§ 21. Deutsche Geschichte von 1740 bis 1815.

(H. Weigel.)

Für die Erscheinungen zur Reichsgeschichte während des Zeitraumes von 1740 bis 1786 ist gegenüber dem Vorjahr ein Fortschritt hinsichtlich Güte und Bedeutung zu verzeichnen. So entwirft Braubach ( 879) ein sorgfältig gearbeitetes und trotz der Fülle der Einzelheiten übersichtliches Bild von dem bunten, wildbewegten diplomatischen Treiben an dem Kölner Kurhof während der Jahre 1740--1756. Die Darstellung, die sich auf die Berichte der österreichischen Residenten und Gesandten stützt, reicht einstweilen bis zum Jahr 1750. Kurfürst Clemens August aus dem Hause Wittelsbach, lebensfroh, leicht zu beeinflussen und doch von politischem Ehrgeiz erfüllt, -- inmitten einer Hofgesellschaft, die von politischen Gegensätzen -- Anschluß an Frankreich oder an Österreich -- und noch mehr von persönlichen Kabalen zerrissen war, -- an der Spitze eines Staates, in dem das Heer als Einnahmequelle für den kostspieligen Hofhaushalt und zur Befriedigung der fürstlichen Bauleidenschaft dienen mußte, dessen Politik also in dem Abschluß finanziell einträglicher Subsidienverträge sich erschöpfte, -- der Kurfürst selbst war das Kampfobjekt. Zuerst trug in dem Subsidienvertrag von 1741 die französische Partei den Sieg davon. Aber seit der Krönung Karls VII. neigte der Kurfürst aus persönlichsten Gründen einer Neutralitätspolitik zu und dem neuen Gesandten Habsburgs, dem Grafen Carl Cobenzl, gelang es in mehreren Verträgen 1743 und 1744 Clemens völlig auf die Seite Österreichs und der Seemächte herüberzuziehen.


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Aber nach der Wahl und Krönung Franz I. schwenkte der Wittelsbacher abermals in dem Vertrag von 1747 zu Frankreich hinüber, bis ihn dessen ungeschickte Politik 1750 zu neuen Subsidienverträgen mit den Seemächten veranlaßte. Diese gehörten bereits in das Bestreben Newcastles, ein »ständiges kontinentales System« als Grundlage der englischen Politik aufzubauen. Dazu ist nach den Darlegungen von Horn ( 880) auch der Plan Newcastles zu rechnen, den Habsburgerstaat durch die Wahl des jugendlichen Erzherzogs Josef zum Römischen König und die darin liegende Sicherung gegen eine antihabsburgische Kaiserwahl fester an England zu binden. Eben diese Bindung aber wollte Österreich nicht, das sich jetzt Frankreich näherte; der Plan scheiterte. Als dann 1757 das österreichisch-französische Bündnis zur Tatsache ward, warf sich ihm ein kleiner deutscher Reichsgraf, Johann Friedrich Alexander von Wied, entgegen in dem überkühnen Versuch, diesen Bund zugunsten Preußens zu sprengen. Von diesem Wieder Grafen zeichnet Bierbrauer ( 884) ein anziehendes Bild. Der Graf, zu kräftigem Handeln geneigt, standesbewußt und überzeugter Reformierter, war 1735 von Frankreich benützt worden, um mit Österreich Friedensverhandlungen einzuleiten. Er glaubte in der politischen Tätigkeit ein Mittel zu sehen, um den bedrängten Finanzen seines Ländchens aufzuhelfen. In dieser Absicht versuchte er 1741 erneut, freilich erfolglos, eine Vermittlung zwischen Frankreich und Österreich. Die Vermittlung von 1757 aber ging hervor aus seiner Sympathie für den Preußenkönig, in dem er zugleich den Vorkämpfer des Protestantismus gegen die katholischen Mächte erblickte. Ein schwerer Konflikt mit dem Kaiser war die Folge, bei dem der Graf den kürzeren ziehen mußte. Nachdem er dessen Forderungen auf ein don gratuit auch als Vertreter reichsgräflicher Interessen energisch entgegengetreten war, machte er endlich unter Josef II. seinen Frieden mit dem Kaiserhaus. Die innere Politik leitete der Graf im Geist des aufgeklärten Absolutismus. -- In das letzte Jahrzehnt unseres Zeitabschnittes führt uns abermals Braubach ( 881), der nach den Berichten des österreichischen Gesandten, Grafen Metternich, die Wahl des Erzherzogs Max zum Koadjutor von Münster schildert. »Die großen politischen Gegensätze, das Ringen zwischen Preußen und Österreich, das Interesse der Westmächte (wozu auch Hannover gehört) an dem Besitz der geistlichen Fürstentümer in Westdeutschland, traten dabei als bestimmende Faktoren ebenso hervor wie die persönlichen Interessen und Absichten der Kapitelsmitglieder, die Eifersucht der Domherren untereinander und ihre teilweise Abneigung gegen den preußischen Kandidaten, Franz von Fürstenberg.« Daß sich unter den absterbenden Formen des alten Reiches ein neuer Geist, eine neue Auffassung von Persönlichkeit und Staat gestaltete, legt die kurze aber eindringliche Studie Kosellecks dar ( 1996). Dem Bürger der Aufklärung, der eingebunden in ewige Gesetze ruhig, sicher und vernunftstolz sich der irdischen Glückseligkeit erfreut, stellt er den Menschen des Sturm und Drangs gegenüber, der sich leidenschaftlich in sich selbst versenkt, das Schöpferische in sich, den Genius, erkennt und mystisch sich unmittelbar mit der Welt zu vereinen sucht. Ihm ist »Freiheit« nicht die Freiheit des Genießens oder des Herrschens, sondern des Schaffens; und von hier aus findet er den Weg zum Verständnis aller schöpferischen Kräfte in der Geschichte, der großen Persönlichkeiten und der völkischen Eigenart. Die »Gleichheit« aber lehnt das Genie völlig ab und gelangt deshalb zur Wertschätzung

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ständischer Verfassungsformen. So erhoben sich die Stürmer und Dränger zur organischen Staatsauffassung, ja sogar zur Idee des Machtstaates und des nationalen Einheitsstaates.

