§ 24. Deutsche Geschichte von 1890--1914.

(H. Herzfeld.)

Eine knappe Gesamtdarstellung der europäischen Geschichte seit 1900 ist im Berichtsjahre von dem Amerikaner Slosson ( 1077) versucht worden. Der Verf. selbst will nur eine Zusammenfassung ohne den Anspruch auf persönliche Originalität geben. Auch nach amerikanischer Kritik (s. American Historical Review 33, S. 117 ff.) läßt das Werk jedoch genügende Verarbeitung der in den letzten Jahren neu erschlossenen Quellen vermissen und ist nur beachtenswert, weil Slosson als Bibliothekar der amerikanischen Friedenskommission an der Versailler Konferenz beteiligt war und über sie gelegentlich persönliche Erinnerungen beizubringen vermag. -- Zusammenfassende Darstellungen der deutschen Geschichte in unserem Zeitraum sind nicht versucht worden. Grundlegende Verschiebungen des Forschungsinteresses und der Methoden liegen nicht vor. Die Arbeit des Jahres 1927 für die deutsche Geschichte der Zeit von 1890--1914 im engeren Sinne beschränkt sich auf monographische Studien.

E. Müller hat wieder einmal versucht, der Gestalt Wilhelms II. ( 1079) mit den Mitteln des Arztes beizukommen, der sich auf Psychiatrie und Vererbungslehre stützt. Durchaus dilettantisch und oberflächlich in der Beibringung des Quellenmaterials -- er greift bis auf den Stadtrodaer Anzeiger zurück -- bleibt seine Schrift ohne jeden ernsthaften Ertrag. -- Der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages hat Richard Frankenberg ( 1081) eine recht gediegene Studie gewidmet. Sie ist gleichzeitig mit dem zweiten Teile von O. Beckers Einkreisung Deutschlands gearbeitet, aber erst erheblich später erschienen und darum weniger beachtet, als die Leistung an sich verdient hätte. In ihrer Kritik an der Preisgabe des russischen Drahtes deckt sie sich weitgehend mit den Ergebnissen Beckers und zeigt so, wie auch für die ersten Jahre des Neuen Kurses sich allmählich eine gewisse Festigung des historischen Urteils anzubahnen beginnt. Wo sie im Einzelnen von dem umfassenderen Vorgänger abweicht, so in der wohlabgewogenen Würdigung des Helgolandvertrages, ist sie durchaus selbständiger Beachtung wert. -- Der Referent hat im Deutschen Biographischen Jahrbuch versucht, die Erscheinung Philipp Eulenburgs ( 1080) durch eine Skizze seines Lebenslaufes psychologisch verständlich zu machen, indem er sich bemüht, das politische Versagen dieser schwachen Natur aus der Gesamtheit seiner persönlichen Entwicklung zu erklären.

Die Anfänge des deutschen Flottenbaues hat zwei mehr im Thema, als in der Fragestellung sich berührende Arbeiten beschäftigt. Eckart Kehr ( 1085) hat in einer geistvollen Studie die verfassungspolitischen und soziologischen Hintergründe des Tirpitzschen Flottenbaues aufzuzeigen gesucht. Mit starker, von Übertreibung nicht freier Zuspitzung geht er von der autonomen Abgeschlossenheit der Wehrmacht im Verfassungsbaue des Bismarckreiches aus, dessen bedeutsamste innere Spannung er in der Losgelöstheit der Armee von der politischen Leitung erblickt. Er legt dar, wie die Tirpitzsche Flotte, ursprünglich aus rein militärisch-strategischen Gesichtspunkten erwachsen, die Durchführung ihres Baues einer immer engeren Zusammenarbeit zwischen ihrem Schöpfer und dem Reichstage verdankt. Während durch diesen Prozeß die Flotte der Überwindung jenes militärisch-politischen Dualismus vorgearbeitet habe, ist sie jedoch nach Kehr im Dualismus der bürgerlich-kapitalistischen


