürften auch die Beziehungen zwischen Britannien und Rom nicht völlig abgeschnitten gewesen sein. Nach dem Kampfe am Mons Badonicus (ca. 500) wäre dann eine friedvolle Zeit von ungefähr 50 Jahren gefolgt, in der die Briten nicht durch erneute Angriffe der Sachsen in Atem gehalten wurden. Während dieser Zeit hatten die Angelsachsen wahrscheinlich das ganze südliche England westlich bis Hampshire inne, während der Westen (einschließlich der zentralen Teile von Bucking--Hampshire) nominell noch unter der Herrschaft der Briten stand. Doch dürfte schon damals eine friedliche Niederlassung von Sachsen auch in den Grenzgebieten erfolgt sein, so daß bereits mit dieser ersten Friedensperiode der Ausgleich der beiden Rassen begann. Zum mindesten erschiene damit die Verteilung der keltischen Elemente in den englischen Ortsnamen und das Auftreten keltischer Personennamen unter den Sachsen am ehesten vereinbar. Als dann die Sachsen den Kampf wieder aufnahmen, schritt auch dieser Verschmelzungsprozeß nach Westen zu fort. Denn trotz der weiteren Eroberungen wurden die Briten -- und das ist die wichtigste Schlußfolgerung des Verf. -- aus ihren Sitzen nicht vertrieben, sondern mit den Siegern amalgamiert, so daß in dem unterworfenen Gebiet nicht ihre Rasse, sondern nur die keltische Kultur und Sprache erlosch. Aus dieser Absorption wäre dann auch der Bruch zu verstehen, der das uralte Ackerbausystem der Kelten von dem späteren englischen trennt: Die Besiegten hätten mit der englischen Art des Lebens zugleich die Art der sächsischen Siedelung und Bodenbearbeitung überkommen.

Mit der Frühgeschichte der Festlandsachsen hat sich andrerseits M. Lintzel ( 575) befaßt. Er hält sich dabei ausschließlich an die Schriftüberlieferung, und es ist ihm in diesem Aufsatz im wesentlichen um die Entstehung des sächsischen Stammes zu tun. Dabei vertritt er im Widerspruch zur herrschenden Meinung, wonach die Stammbildung hier durch eine allmähliche, friedliche Einung erfolgt sein soll, mit neuen Argumenten die schon ältere und im ganzen wohl besser begründbare Annahme, daß das gesamte sächsische Volk, von der Eider bis zur Unstrut, durch kriegerische Unterwerfungen zusammengefügt worden ist. Da sich jedoch der Streit um diesen Punkt in die nächsten Berichtsjahre


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fortsetzt, möchte ich mir ein näheres Eingehen darauf für später aufsparen.

Im übrigen habe ich nur noch zwei kleinere Veröffentlichungen von L. Schmidt zu nennen: die eine (Die Einwanderung der Baiern, Das Bayerland 38, 588--592), die in der bekannten Weise die Abstammung der Bayern von den Markomannen in Böhmen verficht und ihre Auswanderung mit der Expansion der Heruler um 500 in Verbindung zu bringen sucht; die andere ( 574), die zu der neuerdings wieder umstrittenen (F. Schneider, Cessi, Bertolini) Frage der Langobardeneinwanderung in Italien Stellung nimmt. Schmidt ist der Meinung, die Langobarden hätten im Mai 568, einen Monat nach ihrem Auszug aus Pannonien, die friaulische Grenzmark besetzt. Am 21. März 569 sei dann der Vormarsch in die venetianische Ebene erfolgt. Als Weg ergäbe sich daraus, daß sie die kürzeste und bequemste Straße gekommen sein müssen; das wäre die römische Heerstraße, die von Pannonien über Emona nach Aquileja führte und die früher von Alarich und Theoderich, später von den Avaren benutzt worden ist.


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