a. und b) Bibliographie und Quellenkunde. Kriegsschuldfrage und Kriegsausbruch.

Das Jahr 1927 brachte zwischen dem Erscheinen der großen zusammenfassenden Werke von Barnes und S. B. Fay in breiter Ebene die Fortsetzung der Fäden, die in der Diskussion über Kriegsentstehung und Kriegsschuldfrage angesponnen waren, ohne daß einzelne literarische Erscheinungen sich beherrschend aus der Fülle der Produktion herausgehoben hätten. Ein ausgezeichneter kritischer Überblick über die Literatur seit 1918 wurde von G. P. Gooch ( 1121) gegeben, indem er vom Standpunkte seines sehr vorsichtigen Revisionismus aus in suveräner Beherrschung des riesigen Stoffes die wichtigsten Quellenerscheinungen und Bearbeitungen, erstere stärker wie diese berücksichtigend, analysierte. Bei aller Knappheit ließ er doch den eigenen Standpunkt mit genügender Deutlichkeit durchblicken, der für die englische Seite der Kriegsschuldfrage sehr stark den Thesen Greys angenähert ist, ja selbst in Asquiths farblosem Buche noch den ausgeprägt englischen Charakter anerkennend betont. Eine Stellungnahme zu der meist umstrittenen Frage jenes Jahres, dem Problem der Tragweite des Poincaréschen Verteidigungsversuches in seinem »Au Service de la France«, geht er mit der zurückhaltenden Bemerkung aus dem Wege, daß die Beurteilung dieser Bände davon abhänge, wie hoch der Historiker die Angaben des lebenden Selbstverteidigers gegen das Zeugnis des toten Iswolski einzuschätzen geneigt sei.

In dieser Frage hielt der Amerikaner H. E. Barnes entschieden die Stellungnahme seines Buches von 1926 fest, der in zahlreichen Aufsätzen (vgl. z. B. 1125) seine Skala der in absteigender Schwere geordneten Verantwortlichkeiten (Serbien, Rußland, Frankreich, Österreich, Deutschland, England) immer wieder polemisch verteidigte und mit unermüdlicher Frische und Zähigkeit durch neue Argumente stützte. Er hat auch in der »Évolution« ( 1124) nachdenklich die Frage nach Stärke und Aussichten der Revisionsbewegung in den verschiedenen Ländern erörtert und dabei mit einer Offenheit, die zu denken gibt, betont, wie schwer sie durch die mangelnde Interessiertheit weiter deutscher und österreichischer Volkskreise gehemmt wird, während in den ehemaligen Ententeländern im Ganzen doch nur einzelne Wahrheitssucher wirklich entschiedenen und aktiven Anteil an ihr nehmen, so daß die zu stellende Prognose keinen nahen äußeren Erfolg zu versprechen vermag.

Der erregte Vorstoß, den der Sammler und Herausgeber der englischen Akten über den Juli 1914, Headlam-Morley, in der Quarterly Review ( 1129) gegen die führenden Köpfe der revisionistischen Forschung unternommen hat, war wissenschaftlich ebenso ungenügend begründet wie seine Vorrede zu den englischen Dokumentenbänden. Er konnte von Graf Montgelas, dem eine Reihe haltloser Vorwürfe gemacht war, mit Leichtigkeit in der Kriegsschuldfrage ( 1129) zurückgewiesen werden. Interessant für den moralischen Druck, den die Schuldfragendiskussion immerhin ausübt, ist es, wenn Headlam-Morley die These zu begründen suchte, daß der Versailler Vertrag inhaltlich von der Haltbarkeit der ihm zugrunde gelegten Schuldanklage unabhängig sei. Es ist ein Standpunkt, der wie eine vorweggenommene Schutzmaßnahme gegen den neuerdings von Wegerer geführten, systematisch vernichtenden


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Angriff auf die leichtfertige Begründung und Formulierung der Versailler Schuldthese anmutet.