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gegen die sozialistisch-proletarischen Interessen Teil und Instrument der bürgerlichen Klassenpolitik geblieben, was zum mindesten nach der Seite der objektiven Bedeutung der Flotte als Schutz des wirtschaftlichen Gesamtinteresses der Nation recht anfechtbar erscheint. Die anregende Arbeit kann jedenfalls nur mit steter Rücksicht darauf benutzt werden, daß sie mehr ein Beitrag zur innenpolitischen Auswirkung des Flottenbaues ist, als ein Versuch, seine Bedeutung aus den zentralen außenpolitischen Machtmotiven ihres Entstehens zu erklären. -- Die Genesis der Tirpitzschen Flottenbaupläne bis zur Jahrhundertwende behandelt unter Benutzung neuen Quellenmaterials Hans Hallmann ( 1086). An die Widerlegung der Thimmeschen These, daß Tirpitz die Krise der Krügerdepesche habe benutzen wollen, um sie unmittelbar dem Beginn eines uferlosen Schlachtflottenbaues dienstbar zu machen, knüpft er nach Materialien des Reichsmarinearchivs die Entstehungsgeschichte der Tirpitzschen Pläne seit 1891. Das Ergebnis geht dahin, daß der Gedanke der Flottenerweiterung ursprünglich ganz bestimmt ist von den Aufgaben des Zweifrontenkrieges gegen Frankreich und Rußland. Erst ganz allmählich -- zuerst in der Denkschrift vom 3. Januar 1896 -- taucht in sehr bescheidener Form der spätere gegen England gewendete Risikogedanke auf, der aber zunächst noch ganz neben, nicht über den strategischen Notwendigkeiten des Zweifrontenkrieges steht. Ein Anhang bringt wertvolles Quellenmaterial auch über die Stellungnahme Bismarcks zu den anfänglichen Flottenplänen des Staatssekretärs. -- Mit der Arbeit Kehrs berührt sich mannigfach, obwohl an Feinheit und Abgewogenheit der Durchführung stark zurückstehend, ein Aufsatz des Verfassers der »Tragödie Deutschlands von einem Deutschen«, F. C. Endres' ( 1120). Er untersucht soziologische Struktur und Ideologien des deutschen Offizierkorps vor dem Weltkriege und kritisiert die durch betont militärisches Sonderethos und strenge Standesgesinnung bewirkte kastenmäßige Abgeschlossenheit des alten kaiserlichen Offiziers, dem sich die bürgerliche Welt allzu geschmeidig angepaßt habe. Isolierung und Weltfremdheit des alten Offizierkorps sind stark unterstrichen, das Heer als ausschließlich dynastisches Machtinstrument gewertet. Beachtenswert sind statistische Zusammenstellungen über das Zahlenverhältnis und die Verteilung von bürgerlichen und adligen Offizieren.

Fritz Hartung hat in Band III des Biographischen Jahrbuches einen Nekrolog Bethmann-Hollwegs ( 1102) gegeben, der seine Gesamtbedeutung mit kritischem, aber vorsichtigem Urteil umfassend festzustellen sucht. So sehr die wachsende Schwierigkeit seiner Aufgabe betont wird, kommt Hartung doch zu dem Ergebnis, daß diese Hamletnatur, der seit Beginn ihrer politischen Laufbahn die Fähigkeit zu entschiedenem Wollen und Handeln abging, weder innenpolitisch, noch außenpolitisch jemals vermochte, Erkenntnis in Tat umzusetzen. Friedenspolitik Bethmann-Hollwegs vor 1914, wie seine Rolle im Kriege lassen doch immer wieder erkennen, daß Bethmanns grüblerische Natur ihm als leitendem Staatsmann vor großen Entscheidungen regelmäßig die Kraft des Entschlusses raubte. Er schließt mit dem Ergebnis, daß der Mann, der den Ausbruch des Krieges nicht hatte verhindern können, auch unmöglich die Kraft besessen habe, ihn glücklich zu beenden. -- Dieses Ergebnis wird bestätigt an einer Einzelepisode durch die Untersuchung, die Erwin Schenk ( 1110) dem Fall Zabern gewidmet hat. Die wertvolle Schrift kann keine neuen ungedruckten Dokumente beibringen, da die Akten der Reichskanzlei dem Verfasser unzugänglich


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blieben. Umfassende Ausnutzung von Presse und gedrucktem Material erwecken jedoch den Eindruck, daß die sorgsame Arbeit weitgehend gesicherte Ergebnisse festgestellt hat. Sie macht das bisher bekannte trübe Bild der Geschehnisse nicht lichter: Die Unbegreiflichkeiten Deimlings, die Ungeschicktheit der elsässischen und der Reichsregierung, die instinktlose Nervosität des Reichstages bleiben als Ursachen des verhängnisvollen Eindrucks im Auslande bestehen. Aber das maßvolle Urteil Schenks, der sich vor ungebührlichen Generalisationen zu hüten weiß, verhindert doch eine Überschätzung der endgültigen Tragweite des Konfliktes, der einen augenblicklich schweren, ohne den Ausbruch des Weltkrieges aber nicht entscheidenden Rückschlag in der Verschmelzung des Reichslandes mit dem übrigen Deutschland bedeutete.