Der Zeitraum von 1786 bis 1815 bildet vom Standpunkt der sog. Weltgeschichte aus gesehen eine große Einheit, ja man kann, wie es Delbrück ( 886) in dem vierten Band seiner »Weltgeschichte« tut, auch noch die Zeitspanne bis zum zweiten Kaiserreich (bis 1852) hinzunehmen und diese sechseinhalb Jahrzehnte als die »Revolutionsperiode« bezeichnen. Es erfüllt mich und, wie ich wohl sagen darf, alle Leser und Benützer dieser Zeilen mit einer wehmütigen Trauer, daß der Dank, den wir dem Verfasser dieser jüngsten Weltgeschichte schulden, ihn nicht mehr unter den Lebenden trifft. Man mag in der Beurteilung mancher Einzelheit von der Ansicht Delbrücks abweichen, es bleibt diese Weltgeschichte und (wovon ich allein zu sprechen habe) besonders ihr vierter Band ein großer und geglückter Wurf. Das Geheimnis dieses Erfolges -- es liegt doch nur zum Teil in der Fülle des Wissens und in der abgeklärten Ruhe des Alters, es liegt doch mindestens ebensosehr in der einzigartigen Mischung des Historikers, des Politikers und des Kriegswissenschaftlers. Freilich muß auch noch ein Allgemeines hinzugenommen werden, die vertiefte Einsicht, die uns unsere eigene Zeit in das Wesen des Krieges und der Revolution gebracht hat. So hat uns D. eine Darstellung hinterlassen, die für jeden, der sich aus Liebhaberei oder von Berufs wegen über diese Revolutionsperiode rasch und gründlich unterrichten will, der den neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung kennenlernen will, der neben Erkenntnis und Bildung in der Geschichtschreibung auch einen künstlerischen Genuß sucht, schlechthin unentbehrlich ist. Ich greife nur einiges heraus, was mich nach der ersten Lesung bei einem zweiten Durchblättern als besonders wertvoll, fein oder geglückt erneut anzieht: die Schilderung des alten Frankreich; die politischen Erörterungen über die Generalstände, den Schwur im Ballhaus und den Bastillesturm; die Rechtfertigung der Zivil-Verfassung des Klerus; die Vergleichung Marats, Dantons und Robespierres; die Auslassungen zu dem Wiederbeginn des Ringens zwischen Napoleon und England; die kurze aber glänzende Skizze über Napoleon, seine Entwicklung und Eigenart; die Beurteilung Bernadottes; die Darstellung des Sommer- und Herbstfeldzuges 1813 und des Winterfeldzuges von 1814 in ihrer ganzen Gegensätzlichkeit; den Feldzug in Belgien 1815. Unter den beigegebenen kritischen Auseinandersetzungen mit der Literatur sei besonders auf die zum 6. Kapitel: sozialdemokratische Literatur zur französischen Revolution hingewiesen. Speziellere Arbeiten zur französischen Revolution, die eben die deutsche Geschichte noch berühren, liegen vor von Phipps ( 888), der in seinem groß angelegten Werk über die Armeen der Republik und den Aufstieg der Marschälle Napoleons innere Zusammenhänge zwischen der Revolutionsperiode und dem Zeitalter Napoleons aufdeckt, sowie von Peter ( 890), der in seiner Studie über die Besetzung des Département du Nord 1793/94 frühere Forschungen (Jahresberichte Bd. 1, S. 265 f.) ausbaut. Die Napoleonliteratur des Jahres 1927 ist dürftig und peripher. -- Die Memoiren der Gräfin Kielmannsegge, hersg. von Aretz ( 897), von der Gräfin selbst nach ihren Tagebüchern und sonstigen Aufzeichnungen verfaßt, berichten über ihre Beziehungen zu Napoleon und den Napoleoniden in der Zeit von 1809--1830. Die ersten Kapitel (1809--1813) wissen allerlei Interessantes und Amüsantes


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vom Hofe Napoleons, insbesondere von der Rolle Talleyrands zu erzählen; hingegen werden die Ereignisse der Jahre 1813--1815 von der Schilderung der persönlichen Erlebnisse nahezu ganz verdrängt; die letzten Abschnitte (1816 bis 1830) können als Beiträge zur Metternichschen Politik gewertet werden. Freilich restlos hat sich die Gräfin in den zur Veröffentlichung bestimmten Memoiren weder über ihre Rolle als diplomatische Agentin Napoleons, noch (wenn auch die Herausgeberin anderer Meinung ist) über ihr menschliches Verhältnis zu Napoleon ausgesprochen. Die gleiche ausgeprägt persönliche, man darf sagen, frauenhafte Note tragen auch die Erinnerungen der Königin Hortense, hrsg. von dem Prinzen Napoleon ( 902). Den politischen Historiker fesseln am stärksten die Abschnitte des 2. und 3. Bandes über die erste Restauration und die 100 Tage. Erwähnt sei endlich noch die Skizze Marmottans ( 896) über die diplomatische Tätigkeit Joseph Napoleons in Lunéville und Amiens.