Die Auswertung der englischen Dokumente über die Julikrise erfolgte in Deutschland vornehmlich durch eine Reihe eingehender Besprechungen. E. Brandenburg, H. Delbrück, E. Kabisch, am eingehendsten Graf Montgelas in der Kriegsschuldfrage ( 1149--1151) stimmen bei mannigfacher Nuancierung im Einzelnen doch in dem Ergebnis überein, daß die Publikation dieser Akten die Aufstellungen der Greyschen Memoiren erledigt und sie zum psychologischen Material für die Erkenntnis ihres Urhebers herabgesetzt hat. Die Kernstücke der beiden Dokumentenbände, die vertraulichen Denkschriften aus der Arbeit des Foreign Office, haben den Charakter der englischen Politik als reiner Interessenpolitik, gemischt aus ängstlicher Sorge um die Erhaltung der Entente mit Rußland und einseitig gegen Deutschland gewendeter Auffassung des Gleichgewichtsgedankens, so endgültig klar gelegt, daß über die letzte grundlegende Einschätzung dieser Politik eine annähernde Übereinstimmung erzielt ist. Streitig bleibt ihre Verbindung mit den vorhergehenden Jahren, da diese späteren Schlußbände der englischen Aktenpublikation vorläufig noch einigermaßen in der Luft stehen. -- Eine Einzelfrage, in der der entschlossene Machtwille der englischen Politik am schärfsten, stark bedingt freilich durch die ungestüme Persönlichkeit Winston Churchills, sich widerspiegelt, hat Norbert Baumbach ( 1152) behandelt, der in der Kriegsschuldfrage vergleichend die Mobilmachung der englischen und der deutschen Flotte untersuchte.

Ungeschreckt durch jenes isolierte Dastehen der englischen Akten für 1914 hat Hermann Lutz in einem fleißigen und an belehrenden Einzelheiten reichen Buche ( 1153) versucht, schon jetzt die Politik Greys im Ganzen zu deuten. Zahlreiche Einzelwiderlegungen der Greyschen Memoiren im Dienste der Kriegsschulddiskussion, anziehende Berücksichtigung der sekundären englischen Literatur sind Verdienste der fleißigen Arbeit. Bedenklich ist die Stärke, mit der die individualpsychologische Beurteilung Greys in den Mittelpunkt gestellt wird. Die Mittel sympathischen Einfühlens in die persönliche Eigenart des englischen Staatssekretärs, bis an die Grenze ihrer Tragfähigkeit gespannt, sollen erhärten, daß im Falle Grey die Unschuld eines seiner Aufgabe nicht voll gewachsenen Staatsmannes von reinstem Wollen vorgelegen habe. Die Züge recht nüchternen Interessewillens, deren die Biographie Greys genügend aufweist, sind in bedenklicher Weise zurückgeschoben, die Abhängigkeit von seiner Selbstverteidigung doch wohl erheblich zu weit getrieben. Es bleibt gegen den psychologisch anziehenden Deutungsversuch Lutz' sehr fraglich, ob er nicht den Politiker Grey zu gering eingeschätzt hat, um möglichst viel von dem Menschen Grey, so wie er ihn sieht, zu retten. Sollte seine psychologische Deutung zutreffen, so wäre dies Bild auf jeden Fall erst noch durch eine Untersuchung der Gesamtkräfte und Tendenzen der englischen Diplomatie unter Grey zu ergänzen. Es wäre dann die Frage brennend, in welchem Verhältnis der Staatssekretär zu Mitarbeitern wie Eyre Crowe und Nicolson gestanden hat, ein Problem, in das uns die neuen Akten schon überaus lehrreich hineinblicken lassen, dessen Lösung aber einigermaßen umfassend erst nach Vollendung der englischen Publikation wird unternommen werden können.

Die eng mit der Beurteilung Greys verbundene Frage nach dem Einfluß.