Die Geschichte der europäischen Politik seit der Jahrhundertwende hat im Unterschied zur inneren Entwicklung Deutschlands ein Ereignis aufzuweisen, das eine neue Phase der Forschung eröffnet. Die Publikation der englischen Dokumente über die Ursprünge des Weltkrieges brachte im Jahre 1927 das Erscheinen der beiden ersten Bände ( 1087), die vom Ende der englischen Isolierungspolitik bis zum Abschlusse der Entente Cordiale führten. Diese Arbeit von G. P. Gooch und Harald Temperley konnte sich in ihrer Anlage die Erfahrungen der großen deutschen Aktenpublikation zunutze machen. Sie hat nicht nur, wie selbstverständlich, das von französischer Seite gelegentlich angegriffene Auswahlprinzip beibehalten, sondern auch die Verbindung sachlicher und chronologischer Gliederung, nur daß eine zu weitgehende Unterteilung glücklich vermieden ist, die in den späteren Teilen des deutschen Werkes bei wachsender Stoffülle gelegentlich aus der einmal feststehenden Anlage entspringen mußte. An Umfang gegen die deutschen Parallelbände zurückstehend, ist die englische Edition bei der geschäftsmäßig gedrängteren englischen Aktensprache doch überaus inhaltreich. Auch heute ist mit ihrer Auswertung erst ein bescheidener Anfang gemacht worden. Das Problem, dessen Beantwortung die deutsche Forschung zunächst und natürlich von ihr erhoffte, war die Frage der deutsch-englischen Bündnisverhandlungen um die Jahrhundertwende. Es war von Fr. Meinecke ( 1082) unmittelbar vor dem Erscheinen der englischen Dokumente in einer überaus feinsinnigen und eindringlichen Monographie behandelt worden, die den ganzen Gang der deutschen Diplomatie seit 1894 in ihren Bereich zog. Meinecke, der bewußt die Gefahr einer Behandlung des Problems mit nur deutscher Quellengrundlage als Notwendigkeit vorläufigen Erkenntniswillens auf sich genommen hatte, war auf dieser Basis noch einmal zu einer Bejahung der Möglichkeit und Wünschbarkeit dieses Bündnisses gekommen, während er eine tiefergehende und bleibende deutsch-russische Wiederannäherung -- auch um den Preis einer Aufgabe Österreichs -- für unmöglich hielt. Seine Schrift hat auch heute noch ihren methodischen Wert voll behalten, indem sie darlegt, wie dieser Standpunkt bei dem damaligen Stand des Quellenwissens vorsichtig und energisch zugleich begründet werden konnte. Unsere heutige Kenntnis lehrt freilich, daß er sich dabei in letzter Linie davon abhängig machen mußte, ob die deutschen Vertreter in London die englische Politik zuverlässig beurteilten. Die englischen Dokumente haben für das Jahr 1901, in dem die entscheidenden Verhandlungen von Eckardstein geführt wurden, die Unhaltbarkeit dieser Basis für das abschließende Stadium der Frage schneidend gezeigt. Sie enthüllten, wie inzwischen


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R. Fester und G. Ritter ausführten, daß England 1901 nicht mehr gewillt war, den von Deutschland zu fordernden Mindestpreis eines Bündnisses, die Deckung der Reichslande gegen Frankreich, zu zahlen, da sich die Lage Deutschlands seit dem Abgange Bismarcks ständig verschlechtert, seine werbende Bündniskraft in gleichem Maße vermindert hatte. Seitdem hat nun Meinecke in der Delbrückfestschrift, unterstützt neuerdings von O. Becker in einer eingehenden Besprechung der Deutschen Literaturzeitung (1928, Sp. 903 ff.), betont, daß mit der Hinfälligkeit der englischen Werbung von 1901 das Problem als Ganzes noch nicht erledigt sei. Beide sind der Ansicht, daß, wenn nicht Bündnismöglichkeit, so doch weitgehende und für die Zukunft ausbaufähige Ententemöglichkeiten über wichtige Einzelfragen vorhanden gewesen seien. Weiter enthalten die englischen Akten, die für die Salisburyperiode nach dem eigenen Hinweise der Herausgeber außerordentlich lückenhaft sind, noch kein Material über die Chamberlainsche Sondierung von 1898. Das letzte Wort wird über sie erst gesprochen werden können, wenn seine persönlichen Papiere der Forschung zugänglich geworden sind. Erst dann wird sich entscheiden lassen, ob in ihnen nur ein Zwischenspiel oder die Möglichkeit einer ernsthaften Neuorientierung vorlag. Vorläufig beleuchten die englischen Dokumente die Lage der Jahre 1898/99 für die Frage der deutsch-englischen Beziehungen nur einigermaßen peripher. Was sie über die deutsch-englischen Kolonialverhandlungen in der Frage der portugiesischen Kolonien und Samoas bringen, zeigt jedoch einen Grad der Verstimmung und Abneigung gegen die im Kleinen zähen und ungeduldigen deutschen Ansprüche auf den Platz an der Sonne, der kaum auf eine verständnisbereite Atmosphäre bei Salisbury und der Mehrheit seiner Kabinettskollegen schließen läßt. Man wird zur Lösung der Frage auch aufmerksam denjenigen Teilen der englischen Dokumente nachgehen müssen, welche die Beziehungen Englands zu Rußland und Frankreich behandeln, so dem Eingangskapitel mit dem russischen Ententefühler Salisbury's Anfang 1898, weiter der Vorgeschichte und Geschichte der Faschodakrise, in der Delcassé bereits offen für den Gedanken der späteren Entente Cordiale zu werben sucht, um die Zurückhaltung des englischen Premiers gegen die letzte Eckardsteinsche Werbung von 1901 voll zu verstehen. Die Frage wird so die Forschung voraussichtlich noch auf lange Zeit beschäftigen. Trotz der von den englischen Herausgebern selbst angegebenen Lücken des Materiales läßt sich aber schon feststellen, daß ihre Arbeit die im Foreign Office erreichbaren Dokumente ebenso wie in den früheren Bänden über die Julikrise von 1914 rückhaltlos der Forschung unterbreitet hat und ihr damit Fortschritte von entscheidender Bedeutung möglich machen wird.