Für die deutsche Geschichte fällt nun aber dieser Zeitraum von 1786 bis 1815 durch die Ereignisse von 1806 in zwei Abschnitte auseinander: Untergang des Römischen Reiches und Erhebung Deutschlands. Der Untergang des alten Reiches (1786--1806) hebt an mit den Revolutionskriegen; sie enden mit dem Verlust der Rheinlande. Die Ziele der französischen Rheinpolitik während der Revolution in ihrer Abhängigkeit von der militärischen und innerpolitischen Lage arbeitet nach gedrucktem Material französischer Herkunft Braubach ( 893) in einer knappen Skizze scharf heraus. 1792: Eroberung von Mainz, Einverleibung des Rheinlandes; 1793/94: Frankreich in Verteidigung; Zurücktreten der Rheinpolitik; 1794/95: französischer Vorstoß und Baseler Friede, Einverleibung der Rhl.; 1796: Erfolge Erzherzogs Karl, Wiederherstellung der rheinischen Kurfürstentümer; 1797: Siege Napoleons und Stillstand in Deutschland, Ringen zwischen Reubell (Einverleibung), Carnot-Hoche (Zisrhenanische Republik) und Barthélémy (status quo ante); Staatsstreich vom 4. Sept. 1797: Sieg Reubells, Einverleibung. Ein Vortrag von Hansen ( 892) über das linke Rheinufer und die französische Revolution 1789/1801, der Vorläufer einer größeren Darstellung und umfassenden Veröffentlichung deutschen und französischen Aktenmaterials, läßt das eine bereits mit aller Schärfe erkennen, daß 1792 und 1797 nur kleine Kreise der Gebildeten den Anschluß an Frankreich betrieben, während die große Masse die Rückkehr ihrer Fürsten erhoffte. Dabei aber hatten die ersteren nicht die Absicht, Franzosen zu werden; sie hofften in Frankreich die »politische Freiheit und Gleichheit des Menschen« zu finden, die ihnen das Reich und seine Staaten nicht gaben. »In einem seelischen Zwitterzustande ... gaben sie, indem sie französische Staatsbürger wurden, doch ihre deutsche Wurzel nicht preis.« Deshalb wandten sie sich seit Beginn des Jahrhunderts wieder von dem napoleonischen Frankreich ab und dem sich verjüngenden Preußen zu, eben als sich die breiten Volksschichten mit der französischen Herrschaft abzufinden begannen. (Vgl. auch die Besprechung der Arbeit Springers in Jahresber. Bd. 2, S. 311). Ein anderes wichtiges Problem packt beherzt Männer ( 891) mit seiner Schilderung der letzten Jahre des Ancien Régime in Bayern an, die Frage, warum es in Deutschland nicht zur Revolution kam. Er vergleicht die gesellschaftliche Schichtung Bayerns mit der Frankreichs; er schildert weiter den Kampf Karl Theodors mit dem Illuminatenorden und zeichnet dabei den Kurfürsten als Träger der Idee des Absolutismus, der mit Weishaupt um die Herrschaft im


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Staat rang und dabei die Zensur, das Beamtentum, die Religiosität des Bauern und das Mönchtum benützen konnte; er stellt dann die durch die französische Revolution hervorgerufenen Zuckungen im bayerischen Volke dar. Abschließend kommt Männer zu dem Ergebnis, daß der reichsfürstliche Charakter des Episkopates und seine stärkere Berührung mit dem Volk, das große Ansehen des Mönchtums, die starke Abhängigkeit des Handwerksmeisters von Hof und Adel, das Fehlen einer kapitalistischen Industriellen- und Kaufmannsschicht und entsprechend eines Arbeiterproletariats, das enge Band zwischen dem feudalen Grundherrn und dem Bauern, das sich noch auf das lebendige Verhältnis von Leistung und Gegenleistung gründen konnte, endlich die vielfältige Verzahnung des absoluten Staates mit den feudalen Ständen eine bürgerliche Revolution gegen Absolutismus und Feudalismus unter dem Kampfruf »Freiheit« unmöglich machte. Ein kleinerer Beitrag zu dem gleichen Problem sind die Ausführungen Wagners ( 892a), die, auf den kurtrierischen Kammerprotokollen fußend, erkennen lassen, daß die Unruhen, die kurz vor und während des Jahres 1789 im Kurfürstentum Trier aufflackerten, nichts mit der Ideenwelt der großen Revolution zu tun hatten, sondern in den besonderen Verhältnissen dieses geistlichen Staates (Abneigung des Bürgertums gegen das Übergewicht der Geistlichkeit, materielle Schädigung Triers durch Verlegung der Residenz nach Koblenz, Forstgesetzgebung) und in der Teuerung von 1789 ihren Grund hatten. Daß andererseits aber auch das Römische Reich als Staat keine Zukunft mehr hatte, beweisen zwei andere Arbeiten zur Genüge. Morstein-Marx ( 894) schält als Ziel der Hamburgischen Großkaufmanns-Diplomatie um 1796 heraus die völkerrechtlich fixierte Zusicherung, in jeder kriegerischen Verwicklung Europas, auch bei einem Reichskrieg gegen Frankreich, im höheren Interesse der deutschen Wirtschaft, d. h. des Hamburger Handels, neutral bleiben zu dürfen; tatsächlich wurde 1803 den Hansestädten diese Handelsneutralität von Reichswegen zugebilligt. Darüber hinaus eine deutsch-französische Verständigung herbeizuführen, wie der Titel des Morsteinschen Aufsatzes anzudeuten scheint, war jedoch nie Sinn und Ziel der Politik Hamburgs. Fehlte es in Hamburg an dem nationalen Willen, so mangelte es anderen deutschen Territorien an staatlicher Kraft. In die Kleinstaatenwelt des Reiches führt uns Wilhelm Karl Prinz von Isenburg ( 932) mit den »Momentaufnahmen« aus dem Leben des Grafen Volrat zu Solms-Rödelheim. Freilich gänzlich fügen sich die »kaleidoskopartigen Schattenbilder« nicht zu einem plastischen Bild dieser Persönlichkeit zusammen; aber der Verfasser hat das wohl auch nicht gewollt. Den Historiker interessiert dies Buch nach zwei Seiten hin. In seiner ersten Hälfte ist es ein wertvoller Beitrag zu der noch wenig bearbeiteten Frage: in welcher Weise und in welchem Maße die geistige Kultur des späten 18. Jahrhunderts von den Zeitgenossen ergriffen worden ist. Graf Volrat suchte auf seinen Reisen durch Deutschland den ganzen Reichtum seiner Zeit zu erfassen, ohne daß er auf die Selbständigkeit des Urteils verzichtet hätte. Die zweite Hälfte bringt dem politischen Historiker wichtige Nachrichten aus den Archiven der Häuser Solms, Leiningen und Isenburg über die Bestrebungen der Staaten dritten Ranges, in dem Zusammenbruch des Reiches ihre Selbständigkeit zu erhalten, über die Frankfurter Union von 1803 und über die Versuche der Mediatisierten, ihre Reichsfreiheit zurückzugewinnen. Da auch dies Politische eingefangen ist in das Persönliche, so bleibt die Einheit des