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den das englische Parlament in neuerer Zeit bei dem Ausbruch von Kriegen tatsächlich ausgeübt hat, ist von dem Amerikaner Flournoy ( 1154) in einem nicht abschließenden, aber vielfach lehrreichen Buche behandelt worden. Er stellt eine im Laufe des 19. Jhds. wachsende Bedeutung des Parlamentes in den zu kriegerischem Zusammenstoß führenden Krisen fest, deren Darstellung für unseren Themenkreis durch die eingehende Behandlung der Vorgeschichte von Burenkrieg und Weltkrieg beachtenswert ist. Für letzteren sucht Flournoy freilich die Greysche These der freien Hand in möglichst weitgehenden Maße zu retten und betont, daß die Überrumpelung der englischen Liberalen weitgehend ausgeglichen werde durch die entschiedene Interventionsneigung der Unionisten, die dem Zuge der Greyschen Politik von parlamentarischer Seite entgegenkam. Wenn die Untersuchung dadurch die Bedeutung der antreibenden Persönlichkeiten im Regierungslager einigermaßen abschwächt, so bringt sie doch eine brauchbare, anregende Darstellung des Problems, die nur zu stark im Einzelfall stecken bleibt, um zu umfassenden Allgemeinergebnissen über das Verhältnis von Öffentlichkeit, Parlament und Regierung vorzudringen.

Eng verwandt ist mit diesem Buche seiner ganzen Einstellung nach die lebendige und anschauliche Arbeit von Jonathan French Scott ( 1155), die die öffentliche Meinung der verschiedenen europäischen Länder in ihrer Einstellung zu dem drohenden Kriegsausbruch während der Wochen vom Sarajewoer Attentate bis zum Hereinbrechen der Katastrophe verfolgt. Scott steht dem entschiedenen Revisionismus ablehnend gegenüber. Er verteidigt lebhaft Poincaré gegen die Kritik eines Barnes'. Die Auffassungen der Greyschen Erinnerungen scheinen ihm einer Rechtfertigung kaum bedürftig. Um so mehr ist es anzuerkennen, daß das Buch im engeren Kreise seines Themas vollste Objektivität wahrt. Während er in der österreichischen Presse wachsende Gereiztheit und Erbitterung gegen Serbien feststellt, die aber durch die Schwere der fortdauernden serbischen Provokation durchaus zutreffend erklärt wird, erkennt er den ganz überwiegenden Friedenswunsch der deutschen Öffentlichkeit mit rückhaltlosem Nachdruck an. Sehr reich mit Belegen versehen, auf einem ausgedehnten Zeitungsstudium beruhend, das auch die große Diskussion der englischen Presse in jenem Schicksalsmonat eingehend verfolgt hat, ist das Buch eine ausgezeichnete Zusammenfassung der Diskussion der europäischen Öffentlichkeit, das die schwere Frage nach dem gegenseitigen Einflußverhältnis zwischen Regierungen und öffentlicher Meinung der verschiedenen Länder taktvoll und mit kritischer Vorsicht zu beantworten sucht. Eine Lücke bleibt es, daß die Parteien und ihre Stellungnahme als solche nicht eigentlich einbezogen wurden. Die Wiedergabe der verschiedenen Pressestimmen kann so doch nicht genügend zu ihrem konkreten politischen Sinn und ihrer tatsächlichen Tragweite im einzelnen vordringen. Die Auswertung des hier gesammelten wertvollen Materials läßt daher an Energie zu wünschen übrig.

In Frankreich hat der Kampf mutiger Einzelpersönlichkeiten gegen die herrschende Anschauungsweise neuen Ausdruck gefunden in G. Demartials Buche: »L' Evangile du Quai d' Orsay« ( 1130), das die Materialien des französischen Gelbbuches von 1914 einer vernichtenden Kritik unterwirft und aus seinen Fälschungen besonders die Verstümmelung, Entstellung und Unterdrückung der Nachrichten über die russische Mobilmachung seziert. Er kommt weiter zur entschiedenen Ablehnung der Anschauung Renouvins, nach der die