Eine starke Enttäuschung bedeutet dagegen der Abschlußband des Werkes von Lee über Eduard VII. ( 1088), der die Regierungszeit des Königs von 1901 bis 1910 behandelt. Man wird zwar gut tun, die breite Schilderung des Zeremonials, der gesellschaftlichen und innenpolitischen Seite seiner Herrschertätigkeit nicht allzu kurzweg als unbedeutend und überflüssig hinzustellen. Bei allem Übermaß des Äußerlichen geben diese Teile als Ganzes doch ein beachtenswertes Bild von der Stellung des englischen Königtums um die Jahrhundertwende und führen in ihren letzten Teilen, wenn auch mit offiziöser Zurückhaltung, in die Anfänge jener friedlichen demokratischen Umwälzung ein, die Eduard VII. nur notgedrungen sich vollziehen ließ und die in seinen letzten


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Regierungsjahren ihre entscheidenden, im Weltkriege nur noch abgeschlossenen Siege erfocht. Die Hauptfrage, die seine Regierung der politischen Geschichte des europäischen Staatensystems stellt, bleibt aber bei Lee unbeantwortet, die Frage nach Maß und Bedeutung des Einflusses, den der König auf die englische Außenpolitik ausgeübt hat. Das vertrauliche dokumentarische Material dieses Bandes bleibt an Umfang und Bedeutung weit hinter dem seines Vorgängers zurück. Die deutsche Aktenpublikation ist fast häufiger zitiert, als neue Beiträge aus den Papieren des Königs gegeben werden. Die Frage bleibt offen, ob hier das Brandopfer eingegriffen hat, das der Privatsekretär Eduards VII., Sir F. Knollys, unter seinen Papieren veranstaltet hat, oder ob diese Lage der Elastizität seiner in diskreten persönlichen Formen gehaltenen Einwirkung zuzuschreiben ist. Denn mit der unbestrittenen These, daß Eduard VII. stets in den Grenzen konstitutioneller Korrektheit geblieben ist, wird natürlich das Problem seiner historischen Bedeutung nicht gelöst, die auch bei Lee -- so in der Vorbereitung der Entente Cordiale mit Frankreich und in der relativ eingehend behandelten Pflege der russischen Beziehungen durch den König -- wenigstens nicht ganz verschwindet. Der letzte Schleier über dem Verhältnis des Königs zu den bis 1914 maßgebenden Persönlichkeiten des Foreign Office, Männern wie Hardinge und Nicolson, läßt sich auf Grund der Materialien Lees nicht beantworten. Und da auch die englischen Dokumente nur seltene und lakonische Randbemerkungen des Königs bringen, erscheint es zweifelhaft, ob sein persönlicher Anteil an der Gestaltung der englischen Politik sich je scharf wird besimmen lassen. -- Nahezu ganz wertlos sind die persönlichen Erinnerungen an Eduard VII., die Eckardstein ( 1095) in Ergänzung seiner Memoiren hat erscheinen lassen. Sie bleiben im Bereich von Anekdoten aus dem persönlichen Leben des Königs, das bei Lee eine eingehendere und zuverlässigere Darstellung erhalten hat. Vielfach erscheint das Buch nur als Dublette der großen englischen Biographie. Lose angefügte Kapitel mit buntem Inhalt, so über Kiderlen- Wächter und Holstein, dem wieder einmal der Vorwurf politischer Bankspekulationen gemacht wird, stehen ebenfalls unter der Signatur der anekdotischen Erinnerung, die bei einem nachweislich unzuverlässigen Autor wie Eckardstein keinen Boden für das historische Urteil abgeben kann.

Sehr rege und reich an Einzelpublikationen ist wieder diejenige Forschung, die sich auf einem unmittelbar in die Vorgeschichte des Weltkrieges hineinführenden Boden bewegt. Der französische Sozialist G. Michon hat eine Geschichte der russisch-französischen Allianz von 1891--1917 ( 1083) geschrieben. Sie bringt kein neues Material bei, sondern beruht auf dem französischen Gelbbuch von 1918 und den bekannten russischen Dokumenten. Bei entschiedener, stark politisch gefärbter Kritik an dem unnatürlichen Zusammengehen von Republik und Selbstherrschertum, das die notwendige Umwälzung in Rußland durch französische Schuld verzögert und Frankreich in den Weltkrieg verwickelt habe, hält sich der von wärmster Bewunderung für Jaurès erfüllte Verfasser doch übertreibender Schärfe des Urteils fern, sobald man ihm nur das Recht auf seinen prinzipiell die Allianz bekämpfenden Urteilsboden zubilligt. Er betont die allmähliche Verschiebung der ursprünglich defensiven Allianz zum politisch offensiven Werkzeug der verbündeten Mächte, die durch Delcassé 1899 und Poincaré 1912 bewirkt sei, gesteht aber dem letzteren zu, daß er in weitem Maße durch die Hypnose getrieben worden sei, die Allianz mit Rußland um jeden