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Buches gewahrt. Den Bereich der deutschen Großmächte betreten wir mit der Dissertation Weyers ( 925) über die Anfänge des preußischen Haus- und Polizeiministers Fürst Wilhelm Ludwig Georg zu Sayn-Wittgenstein. Sie stellt, aufgebaut auf Material aus wittgensteinschen, preußischen, hessischen und bayrischen Archiven nicht nur eine Vorarbeit zur Biographie dieser so vielumstrittenen Persönlichkeit, sondern auch einen schätzenswerten Beitrag zur Geschichte der preußisch-hessischen Beziehungen in dem Jahrzehnt 1795--1806 dar. Ob freilich die hessische Schaukelpolitik allein aus der Unbeständigkeit des Kurfürsten zu erklären und wirklich so verdammenswert ist, möchte man doch bezweifeln. Die geographische Lage Hessens und das Vorbild Preußens, das bei seiner Schaukelpolitik äußere Gewinne machte, haben die Haltung Hessens doch auf das stärkste beeinflußt. Auch die Ehrenrettung des Fürsten scheint mir nicht geglückt. Die politisch-diplomatische Gewandtheit und die Neigung, jede Sache kraftvoll anzupacken, diese beiden Eigenschaften des Fürsten genügten völlig, um ihn für den schwächlichen Friedrich Wilhelm III. nicht nur zum »liebenswerten Freund«, sondern auch zum geschätzten Berater und vertrauten Führer zu machen. Aber es ist gut, daß die Frage nach der Beurteilung des Fürsten einmal energisch gestellt ist.

In die letzten, immer schmerzvollen Ereignisse leitet uns H. v. Srbik ( 887), wenn er von hoher Warte aus mit dem tiefeindringenden Blick des Meisters die Entstehung des österreichischen Kaisertums und das Ende des Römischen Reiches in formvollendeter Sprache uns darlegt. In Kürze seine Ergebnisse. Die Schaffung des französischen Kaisertums 1804 führte am Wiener Hof zu dem Plan, um der Ebenbürtigkeit willen auch dem Haus Habsburg eine erbliche Kaiserwürde zu sichern; sie hätte nur auf die Lande, in denen Kaiser Franz II. die volle Souveränität besaß, also auf die Königreiche Ungarn und Galizien begründet werden können; die Radizierung des neuen Kaisertums auf alle Lande des Hauses Österreich war ein Bruch des noch geltenden Reichsrechts, nach dem Franz in den österreichischen und böhmischen Landen als Reichslehen nur die Landeshoheit besaß. Die Annahme des Königstitels durch die Herrscher von Bayern und Württemberg war bis zu einem gewissen Grade nichts anderes als die Nachahmung des österreichischen Beispiels. Die klar erkennbare Politik Napoleons, das Reich völlig aufzulösen, stellte Habsburgs Diplomaten weiter vor die Frage, was vorzuziehen sei: die römische Kaiserkrone sofort niederzulegen oder zu versuchen, ob man aus diesem unvermeidbaren Opfer nicht noch einige Vorteile ziehen könne. Man entschied sich für das letztere, aber versäumte den richtigen Zeitpunkt. Bevor die Verhandlungen eröffnet wurden, gründete Napoleon den Rheinbund und stellte am 22. Juli 1806 dem österreichischen Gesandten das Ultimatum: entweder lasse der österreichische Kaiser bis zum 10. August in Wien und Regensburg erklären, daß es für ihn kein Reich mehr gebe, oder es marschierten französische Truppen in Österreich ein. Unfähig, Krieg gegen Napoleon zu führen, gab Franz II. am 6. August die geforderte Erklärung ab, verletzte dabei abermals das Reichsrecht, indem er auf dieses keinerlei Bezug nahm. Die Wirkung auf das deutsche Gemüt war nach den Zeugnissen, die S. beibringt, doch tiefer, als man bisher angenommen.

Aber gegenüber dem absterbenden Reich stand der kraftvolle Lebenswille der Einzelstaaten, Österreichs, Preußens und der Mittelstaaten. Wie einer


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dieser Mittelstaaten in der Zeit der Revolution und Napoleons nicht erwachsen, sondern durch den Willen einer energischen Persönlichkeit geschaffen worden ist, zeigt die feine Vita, die uns Schnabel ( 908) von dem badischen Staatsmann Sigismund von Reitzenstein geschenkt hat. Zuerst schuf R. als Diplomat in den Jahren 1796--1805 die äußere Form des badischen Staates, den er gerne zum oberrheinischen Staat schlechthin ausgeweitet hätte; er schuf ihn, weniger im Ringen mit dem außenpolitischen Gegenspieler, Frankreich, als mit den Kräften daheim, denen seine Politik zu kühn war. Dann baute er im Jahr 1809 aus dem bunten Vielerlei, das er seinem Herrn erworben, ein einheitliches Großherzogtum und stürzte dabei -- ein Witz der Geschichte -- über Frankreich, das seine innerpolitischen Gegner vorübergehend für sich gewonnen hatten. Und noch einmal, in dem Jahrzehnt von 1831--1842, unterzog er sich der dornenvollen und opferreichen Aufgabe, seinen Staat hindurchzulavieren durch die Stürme des Liberalismus und der Reaktion. Daneben aber erscheint der Mensch Reitzenstein als einer der feinsten Vertreter des klassizistischen Deutschlands; der Umgang mit den Schriften der Alten bleibt ihm der höchste Genuß, und er dankt der Antike durch die Tat, durch die Wiederbelebung der Universität Heidelberg. Eben dadurch nun, daß »er sein Leben teilte zwischen dem Staub der Agora und dem stillen Tempel der Wissenschaft«, wurde R. zum »echten Humanisten«, zum antikischen Menschen. Freilich in seiner öffentlichen Betätigung liegt die Tragik seines Lebens; »seine Kraft, seine politische Begabung und sein sittliches Wollen kam nicht dem nationalen Leben seines Volkes zugute, sondern diente dem Aufbau einer zweckwidrigen partikularen Gewalt.«