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französische Regierung 1914 selbst von der Richtigkeit der Behauptung überzeugt gewesen sei, daß die österreichische Gesamtmobilmachung zeitlich der russischen vorausgegangen sei. -- Ebenso unerschrocken bekämpft in der »Évolution« General Percin ( 1131) die Behauptung von der Alleinschuld Deutschlands. Aus seinen bis 1871 zurückreichenden persönlichen Erinnerungen bringt er Hinweise auf die Stärke der latenten Revanchestimmung in den leitenden Kreisen der französischen Armee und Regierung. Sie beleuchten besonders grell die unversöhnliche Feindschaft Clémenceaus gegen jeden deutschen Annäherungsversuch selbst in der relativ friedlichen Periode nach der Jahrhundertwende. -- Auch der 4. Band der Poincaré-Memoiren ( 1185) hat den Kampfeseifer dieser kleinen Schar nicht zu brechen vermocht. Er war ganz in der Weise seiner Vorgänger angelegt, mit breiten ablenkenden Partien, die das Zeremonial des Präsidentenamtes und innere Konflikte wie den Calmette- und Humbertskandal breit darstellen, um die eifrig verfochtene Begrenztheit seiner Macht deutlich hervortreten zu lassen. Dornige Episoden, wie der Petersburger Besuch im Juli 1914, sind in technisch geschickter Weise behandelt, indem das Rankenwerk der Paléologue-Erinnerungen nicht allzu sehr beschnitten, ihr Kern dagegen, die Schilderung der kriegslustig erregten Stimmung, stillschweigend übergangen wird. Wie inzwischen vor allem von H. Delbrück betont wurde, scheut er freilich nicht vor direkter Fälschung zurück, so am stärksten bei dem Versuch, aus der Depesche Gelbbuch Nr. 111 eine Warnung vor Mobilmachung an Rußland zu machen, während sie tatsächlich eine Aufforderung enthielt, nicht Deutschland vorzeitig durch öffentlich festzustellende Maßnahmen einen Anlaß zu eigener Mobilmachung zu geben. August Bach hat ganz neuerdings (1929) in einer besonderen gediegenen Schrift, die die Gebrechlichkeit dieser Verteidigungsschrift absolut zwingend darlegt, die ganze Fülle seiner Einseitigkeiten und Entstellungen zusammengefaßt; man kann nur bedauern, daß er nicht auch die früheren Teile des Werkes in gleicher Weise in seine Kritik miteinbezogen hat, da in ihnen die für die Lösung des Gesamtproblems Poincaré eigentlich entscheidendem Fragen liegen, von denen aus auch die Bedeutung seines Verhaltens im Juli 1914 nach ihrer inneren Bedeutung abschließend beurteilt werden muß. -- Nicht mit der gleichen kritischen Ausführlichkeit wie Bach, aber schon mit derselben rücksichtslosen Wahrheitsliebe hat bereits Demartial in der »Évolution« von 1927 ( 1186) das Buch des französischen Präsidenten besprochen und sein Versagen als Verteidigung der Politik von 1914 festgestellt. -- Schließlich ist noch zu erwähnen, daß Renouvins Buch über die »Unmittelbaren Ursprünge des Krieges« in 2. verbesserter Auflage ( 1133) erschienen ist, die beachtet werden muß, weil diese scharfsinnige Verteidigung des französischen Standpunktes dem Ausland, so z. B. der Kritik S. B. Fays (American Historical Review 33, S. 897 f.) noch immer als die beste Zusammenfassung in allen Sprachen über die abschließende Julikrise von 1914 gilt. Die neue Auflage ist erweitert durch die Berücksichtigung der englischen Dokumente; sie nimmt auch stärker als bisher auf die serbische Vorgeschichte des Attentates von Sarajewo Rücksicht, ohne hierin jedoch den nach den Enthüllungen Jowanovitsch's berechtigten Ansprüchen wirklich zu genügen. Der frühere Charakter einer kritisch umsichtigen, aber im Kern entschiedenen Rechtfertigung der französischen Anklage gegen Deutschland ist dem Buche geblieben. Renouvin versucht, trotzdem gleichzeitig Buchanan

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die Tatsache der russischen Mobilmachung richtig nach London meldete, die irreführenden Telegramme des Gelbbuches über sie damit zu begründen, daß Paléologue von Sasonow mit Rücksicht auf Viviani getäuscht worden sei. Er hält daran fest, daß der österreichische Entschluß, mit deutscher Billigung Serbien zur Rechtfertigung zu ziehen, die diplomatische Provokation gewesen sei, die im Endergebnis notwendig die militärische der russischen Mobilmachung habe auslösen müssen. Hierin erblickt er die beherrschende Tatsache in den unmittelbaren Ursprüngen des Weltkrieges und baut darauf die überwiegende Belastung der Zentralmächte auf.