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Preis aufrecht erhalten zu müssen. Eine starke Schwäche des Buches liegt darin, daß es den Kreis seines Themas eng von ausschließlich französischem, stark innenpolitisch bedingtem Gesichtspunkt auffaßt und darauf verzichtet, die Entwicklung der Allianz auf wirklich europäischen Hintergrund zu stellen. Die sehr eingehenden Darlegungen über die Stellung der öffentlichen Meinung in Frankreich zum Zweibund sind erfüllt von sozialistischer Kritik an der bis zu den Radikalen reichenden Revanchelust der bürgerlichen Parteien. Sie enthalten aber wertvolle Hinweise für den Forscher, solange dies wichtige Problem nicht zum Gegenstand eingehender selbständiger Untersuchungen gemacht ist. -- Eine Enttäuschung bedeutet dagegen das neue Buch des Amerikaners Robert Owen über die Kaiserlich-Russische Verschwörung ( 1084). Es wiederholt die frühere Anklage des Senators, daß die Verantwortlichkeit für den Weltkrieg zu Lasten Rußlands und des poincaristischen Frankreich zu schreiben sei, schwächt aber das Berechtigte dieser Anschauung durch nuancenlose Verallgemeinerungen, die schon der Militärkonvention von 1894 aggressive Zwecke unterschieben möchten und darin weit über die z. B. von O. Becker vertretene deutsche Auffassung hinausgehen. Der Kreis der herangezogenen Quellen ist für die Jahre unmittelbar vor 1914 sehr eng begrenzt. Bei aller achtungswerten ethischen Wärme der Owenschen Schrift, die das Gewissen Amerikas wegen seines Anteils an Feststellung von Schuldanklage und Versailler Diktat mit feurigem Eifer zu wecken sucht, läßt sich doch nicht verhehlen, daß ihre wissenschaftliche Begründung nicht auf der Höhe der Werke von Barnes und Sidney B. Fay steht.

Das umfangreichste Werk über die weiteren Ursprünge des Weltkrieges sind im Berichtsjahre die »Origini economiche e diplomatiche della guerra mondiale« des Italieners Lumbroso gewesen ( 1111), deren erster Band 1927 in Mailand erschienen ist. Die Kritik befindet sich ihm gegenüber in eigentümlicher Lage. Es ist unverkennbar, daß hier eine originelle, bedeutsame Leistung von großer, einheitlicher Anlage vorliegt. Ihr grundlegender Gedanke, die Ablehnung einer Forschung, die über den letzten Vorgängen im Juli 1914 die tieferen Wurzeln des Weltkrieges zurücktreten läßt, kann nur als berechtigte Warnung und wirklich geschichtlichem Denken entsprechend empfunden werden. Problematischer erscheint schon der Vorrang, den Lumbroso unter den Ursachen des Weltkrieges der wirtschaftlichen Konkurrenz der großen Mächte zuschreibt. Indessen ist zu beachten, daß er gerade die unlösliche Verflechtung wirtschaftlichen und politischen Expansionsdranges unter modernen Voraussetzungen zu Grunde legt, ein Zusammenhang, den die herrschende deutsche Auffassung über dem Bestreben nach scharfer Trennung der Ursachenreihen und gebannt durch das Problem der Beziehungen zwischen deutschem Flottenbau, wirtschaftlicher Konkurrenz mit England und englischer politischer Gegnerschaft gegen Deutschland heute allzu leicht zu nehmen geneigt ist. In der Durchführung seiner These, daß England als die ausschlaggebende Macht in der Konstellation von 1914 über das Schicksal des Kontinentes entschieden und zur Erhaltung seiner maritimen Hegemoniestellung die Entfesselung des Weltkrieges veranlaßt oder mindestens bewußt zugelassen habe, wird jedoch Lumbroso dadurch gehemmt, daß ihm bei der Niederschrift dieses ersten Bandes die englischen Dokumente für den Juli 1914 erst im letzten Augenblicke zugänglich wurden, die für die Jahre vor 1914 noch heute fehlen. An sich beachtenswerte Gedanken sind daher vielfach