In den literarischen Erscheinungen zu dem dritten Zeitraum, die Erhebung Deutschlands umfassend, treten beherrschend zwei Persönlichkeiten hervor, der Freiherr Karl vom Stein und Gottieb Fichte. Die Bibliographie verzeichnet nicht weniger als sechs Beiträge zu den Fragen, die Person und Werk Steins der geschichtlichen Forschung stellen. Ohne wesentlich Neues bringen zu wollen, entwirft Bach ( 914) in edler Sprache ein lebenswarmes Bild von dem Elternhause Steins, von einer deutschen Familie, die fest gegründet auf den zeitlosen Tugenden der Frömmigkeit und der Wahrhaftigkeit, eines gesunden Stolzes und eines kräftigen sozialen Pflichtbewußtseins, zugleich auf der Höhe des geistigen Lebens ihrer Zeit steht, getragen, zusammengehalten und durchgeistigt von der Mutter, Karoline Henriette vom Stein. Die ganze Umgebung des jungen Stein, Landschaft und Flecken Nassau, die Geschichte der Stein, Eltern und Geschwister und die Freunde des Hauses sind ebenso lebensvoll gezeichnet, wie die späteren Beziehungen des Reichsfreiherrn zu seinem Fideikommiß und Stammsitz bis zu dem Augenblick, da man ihn im Dorfe Frücht einsenkt in die heimische Erde. Ist das liebenswürdige Buch Bachs gewissermaßen das Präludium, so suchen andere, Ritter, Botzenhart und Thiede, nach den Grundakkorden und Leitmotiven in der gewaltigen Lebensfuge. Ritter ( 915) fragt zuerst in einer tiefbohrenden Freiburger Rede nach dem Wesen und den Wurzeln der Staatsanschauung Steins. Ihrer drei legt er bloß: das Elternhaus mit seinen moralischen Ideen, die Göttinger Studienzeit, die diesen Ideen die Richtung gibt auf Reform des deutschen Staatswesens im Sinn organischer Fortbildung der lebensfähigen Elemente, und drittens der große Gedanke des 18. Jhds.: Erziehung des Menschen zur Persönlichkeit, und zwar (unter dem Einfluß Göttingens) durch den Staat. Die Höherbildung dieser


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»hausbackenen Staatsphilosophie« übernahm dann der preußische Staat und dessen gewaltiges Schicksal: aus der Erziehung durch den Staat wird die Erziehung für den Staat, der als nationaler Staat der »deutschen Veredelung und Kultur« zu dienen hat. Hingewiesen sei noch auf die treffenden Worte über das verschiedene Verhältnis Steins und Bismarcks zum Staat, auf die Auseinandersetzung mit Meinecke über das Universale in Steins politischem Denken, endlich auf die Schlußsätze, daß das sittliche Pathos neben, ja noch vor der klugen Staatsraison notwendig sei gerade in Zeiten der Knechtschaft. In einem zweiten »Aufsätzchen«, dessen Kürze im umgekehrten Verhältnis zur Tiefe und Weite seines Gehaltes steht, sucht Ritter ( 919) nach dem Ursprung der Selbstverwaltungsideen des Freiherrn. Die französische Revolution als direkte Verneinung des Ideals der Selbstverwaltung kann das Vorbild nicht gewesen sein; ebensowenig aber auch das englische self-government, das nur ungenügend auf dem Festland bekannt, wohl in seinem Grundgedanken, nicht aber in den Einzelheiten mit den Steinschen Ideen übereinstimmt. Aus der deutschen Umgebung wirkten die hansische Stadtverfassung, in der sich noch etwas von den »uralten Traditionen städtischen Gemeinsinnes« erhalten hatte, und die Reste der landständischen Verfassung mit ihrem Dualismus. Andere Leitgedanken aber, der Grundbesitz als Grundlage politischer Rechte, der »rationale Schematismus« des Aufbaus der Selbstverwaltungskörperschaften, die moralisch-erzieherische Wirkung dieser gemeinnützigen Tätigkeit, sind der physiokratischen Literatur entnommen, deren grundsätzliche Nivellierung und Uniformierung Stein jedoch scharf ablehnte. »So führt jede Analyse der Quellen erst recht dazu, die als Ganzes unableitbare Eigenart der Steinschen Ideenwelt anzuerkennen. Nur daß sie uns zugleich den ungewöhnlichen Reichtum verschiedenartigster politischer Bildungselemente verstehen läßt, die sich hier vereinen. Fragt man aber, welches geistige Ferment die Farbe des Ganzen am stärksten bestimmt, so wird man zuletzt noch auf ein Persönliches geführt: auf ein starkes Verantwortungsbewußtsein des Staatsmannes für die sittliche Erziehung des Volkes in ausgesprochen lutherischreligiöser Färbung.«

Das Hauptproblem, das die Staats- und Reformideen Steins uns stellen, greift Botzenhart ( 918) in umfassender Weise an, wenn er ihre geistigen Grundlagen und praktischen Vorbilder darzulegen unternimmt. An die Spitze stellt B. die wichtigsten methodischen Grundsätze sowie allgemeine Erörterungen über die verschiedenen Arten und Stufen geistiger, ideenmäßiger Abhängigkeit und Beeinflussung. Der erste Hauptteil behandelt die Stellung Steins zur Aufklärung. Seine sittlich-religiöse und historisch-organische Staatsauffassung stand im Gegensatz zu der der Aufklärung, insbesondere Rousseaus; mit Montesquieu hingegen stimmte er in dem Staatsideal der »eingeschränkten Monarchie« überein, ohne daß sich freilich eindeutig feststellen läßt, wie weit diese Übereinstimmung auch Abhängigkeit von M. bedeutet. Den Vorgängen in Frankreich stand Stein freundlich gegenüber, solange er glaubte, daß ihr Ziel die Reform sei; die Entwicklung zur Revolution lehnte er ab. Den Hauptteil des Buches füllt das zweite Kapitel: Stein und die Gegner der Staatslehre der Aufklärung. Zuerst legt B. die Staatsauffassung der beiden Freunde Steins aus seiner Göttinger Zeit, Brandes und Rehberg, dar, die sich in den Jahren 1786 bis 1793 mehrfach mit den Ereignissen in Frankreich literarisch auseinandergesetzt