Eine ganz unabhängige, in Forschung und Sachverständnis sehr gediegene Untersuchung ist von neutraler Seite der Frage gewidmet worden, welchen Einfluß die verschiedenen Generalstäbe auf den Ausbruch des Weltkrieges, vor allem durch die Forderung und Durchsetzung der Mobilmachung, ausgeübt haben. Zwei hohe niederländische Offiziere, der ehemalige Oberbefehlshaber C. I. Snijders und der Lt.-General a. D. R. Dufour ( 1132) haben mit dieser Arbeit den wohl ertragreichsten Beitrag zur Kriegsschuldforschung des Jahres 1927 gegeben. Die militärischen Ereignisse sind von diesen beiden Soldaten doch stets in Verbindung mit der politischen Entwicklung und mit feinem Verständnis für das schwierige Verhältnis von Politik und Heeresleitung gesehen worden. Es war eine Forderung der Gerechtigkeit, daß hier endlich einmal volles Verständnis für die Bedeutung der spezifisch militärischen Denkweise und des eigenartigen militärischen Verantwortlichkeitsgefühls entwickelt wurde. Es bleiben Differenzen zwischen der hier dargelegten und der deutschen Auffassung. Beide sind skeptisch gegen den von W. Förster behaupteten hypothetischen Charakter der Schlieffenschen Entwürfe für einen eventuellen Durchmarsch auch durch Holland. Als Angehörige eines kleinen Staates, der im Weltkriege selbst um seine Neutralität besorgt war, bleibt ihre Verurteilung des Durchmarsches durch Belgien nach der moralischen Seite hin absolut. Aber während sie die politische Begründung der Conradschen Präventivkriegsforderung richtig hervorheben, können sie ohne Rückhalt feststellen, daß der deutsche Generalstab bis zuletzt rein defensiv eingestellt war und seine Mobilmachungsanträge, rein technisch beurteilt, eher zu spät als zu zeitig einsetzten. Auch das in den letzten Jahren viel umstrittene Problem der Moltkeschen Mobilmachungsmahnungen an Österreich ist mit Kritik und Vorsicht behandelt worden. Auf der anderen Seite betonen sie, daß die Arbeit der Ententegeneralstäbe in Rußland und Frankreich dem Geiste der Regierungspolitik entsprochen habe, während für England scharf hervorgehoben ist, daß die Churchillsche Flottenmobilmachung an Tragweite und Zeitpunkt den Maßnahmen aller anderen Mächte weit voraus geeilt sei. Das schwerlich angreifbare Ergebnis des Buches geht dahin, daß in der unmittelbaren Auslösung des Weltkrieges die militärischen Stellen im großen und ganzen sehr viel weniger Verantwortung tragen, als oft behauptet worden ist. Es war die Verlockung zum Mißbrauch durch eine rücksichtslose Machtpolitik der Regierungen, die den Rüstungsstand Europas im Jahre 1914 friedensgefährlich machte, nicht ein unzähmbarer militärischer Angriffsdrang; und die Verantwortung für den Gebrauch der Ultima Ratio liegt überwiegend im Bereich der verantwortlichen Politiker, nicht im fachmäßig militärischen Lager.

Die Frage, ob der jüngere Moltke wenigstens zeitweise ein Anhänger des


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Präventivkrieges gewesen ist oder nicht, hat in Deutschland den Gegenstand einer Polemik gebildet, die in der Kriegsschuldfrage zwischen Th. v. Schäfer und Herm. Lutz ( 1207/08) zum Austrag gekommen ist. Gegen gelegentliche Andeutungen Lutzs in seinem Greybuche, in denen er den Moltkeschen Brief an Conrad vom 21. I. 1909 und für 1914 den Bericht Wenningers vom 29. Juli als Beweismaterial für Präventivkriegsneigungen Moltkes auslegen möchte, hat Schäfer überzeugend nachgewiesen, daß bis 1914 die Summe der Zeugnisse, die das Gegenteil erhärten, ganz zweifellos überwiegt, während der Wenningerbericht als Aussage dritter Hand nicht als schlüssiger Beweis für eine Wandlung Moltkes anzusehen ist. Lutz hat in seiner Replik denn auch schließlich erklärt, daß sein Urteil über die Frage noch nicht abgeschlossen feststehe. Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß überhaupt nur durch eine sehr künstliche Interpretation bei dem ganz unkriegerischen Moltke ein Anhaltspunkt dafür gefunden werden kann, ihn zum Anhänger eines Präventivkrieges in irgendeinem Zeitpunkt zu stempeln.