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mit unzulänglichem Material belegt. Die doch sekundären belgischen Akten sind sehr stark benutzt worden. Sie sind am Platze in dem großen Kapitel, das die allgemeine Erwartung eines großen europäischen Krieges beweist und damit zwingend die Ententebehauptung vernichtet, daß der Krieg als Überfall Deutschlands sie unerwartet überrascht habe. Aber gerade für die Lumbroso grundlegend fesselnde Frage nach dem Anteil Englands an der Zuspitzung der europäischen Gegensätze, die im Juli 1914 nach ihm nur zur zwangsmäßigen Entladung führte, fehlten ihm die entscheidenden quellenmäßigen Grundlagen. Die deutsche Forschung kann es als Erfolg feststellen, daß auch bei diesem originellen und mutigen Italiener, dessen Werk überall lebendige Auseinandersetzung mit den großen politischen Fragen der Gegenwart anstrebt, die These von der Alleinschuld Deutschlands am Weltkriege vollständig zerrieben ist. Auch Lumbroso lehnt im wesentlichen die Verteidigung Poincarés gegen die Belastungen der Iswolski-Papiere ab. Er teilt den deutschen Standpunkt, wenn er den entscheidenden Punkt der Julikrise in der russischen Mobilmachung erblickt. In der Grundthese des Verfassers kann sie heute nur erst eine Anregung zur Beachtung von Gesichtspunkten erblicken, denen zur Zeit wenig Neigung in ihren eigenen Reihen entgegenkommt und die ihre endgültige Klärung erst erfahren können, wenn die Dokumente zur Erkenntnis der englischen Politik von der Jahrhundertwende bis 1914 in geschlossener Reihe vorliegen und ergänzt sind durch eingehende Studien über die Entwicklung der öffentlichen Meinung Englands im gleichen Zeitraum und ihrer Bedeutung für den Gang der Regierungspolitik.

Eine ganze Reihe von Abhandlungen, besonders des Auslandes, ist den ersten Jahren der Entente Cordiale und der Marokkokrise von 1904--1906 gewidmet. In der Revue d'hist. de la guerre mondiale untersucht der Holländer I. B. Manger ( 1090) die Frage, ob die englische Ententepolitik mit einer wirklichen Einkreisungsabsicht gegen Deutschland verbunden war. Er erklärt die allmähliche Verhärtung der Entente aus den Bedürfnissen der englischen Gleichgewichtspolitik, die in den Militärverabredungen mit Frankreich einen Ausgleich für die Schwächung Rußlands durch den japanischen Krieg, in den späteren Marinekonventionen für das Anwachsen der deutschen Flotte habe schaffen müssen. Stark unter dem Eindruck der Greyschen Erinnerungen stehend, betont er, daß dieser sich bis zuletzt die Freiheit der politischen Entscheidung gewahrt habe. Der abschließende Vergleich dieses englischen Ententesystems mit der Politik des späten Bismarck hebt jedoch schon hervor, daß es Grey unterlassen habe, durch Rückversicherung im Gegenlager mit Deutschland eine ähnliche Friedenssicherung herzustellen, wie der deutsche Kanzler sie bei Rußland geschaffen hatte. Die eben erschienene nähere Ausführung dieses Gedankens in der Brugmansfestschrift aus der Feder des gleichen Verfassers zeigt, daß auch sein Urteil seit dem Erscheinen der englischen Dokumente für 1914 sich wesentlich fortgebildet hat. -- Aus den Erinnerungen eines russischen Diplomaten, des Barons Taube, konnte die Monde slave zwei interessante Teilabschnitte bringen. Der erste Aufsatz behandelt die Doggerbankaffaire ( 1091). Taube, der als juristischer Vertreter Rußlands an den Arbeiten der internationalen Schiedsgerichtskommission beteiligt war, zeigt in Erinnerungen, die an anziehenden Einzelheiten reich sind, wie diese dornige Angelegenheit für Rußland verhältnismäßig glimpflich erledigt werden konnte,


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weil es gleichzeitig von England und Deutschland politisch umworben wurde, eine Gunst der Lage, die von dem leitenden russischen Staatsmanne, dem Grafen Lamsdorff, voll erkannt worden war. -- Vom gleichen Verfasser und aus derselben Quelle stammt eine Abhandlung über den deutsch-russischen Geheimvertrag über die Nordsee und die Aalandsinselnfrage vom Oktober 1907 ( 1096). Taube ist der Ansicht, daß bei der Swinemünder Begegnung vom Sommer 1907 Iswolski einen Annäherungsversuch an Deutschland gemacht habe, den Berlin ausweichend behandelt hätte, weil es den Gegendruck Englands scheute. Er bringt diese Verhandlungen in engen Zusammenhang mit der gleichzeitigen Reisetätigkeit Eduards VII., den Begegnungen mit Wilhelm II. in Wilhelmshöhe, Kaiser Franz Josef in Ischl und Clémenceau in Marienbad. Anregend im Ganzen, lehrreich dadurch, wie ein damals aktiver russischer Diplomat die Bedeutung des englischen Königs einschätzt, sind die Konstruktionen des Verfassers doch der näheren Einzelprüfung bedürftig. -- Eine dritte Publikation der Monde Slave über den Vertrag von Bjoerkoe ( 1092) bringt nur die Übersetzung russischer Dokumente nach Band V, 5 ff. des Krasny-Archivs, die in Deutschland schon aus der Kriegsschuldfrage bekannt sind.

