§ 26. Ältere Rechts- und Verfassungsgeschichte (bis 911).

(W. Stach.)

Wenn seinerzeit der erste Bericht über die älteste deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichte mit der Klage begann, daß auf diesem Felde der Forschung die lähmende Wirkung der Kriegs- und Nachkriegsjahre besonders zu spüren sei, so hat sich dieser niederdrückende Eindruck inzwischen auf weiten Strecken behoben. Mit Eifer und Frische ist man dabei, gelockerte und zerrissene Fäden im Gewebe der Einzelforschung aufs neue zu knüpfen, und eine Reihe grundlegender Fragen, deren Problematik bereits von Erstarrung bedroht schien, steht wieder mitten in lebendigem Fluß.

Ausgegangen ist diese Wiederbelebung in erster Linie von der Legeskritik und inauguriert durch B. Krusch ( 1264), als er mit seinem Buch über »Die Lex Bajuvariorum« für die stammesrechtliche Forschung eine neue und philologisch vertiefte Grundlage schuf. Im Berichtsjahre ist diesem kritischen Hauptwerk noch eine Art Prolegomena gefolgt, in denen er sich mit Schärfe und Nachdruck gegen Angriffe und Mißverständnisse verteidigt und zugleich die eigene Position, von der er nicht um Haaresbreite zurückweicht, nochmals klar und eindrucksvoll herausarbeitet. Seine Ausführungen sind zunächst gegen die Höherbewertung der bayerischen E-Hss. durch Heymann gerichtet und dessen dadurch bedingte günstigere Beurteilung der Schwindschen Ausgabe, über die ich im vorigen Jahre berichtet habe, doch -- wie ich leider erst nachträglich sah -- mit der unbeabsichtigten Wirkung, als hätte ich in diesem Punkte Heymann beipflichten wollen. Sodann kämpft er erneut gegen Brunners Vermutung eines verschollenen merowingischen Königsgesetzes und wendet sich schließlich seinem Widersacher F. Beyerle zu, mit dem er sich eingehend über die Entstehung des bayerischen Stammesrechtes und über Textfragen der alamannischen und ribuarischen Leges auseinandersetzt. Und während er die eigenen Thesen durch frische Begründungen zu stützen und zu festigen sucht, streut er aus dem Schatze seiner souveränen Beherrschung des Hss.-Materiales erneut eine Fülle von exakten Einzelbeobachtungen aus, die unabhängig von ihrem polemischen Zweck unsere textkritische Einsicht in die drei oberdeutschen Leges noch weiterhin fördern.

Gleichwohl ist die Kontroverse bis in die jüngste Zeit noch keineswegs zur Ruhe gekommen. Immerhin scheint mir die Lage seit F. Beyerles erstem, schroffem Gegenstoß schon ziemlich zugunsten von Krusch verschoben. Wenigstens sind die späteren Kritiker seit dem Vorgange von K. Beyerle durchgängig bestrebt, die so plötzlich aufgedeckte Kluft zwischen philologisch-historischer


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Methode und juristisch verstandener Rechtsgeschichte auf dem Wege einer sachlichen Verständigung zu überbrücken. Insbesondere ist das neben H. Meyer ( 1262) und W. Merk ( 1265) der Studie von K. A. Eckhardt ( 1263) gelungen, der in ausgedehnter Mitarbeit an den Problemen der hs. Legesüberlieferung in die schwebenden Streitfragen eingreift. So schlägt er u. a. eine Modifikation der Hss.-Stammtafel zur bayerischen Lex vor, indem er -- wie übrigens Meyer und Merk in ihren Besprechungen auch -- für eine teilweise Verwertung der bayerischen Emendata in der künftigen Textgestaltung dieser Lex eintritt; denn der Archetypus der bayerischen B-Hss. müsse durch Interpolation geändert worden sein, und zwar habe der Schreiber zu diesem Zwecke neben der Hauptvorlage die Textform der Antiqua benützt, von der später die Emendata abgezweigt sei. Bei der Untersuchung der Quellenfrage warnt der Verf. sondann ausdrücklich vor dem deus ex machina: dem Euricianus, namentlich soweit bayerische Anklänge an das salische, alamannische und langobardische Recht vorliegen, während er im übrigen -- wie andeutend bereits v. Schwind -- für eine verlorene Emendatavorstufe der Lex Salica plädiert, die die Lehnstellen in den bayerischen und alamannischen Leges vermittelt hätte. Schließlich begründet der Verf. noch eine neue Lösung zur Textentwicklung und Entstehung des Bayernrechtes, indem er auf Grund eines eigenen Beweisganges als terminus a quo der Abfassung das Jahr 741 erschließt und damit im wesentlichen der Hypothese K. Beyerles zur Seite tritt.