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hatten. Nach Steins eigenen Aussagen über sein Verhältnis zu diesen beiden ist es erlaubt, anzunehmen, daß ihre Ansichten mit denen Steins übereinstimmten. Sie beide werden von B. als »Interpreten« Steins betrachtet; als seine Lehrer kommen sie nicht in Frage. Ihre Schriften werden als Quellen für die Staatsauffassung Steins in den 90 er Jahren herangezogen, aus denen eigene Zeugnisse Steins nicht vorliegen. »Es ergibt sich aus ihnen eine durchaus geradlinige Entwicklung der Ideen Steins von 1786 bis 1810.« Hingegen können als Lehrer Steins angesprochen werden Möser und Burke. Ersterer hat Steins Neigung zu geschichtlicher Betrachtung und seine Liebe zum Mittelalter gekräftigt; er hat weiter stärksten Einfluß ausgeübt auf die Ausbildung der Ideen Steins über die ständische Gliederung, eine Reform des Adels, die Bedeutung des Bürgertums für das Staatsleben und den Wert der Selbstverwaltung. Dabei stand Möser dem Rationalismus näher als Stein und hatte immer die Gemeinde, Stein aber den Großstaat im Auge. Burke endlich hat mit seinen »Reflections« nicht nur Steins und seiner Freunde Stellung zur Revolution endgültig bestimmt, er hat die dunkeln Ahnungen Steins vom sittlich-religiösen Wesen und von der historisch-organischen Natur des Staates zu vollem bewußten Leben erweckt und damit Stein auf das nachhaltigste beeinflußt. Aus Herder hat Stein nur entnommen, was seiner eigenen Auffassung entsprach. Zuletzt gibt B. noch ein Bild von der Entwicklung und dem Aufbau der politischen Ideen Steins.

Geht B. genetisch vor, so will Thiede ( 916) »die Einheit der Steinschen Ansichten (über Staat und Wirtschaft) systematisch entwickeln und aufzeigen.« Im ersten Kapitel entwickelt er in steter Auseinandersetzung mit anderen, insbesondere mit Meinecke, die Ansicht, daß Stein konservativ und historisch (nicht philosophisch-spekulativ) denkend die Freiheit als Freiheit im und für den Staat auffaßte, die sich nur in wirtschaftlichen und standesmäßigen Körperschaften auswirken könne, wobei St. einem nationalen Gedanken huldigte, der frei von kosmopolitischen und universalen Prinzipien auf der Idee des Sittlichen beruhte. In dem folgenden Abschnitt über die Stellung Steins zur Verfassungs- und Verwaltungsreform legt er u. a. den inneren Gegensatz zwischen der Steinschen Selbstverwaltungsidee und den Tendenzen der französischen Revolution, sowie den zwischen der Selbstverwaltung Steins: ein Recht des Volkes, und der Hardenbergs: ein Geschenk des Staates an das Volk, dar. Im einzelnen bietet Th. hier wie auch im dritten Abschnitt: Stellung zur Reichsverfassung, nichts Neues. Den Wechsel in Steins Verfassungsplänen erklärt Th. damit, daß Stein immer deutlicher die Unmöglichkeit erkannte, seine Lieblingsgedanken zu verwirklichen: Erneuerung der kaiserlichen Monarchie des Hochmittelalters. Bei dem eigenartigen Plan vom Juni 1814, Preußen und Österreich nur zu einem Teil in das Reich hereinzunehmen, weist Th. auf den Zusammenhang mit dem anderen Gedanken Steins hin, in den Bundestag nicht nur Vertreter der deutschen Fürsten, sondern auch solche der einzelstaatlichen Landtage, also Vertreter des deutschen Volkes, hereinzunehmen; das bedingte den Ausschluß der slawischen und madjarischen Teile der Habsburgermonarchie und dies wieder eine gleiche Behandlung Preußens. Bei den Ausführungen über Steins Anschauung von Gewerbefreiheit und Zunftwesen weist Th. nach, daß die Maßnahmen, durch die er in gewissen Gegenden für gewisse Gewerbe die zünftischen Bindungen beseitigte, nicht Ausfluß einer


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zunftfeindlichen Theorie waren, sondern Erfordernisse jeweils besonderer Verhältnisse: andere auf Auflösung der Zünfte abzielende Vorarbeiten wurden nach Steins Eintritt in das Ministerium 1807 nicht weiter verfolgt; im Gegenteil, Stein schützte die Zünfte: ihm lag mehr an der »Aufrechterhaltung einer gewissen bürgerlichen Ehre« als an der Hebung der Produktion. Der Sinn der Bauernbefreiung ist dem ähnlich: nicht Förderung der Wirtschaft, sondern Hebung des Bauernstandes in eine Lage, in der er an dem staatlichen Leben Anteil nehmen kann. Diese Absicht, einen selbständigen und bodenständigen Bauernstand zu schaffen und ihn gegen die Aufsaugungsbestrebungen des Großgrundbesitzes zu schützen, scheidet Stein auf das schärfste von seinen liberalen Mitarbeitern. Tragisch aber bleibt, daß auf den Grundlagen, die Stein schuf, sich ein Staat erhob, der so ganz anders war, als er wünschte. Mit diesen Arbeiten über Stein ist nun die endgültige Lösung der Lehmann-Meierschen Kontroverse angebahnt worden, indem der negativen Feststellung Meiers nun die positive Widerlegung Lehmanns folgen soll. Ritter und Botzenhart sind auf dem Wege dazu. Aber, stellt man deren Ansichten nebeneinander, so bleibt manches hier noch des Ausgleiches bedürftig. Die Abhandlung Thiedes weiter richtet sich ganz deutlich gegen die Auffassung, daß der Sinn der preußischen Reform die Entbindung der wirtschaftlichen Kräfte des preußischen Volkes gewesen sei. Das war der Sinn der Hardenbergischen Reform; Stein hingegen erstrebte die Ausbildung der sittlichen Energien. Den Fortschritt, den uns bei dem Problem »Stein« die Forschung des Jahres 1927 gebracht hat, wird man hoch einschätzen müssen.