Der ganzen Entwicklung der deutschen Politik von 1904 bis 1906 gilt die Studie von Raymond I. Sonntag in der American Hist. Review ( 1093). Sie sucht den reichen Inhalt der deutschen Aktenpublikation eingehend auszuschöpfen und besonders die Verschiedenheiten in der politischen Haltung Wilhelms II., Bülows und Holsteins festzulegen. Dabei betont sie, daß die deutsche Marokkoaktion ebenso wie die Politik von Bjoerkoe, ihrem Grundgedanken nach defensiv, dem Bestreben entspringt, das drohende Netz feindlicher Bündnisse zu sprengen. Sein Verständnis für die ernste Lage Deutschlands schreckt nicht vor der Folgerung zurück, daß Holsteins Neigung, selbst einem Kriege mit Frankreich nicht auszuweichen, in ihrem tiefen Pessimismus den Gefahren der deutschen Zukunft prinzipiell besser entsprochen habe, als die friedliche Kompromißstimmung Wilhelms II. und Bülows, die weder die Kraft zum Präventivkriege, noch den Entschluß zu ernsthaftem Verzichten gefunden hätten. Der ehrliche Glaube der deutschen Staatslenker, nicht für eine Hegemonie, sondern die Sicherheit Deutschlands ringen zu müssen, ist ihm nach den Eindrücken der deutschen Aktenpublikation nicht mehr zweifelhaft. -- Eine der umstrittensten Einzelfragen der ersten Marokkokrise, die Frage, ob England auf ihrer Höhe ein präzisiertes Allianzangebot mit Zusicherung militärischer Hilfe an Frankreich gerichtet habe, untersuchte E. Brandenburg ( 1094) kritisch mit den Hilfsmitteln, die 1927 vor allem die Spendersche Biographie Campbell-Bannermanns zur Verfügung stellte. Er kam schon zu dem inzwischen durch die englischen Dokumente bestätigten Ergebnis, daß dies nicht der Fall gewesen sei, sondern P. Cambon die Zusicherung diplomatischer Rückendeckung und eventueller Geneigtheit zur Kriegshilfe in übertreibender Weise taktisch ausgenutzt habe. Man wird freilich noch immer warten müssen, bis die französischen Aussagen zu diesem kritischen Problem vorliegen, ehe eine letzte Sicherheit zu gewinnen ist.

Eine Reihe von Quellenbeiträgen und Arbeiten beziehen sich schließlich auf die diplomatischen Verwicklungen der letzten Vorkriegsjahre. Historisch wertlos war die zweibändige Ausgabe, die Fürst Lichnowsky ( 1117) von seinen Londoner Berichten und Erinnerungen veranstaltet hat. Fr. Thimme


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konnte an verschiedenen Stellen, vor allem im Archiv für Politik und Geschichte 1928, S. 22 ff. nachweisen, daß Berichte und Denkschriften, selbst die schon im Druck bekannte: »Meine Londoner Mission 1912--1914« von 1916 rücksichtslos und mit unglaublicher Naivität geändert waren, um überall den Prophetengeist ihres Urhebers in hellstem Lichte erstrahlen zu lassen. Die unbegreifliche Einfalt, mit der diese Ausgabe nach dem Erscheinen der deutschen Dokumente ins Werk gesetzt wurde, war zu stark, als daß eine ernsthafte Unsicherheit des Urteils hätte eintreten können. Sie wird nur als Teilcharakteristik ihres Urhebers eine gewisse Aufmerksamkeit des späteren Historikers zu beanspruchen haben, der sich mit dieser verhängnisvollen Persönlichkeit beschäftigen muß. -- Sehr enttäuschend sind die unter dem Titel: »Morgen, Mittag und Abend« ( 1118) bei Cotta erschienenen Erinnerungen eines deutschen Konsularvertreters, der im Laufe seiner Tätigkeit vor allem in Nordamerika, Südafrika und Niederländischindien gewirkt hat. Trotz literarisch glatter und anspruchsvoller Form ist der historische Inhalt mager; gelegentliche Streiflichter zur Psychologie des diplomatischen Korps und zur politischen Mentalität der genannten Länder sind alles, was dem Buche zu entnehmen ist.

An dem Gebrechen der Farblosigkeit, wenn auch aus tieferen Gründen als in diesen beiden Fällen, leiden auch die Erinnerungen Sasonows ( 1100 bis 1101), die 1927 zuerst in einem Teildruck der Revue des deux Mondes, dann als selbständiges Buch erschienen sind. Der russische Außenminister, der für den Juli 1914 von der Kriegsschuldforschung in wachsendem Maße belastet ist, gibt zwar eine ausführlich angelegte Verteidigung seiner Amtsführung, ist aber schon durch die vernichtende Kritik von Stieve und Montgelas ( 1142) in gehäuften Einzelheiten widerlegt, sein Buch im Ganzen der ausweichenden Inhaltlosigkeit überführt worden. Als historische Quelle neben den Akten bedeutungslos, ist es wichtig in wenigen Abschnitten, in denen der Schriftsteller Sasonow ungewollt seine psychologische Einstellung enthüllt. So tritt hier klar hervor, daß er die Bindung an Frankreich und England als Grenze jedes Entgegenkommens gegen Deutschland betrachtete und daß er in wachsendem Maße von der unvermeidlichen Notwendigkeit eines deutsch-russischen Krieges überzeugt war. Am wirkungsvollsten und charakteristischsten zeigt das die Darstellung seines rumänischen Besuches im Frühjahr 1914, über den bisher wenig bekannt war. Sasonow erzählt jetzt selbst, wie er den Premierminister Bratianu durch die Aussicht auf den Erwerb des österreichischen Siebenbürgen in das russische Lager zu ziehen bemüht war. Obwohl er an manchen Stellen des Buches von haltlos gewordenen Anklagen der groben Kriegsschuldthese loszukommen sucht, bewegt sich die Darstellung der Julikrise im wesentlichen doch in altgewohnten Gleisen und sucht die schicksalentscheidende Bedeutung der russischen Mobilmachung abzustreiten.