Mit allmählich langsamer arbeitender Intensität, weil nicht mehr getragen wie 1925/26 von großen Neuenthüllungen, setzte sich die Erörterung über den Anteil Serbiens an der Entstehung des Weltkrieges fort. Bogitschewitsch's Buch über den Prozeß von Saloniki ( 1197) brachte nur begrenzte Mitteilungen aus dem allem Anschein nach sehr interessanten Verhandlungsprotokoll. Ihnen waren einige neue Belege über die Verbindungen zwischen der Schwarzen Hand, der herrschenden radikalen Partei und dem serbischen Kronprinzen zu entnehmen, weiter umfassendere Aufklärung, als bisher vorhanden war, über den merkwürdigen Lebenslauf und schließlichen Untergang Dimitrjewitsch's. Zum großen Teil besteht es jedoch aus einer Sammlung früherer Aufsätze des Verfassers, die bereits in der Kriegsschuldfrage, der Evolution und anderen Organen der Kriegsschuldfragenforschung erschienen waren. -- Beiträge zur Geschichte der Unterwühlung Bosniens und der Herzegowina gab der frühere Präsidialchef der österreichischen Landesregierung, Baron v. Collas ( 1135). Sie beleuchten sehr deutlich, wie vollständig die österreichische Verwaltung in diesem Lande durch den trügerischen Optimismus Burians und Bilinskis gelähmt war und wie wehrlos sie es der serbischen Agitation preisgab. Sie wagte nicht einmal mehr, das Recht auf unerwartete Revision der serbischen Schulen festzuhalten. Das Ergebnis war, daß in den maßgebenden Wiener Ministerien Beamte an entscheidender Stelle sitzen konnten, die nach Collas geradezu im Dienste Serbiens standen. -- Zur Geschichte der Julikrise hat Frhr. v. Wiesner in der Kriegsschuldfrage noch einmal das österreichische Dossier zum Abdruck ( 1139) gebracht, das dem Ultimatum vom 24. Juli als nachträgliche, durch ihre Verspätung leider gänzlich wirkungslose Begründung beigegeben wurde. Er kann feststellen, daß bis auf die Unkenntnis der Existenz der Schwarzen Hand das umfassende Anklagematerial dieses Aktenstückes heute durch die Forschung des letzten Jahrzehntes glänzend als solide begründet und in seinen Folgerungen gerechtfertigt dasteht. Aus persönlicher Erinnerung hinzugefügt ist die Darlegung der Gründe, weshalb das Dossier mit seinen dokumentarischen Beilagen so spät zum Abschluß kam. Sie zeigen, wie zögernd und saumselig man sich 1914 nach dem Attentat von Sarajewo in Wien über die Unerläßlichkeit einer umfassenden Feststellung der serbischen Unterwühlungsarbeit klar wurde, so daß angespannteste Arbeit dann nicht mehr schnell genug zum Ziele führen


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konnte. -- In der gleichen Zeitschrift hat Hermann Lutz noch einmal die Gründe untersucht, aus denen der Vorschlag des Haltes in Belgrad ( 1136) die österreichische Zustimmung nicht gefunden hat. Er kann zu diesem Problem eine eingehende gutachtliche Äußerung Berchtolds vorlegen und danach zu dem Ergebnis kommen, daß nicht nur die militärische Undurchführbarkeit eines improvisierten Handstreiches, sondern auch politische Bedenken Österreichs dieser Lösung entgegengewirkt haben.