Neben Stein steht Fichte im Vordergrund. Wundt ( 1998) hat sich bei seiner Darstellung des Lebens und der Lehre Fichtes für eine systematische Behandlung entschieden. Er gibt uns zuerst, an dem großen Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit orientiert, eine gedrängte und gedankenreiche Biographie: der Kampf des Mannes gegen das Schicksal, das immer wieder, nicht ohne die eigene Schuld, tief und schmerzlich in das Leben eingriff; nur einmal gingen Mensch und Schicksal zusammen, in den Jahren 1807--1814, und diese Tätigkeit Fichtes ist keine Episode, sondern die Höhe seines Lebens. »Es ist vollberechtigt und hat einen tiefen Sinn, wenn Fichte in dem Andenken unseres Volkes als der Redner an die deutsche Nation fortlebt.« Im zweiten Abschnitt stellt Wundt die »Wissenschaftslehre« dar. Den Historiker fesselt vor allem das dritte Kapitel: »Die Rechts- und Staatslehre«. Über die gedankenreichen Darlegungen Wundts gebührend zu referieren, ist hier unmöglich. Er zeigt -- nur das sei gesagt -- zwei Entwicklungslinien in Fichte auf: die vom Individualismus zum Gemeinschaftsgedanken und die vom Weltbürgertum zur Nationalstaatsidee. Diese Doppelentwicklung -- W. bezeichnet ihre einzelnen Phasen mit den Schlagworten: Rechtsstaat; Wirtschaftsstaat; Kulturstaat; nationaler Machtstaat; nationaler Erziehungsstaat -- vollzog sich unter den Einwirkungen der äußeren Ereignisse und doch zugleich auch in der Entfaltung von Fichtes innerstem Wesen. Die Abschnitte über die Sittenlehre und die Religionslehre interessieren mehr den soziologisch eingestellten Geschichtler. Allgemeinste Bedeutung aber hat wieder das kurze Schlußkapitel: »Der Mann und sein Werk.« Auch hier nur Wichtigstes. Fichte gehört zu den »prometheischen« Philosophen, den »prophetischen Verkündigern eines künftigen Weltzustandes, der sich aus dem gegenwärtigen entwickeln soll«, zu den »fordernden«


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Naturen, die die Tat, das Handeln predigen. Inhalt dieses Handelns ist ihm die Sittlichkeit. In der Geschichte der deutschen Philosophie ist Fichte der Übergang von Kant zu Hegel. In der Entwicklung des deutschen Geisteslebens ist er der Prophet des 19. Jhds., das nicht mehr auf Schauen, sondern auf Handeln gerichtet war; aber es hat nur die Form des Handelns, nicht auch dessen Inhalt, die Sittlichkeit und den Gemeinschaftsgedanken, übernommen. Von daher fällt der Strahl erschütternder Tragik auf Fichtes Leben. Wer in Forschung oder Lehre mit der Erhebung Deutschlands gegen Napoleon sich befaßt, wer heute nach den Wegen sucht, die zur Freiheit führen, kann an Wundts Fichte nicht vorübergehen. Ganz anders geartet ist die zweibändige Darstellung von Léon ( 1998 a): »Fichte et son temps«, von der uns der zweite Teil des zweiten Bandes »Der Kampf um die Befreiung« interessiert. (Der erste Teil enthält die Berliner Jahre Fichtes 1799--1806 unter dem Titel: Kampf gegen die Reaktion.) Nicht zum wenigsten dank der stilistischen Fähigkeiten des Verfassers entrollt sich uns ein plastisches Bild, Fichtes Leben und Wirken, ebenso wie die gesamte politische und kulturelle Umwelt umfassend. Die Analysen der philosophischen und politischen Schriften sind leicht lesbar, geschickt geschrieben, vollauf imstande, den Leser zu fesseln. Mit besonderer Liebe sind die Reden an die deutsche Nation behandelt, die verschiedenen politisch-philosophischen Arbeiten, die ihnen vorangehen, die Geschichte ihrer Veröffentlichung und die Frage nach ihrer Wirkung. In diesen Analysen tritt nun ganz deutlich die doppelte These Léons hervor. Er leugnet jede innere Entwicklung Fichtes vom Weltbürgertumm zum nationalen Gedanken; Fichte sei von den Tagen an, in denen er seine »Beiträge zur Berichtigung der Urteile... über die französische Revolution« schrieb, bis zu seinem letzten Werk »Die Staatslehre« immer ein Anhänger, Verehrer und Verteidiger der Revolution, der Freiheit und der Demokratie. Fichtes Kampf gegen Napoleon gelte nicht dem Unterdrücker Deutschlands, sondern dem Verräter der französischen Revolution; »il avait commis un crime de lèse-humanité.« Die anderen Gegner Fichtes seien die Romantiker, deren Ideale: Wiedererneuerung der Weltmonarchie und Aufrichtung eines neuen Katholizismus, den seinigen schnurstracks entgegengesetzt seien. Trotz aller sachlichen Anleihen, die Fichte bei den Romantikern und ihrer Auffassung vom deutschen Wesen machte, bleibe auch hier Fichte seinen ursprünglichen Ansichten treu; eine »zweite Philosophie« Fichtes gäbe es nicht. Hinzuweisen ist auf die reichhaltige Bibliographie. Ich schließe hier das Buch eines zweiten Franzosen über deutsche Philosophie an, die Untersuchungen von Basch ( 1991) über die politischen Doktrinen unserer klassischen Philosophen: Leibniz, Kant, Fichte und Hegel, wobei der letztere am eingehendsten behandelt wird. Für uns ist dieses Buch weniger wegen seiner positiven Ergebnisse als wegen seiner gesamten Einstellung von Bedeutung. Es ist entstanden aus dem Zwiespalt, in den sich der Verfasser mit anderen französischen Philosophen durch den Krieg von 1914 versetzt sah, weil er einerseits von dem inneren Wert der deutschen klassischen Philosophie, andrerseits aber auch von der »Schuld« Deutschlands am Krieg überzeugt war. Er will die seit 1914 in Frankreich weitverbreitete Anschauung, als sei die deutsche Philosophie von Leibniz bis Kant die geistige und weltanschauliche Grundlage des »kriegerischen Pangermanismus«, widerlegen. Er kommt zu dem Schluß: Leibniz betrachtete das politische Universum als große Harmonie und sah als