Anscheinend in Zusammenhang mit jenem anonymen Aufsatz der Revue des deux Mondes, der im Vorjahre, offenbar von Barrère inspiriert, die Julitage von 1914 behandelte, steht ein neuer Aufsatz memoirenartigen Charakters in der gleichen Zeitschrift über die deutsch-italienischen Beziehungen von 1909--1914 ( 1105). Seine Bedeutung ist jedoch sehr viel geringer. Der Aufmerksamkeit wert erscheinen einige Stellen über die Politik Tittonis und sein Verhältnis zu den Dreibundgenossen während der bosnischen Annexionskrise, sowie angebliche Enthüllungen Luzzatis, die den österreichisch-italienischen Grenzzwischenfall


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über die Cime Dodici betreffen. -- Verwandten Charakter trägt die Abhandlung der gleichen Revue über das Ende der Botschaft in Berlin ( 1108). Sie bringt für die Jahre 1912--1914 Andeutungen aus der Berichterstattung J. Cambons, die inhaltlich aber nicht über das Material der Poincarémemoiren hinausgehen. Sie zeigen, wie der Botschafter angeblich von wachsender Furcht vor aggressiven Absichten Deutschlands erfüllt war und rollen schließlich in sattsam bekannter Weise wieder die Episode des belgischen Königsbesuches im Herbst 1913 auf. -- Den Stand der deutsch-italienischen Militärverabredungen vor 1914 hat Wolfgang Foerster in einer eingehend dokumentierten Abhandlung der »Kriegsschuldfrage« ( 1114) untersucht. Sie zeigt die wachsende Bereitschaft Pollios zur Entsendung starker italienischer Kräfte an den Rhein, die auch Cadorna für den Fall der Bundeshilfe im Ausmaß der italienischen Leistungsfähigkeit zunächst für geboten erklärte. Interessant ist, daß die militärisch immer bedrohtere Lage der Zentralmächte auch dem ersteren italienischen Generalstabschef den Wunsch eines Präventivkrieges nahegelegt und Pollio in diesem Sinne eine verneinend beantwortete Anfrage an Moltke gerichtet hat. -- Eine übersichtliche Zusammenstellung der gesamten militärischen Verabredungen im Ententelager hat in der »Kriegsschuldfrage« E. Kabisch ( 1113) gegeben.

Die letzte europäische Krise vor dem Ausbruch des Weltkrieges, die Liman- Sanders-Mission, hat in der Slavonic Review Robert I. Kerner ( 1109) behandelt. Er schwankt zwischen dem Zugeständnis, daß die Kräftigung der Anlehnung suchenden Türkei ein berechtigter Wunsch deutscher Politik gewesen sei, und dem Vorwurf, ihr Vorgehen habe Rußland, das nach dem Besitz der Meerengen drängte, gründlich provoziert. Im übrigen bietet diese sehr eingehende Studie, die auch der Sonderhaltung Englands im Kreise seiner Ententegenossen gerecht wird, eine gut gearbeitete, solide Darstellung des Verlaufes der Krise.

Für die Kenntnis der Türkei und der Balkanprobleme vor dem Kriege sind schließlich überaus aufschlußreich die Erinnerungen des Österreichers Baron Wladimir Giesl ( 1107). Von 1893--1909 Militärattaché in Konstantinopel, daneben zugleich in Athen und Sofia beglaubigt, 1909--1913 Gesandter in Cetinje, 1913 und 1914 in Belgrad ist Giesl eine temperamentvolle Persönlichkeit, die, mit Land und Leuten eng vertraut, sehr wesentliche Aufschlüsse zu geben hat. Eine anschauliche Schilderung der alten Türkei unter Abdul Hamid, wichtig als Kontrolle der gleich energisch subjektiven Berichte Marschalls, eröffnet das Buch. Im Laufe der langen Dienstzeit in Konstantinopel finden alle Phasen in der Entwicklung der Türkei: Kretaaufstand und griechischer Krieg (1897), Armenierunruhen und mazedonische Reform anziehende Behandlung. Am wichtigsten sind die späteren Kapitel, in denen er vor und nach dem Balkankriege von 1912/13 zuerst die völlige Abhängigkeit Montenegros von Rußland behandelt, schließlich seine kurze Tätigkeit in Belgrad darstellt. Die Erinnerungen aus der Julikrise 1914 sind als Ergänzung seiner schon bekannten Berichte wichtig durch die Verteidigung des Verfassers gegen mancherlei Vorwürfe, wie sie besonders H. Kanner gegen ihn erhoben hat.


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