Es sind schließlich noch einige isolierte Beiträge zu diesem Fragenkreis der Kriegsentstehung zu erwähnen. Einen Quellenbeitrag zur Geschichte der belgischen Neutralität hat Alfred de Ridder ( 1147) herausgegeben. Es handelt sich in der Hauptsache um eine Denkschrift aus dem belgischen Außenministerium, verfaßt von Banning, aus dem Jahre 1897. Sie entstammt einer Zeit, in der die Neutralität des Landes der anerkannte Leitgedanke seiner Politik war und verfolgt das allmähliche Einleben dieses Neutralitätsgedankens von den Anfängen Belgiens bis zum Jahre 1871. Dabei zeigt sie lehrreich, wie das Land sich nur sehr allmählich in Pflichten und Rechte seiner eigenartigen internationalen Stellung hineingefunden hat. Sehr interessant ist es, daß das beherrschende Problem stets bleibt, wie diese Neutralität mit einer aktiven Wahrung der politischen Interessen Belgiens zu vereinigen ist. Hingewiesen sei auf die memoirenähnliche Darstellung, die Banning von seinen Bemühungen gibt, im Jahre 1867 den Anheimfall Luxemburgs an Belgien zu erreichen. -- Paul Herre hat die Rolle Italiens in der Kriegsschuldfrage in einem Aufsatze ( 1156) untersucht, der in kurzem Fluge die Entwicklung der italienischen Politik seit Abschluß des Dreibundes betrachtet und eingehender die Auflösung dieses Verhältnisses seit 1902 behandelt. Er erblickt die Verantwortung Italiens darin, daß sein Beitrag zur Verschiebung der europäischen Machtverhältnisse seit der Jahrhundertwende, zusammen mit den gegen Österreich gerichteten Irredentabestrebungen, an ihrem Teil das Gleichgewicht des europäischen Staatensystems erschüttert und dadurch Kriegsneigung und Kriegsbereitschaft der Entente gesteigert, die vorzeitige Andeutung seiner Neutralitätsabsicht im Juli 1914 an Frankreich dessen Kriegsentschluß wesentlich erleichtert habe. -- Griechische Dokumente zum Kriegsausbruch, die die Kriegsschuldfrage wiedergegeben hat ( 1157), zeigen, wie die deutsche Werbung um griechische Bundeshilfe bei Beginn des Weltkrieges außer an der Seeherrschaft der Entente im Mittelmeer an dem Balkanbündnis Griechenlands mit Serbien gegen Bulgarien scheiterte und beleuchten, wie schon im Augenblicke des Kriegsausbruches wesentliche Unterschiede in der Entschiedenheit bestanden, mit der König Konstantin und Venizelos diesen Standpunkt vorläufiger griechischer Neutralität begründeten. -- Schließlich hat einer der großen Würdenträger der Türkei im Jahre 1914, der Marschall Izzet Pascha, in seinen Erinnerungen ( 1158) auch den Versuch gemacht, umfassend zu der Frage der Weltkriegsentstehung Stellung zu nehmen. Das geschieht in etwas schwerfälliger, aber sympathisch besonnener Weise mit dem Ergebnis, daß die Entente den Krieg gewollt, Österreich ihr aber den Vorwand dazu geliefert habe. Der Schwerpunkt des Buches liegt in seinem Wert als Memoiren eines gemäßigten türkischen Reformers von hoher Stellung. Izzet betrachtet von diesem Standpunkt aus die türkische Entwicklung seit 1877. Von der jungtürkischen Revolution ab befähigt ihn seine eigene Mitwirkung an den Ereignissen in der Stellung als Generalstabschef und


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Kriegsminister zu wertvollen Mitteilungen. Er sucht seinen Anteil an den wenig ergebnisreichen Versuchen türkischer Heeresreform vor 1912 zu verteidigen, -- was die persönliche Seite der Frage anbetrifft wohl mit berechtigtem Protest gegen allzu scharfe deutsche Kritik, die anscheinend den Schwierigkeiten seiner Aufgabe nicht ganz gerecht geworden ist. Den Ausbruch des Krieges von 1914 und das Eingreifen der Türkei in ihn hat Izzet als Mitglied des türkischen Ministeriums erlebt. Er verteidigt die Auffassung, daß die Türkei damals ihre Neutralität hätte wahren können und sollen. Wie schon in früheren Partien seines Buches übt er daher sehr bittere Kritik an der eigenmächtigen Politik Enver Paschas, der durch eine rücksichtslose Intrige die Türkei in das verhängnisvolle Ringen hineingerissen habe.


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