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Ziel der Zivilisation den ewigen Frieden. Kants Rationalismus gipfelt in der Gesellschaft der Nationen, die jeden Krieg unmöglich macht. Fichte hat Zeit seines Lebens an dem revolutionären Ideal von Freiheit und Demokratie festgehalten, das ihn in der Jugend beseelte. Und auch Hegel, der häufig mißverstanden, als Philosoph der »alldeutschen und imperialistischen Lehre« angesehen wird, hat nie verkannt, was die Menschheit den Männern der französischen Revolution schuldet. In der Beurteilung Fichtes stimmen Léon und Basch also völlig überein.

Von den militärischen und politischen Ereignissen der späteren Napoleon- Zeit hat die Erhebung Tirols unter Andreas Hofer eine Bearbeitung von italienischer Seite gefunden. Unter reichlicher Verwendung von Briefen und Akten erzählt Caracciolo ( 899) die Tragödie des Sandwirts von Passeier. Jedoch nicht ohne politische Tendenz; C. möchte zeigen, welche Bewandtnis es mit den historischen Beziehungen zwischen Bayern und den Deutschen Süd-Tirols auf sich hat, von denen der bayrische Minister Kolb am 4. Februar 1926 gesprochen hatte; deshalb wird der Anteil Bayerns an den Kämpfen in Tirol mit aller Schärfe herausgearbeitet. -- Die letzte Phase des napoleonischen Zeitalters, den Sturz des Kaiserreichs, schildert uns Driault ( 901), und mit den Darlegungen über die Napoleon-Legende schließt er sein großes Werk: Napoléon et l'Europe. Die Darstellung von Morén ( 900) zur schwedisch-dänischen Außenpolitik 1812/13 war mir leider nicht zugänglich. In ein anderes Grenzgebiet deutscher Geschichte führt Colenbranders ( 906) ausführliche Darstellung von der Entstehung des Königreiches der vereinigten Niederlande, nachdem er bereits früher in 3 Bänden: De Bataafsche Republiek -- Schimmelpenning en Koning Lodewijk -- Inlijvning en Opstand -- die vorhergehenden Perioden geschildert hat. Es ist überaus reizvoll, zu sehen, wie in den kriegerischen Ereignissen vom Dezember 1813 bis März 1814 (Kap. 1) und in dem Feldzug von 1815 (Kap. 7) der neue Staat seine äußeren Grundlagen erhält, wozu man auch noch die Zurückgabe der Kolonien (Kap. 5) rechnen kann; wie bei der Beratung der Verfassung (Kap. 2) und in den ersten Regierungshandlungen (Kap. 3) die Anhänger des »ouden voet«, der Zustände vor 1795, mit den Freunden der revolutionär-napoleonischen Verhältnisse einen rein niederländischen Staat zu gestalten versuchen; wie der junge Staat über seine Kräfte hinaus um Europas willen mit Belgien belastet (Kap. 4 u. 6) und eben dadurch zu einer Umgestaltung seiner Verfassung (Kap. 8) genötigt wird. Die Bedeutung des Buches für die deutsche und europäische Geschichte liegt auf der Hand; hingewiesen sei auf den reichen Bilderschmuck. An dem niederländischen Feldzug von 1814 war auch der Großherzog Karl August von Weimar beteiligt. Dessen Tätigkeit schildert v. Egloffstein ( 905) nach belgischen, sächsischen und thüringischen Akten. Sie betraf einmal die Verwaltung des belgischen Landes im Interesse der verbündeten Armeen und weiter die Kämpfe des dritten deutschen Armeekorps gegen die französischen Heeresabteilungen von Lille und Antwerpen. Wertvoll sind die 61 Briefe, die zum größten Teil aus der Feder Karl Augusts oder seines Geheimsekretärs Vogel stammen. Eine weitere bedeutsame Quelle bildet das von Fortescue ( 904) veröffentlichte Tagebuch des englischen Generals Cavalié Mercer aus dem belgischen Feldzug von 1815. -- In das Gebiet der Diplomatie, und zwar der deutschen Diplomatie führt zurück die Arbeit von Glaser ( 907) über die badische Politik und


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die deutsche Frage zur Zeit der Befreiungskriege. »In den Jahren 1814 und 1815 gab der Kampf um den Bestand des Staates der badischen Politik einen einheitlichen Zug; die badischen Minister trieben badische Politik; die deutsche Frage hatte für sie nur eine untergeordnete Bedeutung.« So kennzeichnet die Verfasserin die badische Politik. Sie schildert dann die auf Beobachtung beschränkte Tätigkeit des badischen Vertreters im großen Hauptquartier während der Friedensverhandlungen von 1814, wobei dieser Anlehnung an Österreich suchte, sowie die Strömungen in der öffentlichen Meinung Badens. Auf dem Wiener Kongreß, wo Baden gegen die Mediatisierten und Preußen kämpfte, stützte es sich auf Talleyrand; es erstrebte Aufnahme in den Fünfer-Ausschuß über die deutschen Angelegenheiten, freilich vergeblich. Während der hundert Tage wurde in der öffentlichen Meinung der Wunsch auf Sicherung gegen Frankreich laut. Es zeigten sich also damals schon die Momente, die in der badischen Politik bis 1871 lebendig blieben: ein partikularistisches, Erhaltung, ja Vergrößerung oder Rangerhöhung des badischen Staates, und ein unitaristisches, Anlehnung an den deutschen Führerstaat aus Angst vor Frankreich.

Übersehen wir noch einmal die wissenschaftliche Arbeit auf unserem Teilgebiet, erscheint da nicht die Bevorzugung des gesamten Rheingebietes und der Geistesgeschichte als ein Spiegelbild der Probleme, die heute der deutschen Politik gestellt sind?


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