Abfassungs- und Ursprungsfragen der Leges sind es auch, die M. Lintzel ( 1267) und Ph. Heck ( 1266) erörtert haben, jener zum Sachsenrecht, dieser zur Rechtsaufzeichnung der Friesen, beide mit dem Bemühen, durch eine verfeinerte höhere Kritik die in diesen Fällen irreparable Ungunst der Textüberlieferung zu überwinden. Lintzel möchte die herrschende Meinung über die Entstehung der Lex Saxonum in dem Sinne revidieren, daß die Lex erst nach den sächsischen Kapitularien redigiert worden sei; sie erweise sich mit Ausnahme der letzten sechs Kapitel als einheitliches Werk; den Grundstock (Kap. 1--60) habe man wahrscheinlich auf dem Aachener Reichstag abgefaßt, während die restlichen Sonderbestimmungen -- vielleicht im Zusammenhang mit der endgültigen Fassung des Ganzen -- erst im nächsten Jahr auf dem Reichstage von Salz adkapituliert worden wären. Heck, der zugleich eine erneute und eindringliche Zusammenfassung seiner Ansichten von der ständischen Gliederung bei den Sachsen ( 1277) vorlegt (vgl. dazu neben v. Schwerin die Anzeige Lintzels, Sachsen u. Anhalt 4, 394 ff.), will auch die Lex Frisionum als eine nach seiner Meinung einheitliche und offizielle Rechtsaufzeichnung dem Reichstage von Aachen zuweisen. Das ist zwar seit langem aus früheren Veröffentlichungen Hecks bekannt. Aber eigenartig ist der breite und straff gefügte Unterbau, mit dem er diesmal seine Hypothesen untermauert, und in dieser ausgereiften Methodologie des Verf. liegt m. E. eine Bereicherung der Forschung auch dann, wenn sich seine Ergebnisse im ganzen noch immer nicht durchsetzen sollten. Insbesondere möchte ich hierbei ein quellenkritisches Einzelmoment nennen, das anderweit noch wenig praktische Verwendung fand, obgleich man im Prinzip durchaus damit vertraut war. Ich meine die rekonstruktive Analyse des Übersetzungsvorganges, der bei der lateinischen Ausfertigung von Rechtsquellen in dieser Zeit obwalten mußte. Denn nicht nur, daß sich in der Eile oder aus Ungeschick Übersetzungsfehler einschleichen


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konnten, die uns heute den ursprünglichen Sinn der Worte verdecken, sondern da die rechtliche Bedeutung zunächst nur den deutschen Äquivalenten und nicht den lateinischen Substituten zukam, so kann die ausdrückliche Stellung der Äquivalenzfrage auch sonst für die Auslegung des lateinischen Wortlautes von ausschlaggebender Bedeutung werden. Auf jeden Fall gewinnt der Verf. auf diesem Wege ein wirksames und philologisch interessantes Argument für seine Beweisführung.

Wie sehr überhaupt die Fortschritte philologischer Quellendurchdringung die Rechtsgeschichte auch inhaltlich zu fördern vermögen, erhellt besonders deutlich aus der Arbeit von R. Bechert ( 1286) über die Einleitung des Rechtsganges nach angelsächsischem Recht. Allerdings erheischte die Überlieferung des angelsächsischen Rechtes an sich schon die subtilste Interpretation, da ihr apodiktischer und aphoristischer Zuschnitt die Gesamtheit der Rechtsübung mehr ahnen als wirklich erkennen läßt. So scheint es kein Wunder, wenn sich bei der eindringlichen Exegese herausstellt, daß selbst wichtige Stellen bisher in ihrem eigentlichen Sinnzusammenhang verkannt und deshalb zum Aufbau des Rechtes auch fälschlich verwertet worden sind. Doch greift der Verf. über diese analytische Erschließung der Texte hinaus, indem er zugleich eine systematische Darstellung des angelsächsischen Rechtsganges anstrebt, und zwar für das ordentliche Verfahren sowohl, wie auch für die speziellen Verfahrensarten: bei handhafter Tat, bei Spurfolge, beim Anefang und im Prozeß um Liegenschaften.

Diese Seite des Aufsatzes führt uns von den Arbeiten zur Quellengeschichte zu einer Reihe von Monographien, die vorwiegend sachgeschichtlich orientiert sind. Leider ist mir infolge der unsäglichen Schwierigkeiten in der Literaturbeschaffung einiges davon nicht unmittelbar zugänglich geworden, wie die Studie von E. Mayer ( 1283) über Wergeld und Multa, die Ausführungen von M. Tamassia ( 1280) über testamentum militis und germanisches Recht und die Untersuchung von P. S. Leicht ( 1279) über das bei Krusch ( 1264) faksimilierte Namensverzeichnis von Gastalden, Scabini und Ladini (vgl. Neues Arch. 47, 656 n. 782). Unter den übrigen Arbeiten ist wohl an erster Stelle die entwicklungsgeschichtliche Abhandlung H. Meyers ( 1288) zu nennen, die sich mit den Formalakten der Eheschließung befaßt, einem Problemkomplex, zu dem im Berichtsjahre auch K. A. Eckhardt ( 1287) ein wichtiges Ergebnis beisteuert. Die Anregung dazu ging von den Thesen O. v. Zallingers aus, die dieser in einer feinsinnigen Untersuchung über den altdeutschen Heiratsbrauch nach den beiden mhd. Epen dargelegt und in der Festschrift für Redlich auch nachträglich wieder vertreten hat. Im Gegensatz zu Zallinger, der -- unter teilweiser Zustimmung Heymanns -- die eigentlich ehebegründende Formalhandlung in der Konsenserklärung im Ring sehen will, der sog. Vermählung, ist nach den Darlegungen Meyers an sich mit vier Konstitutivakten der Ehe geschichtlich zu rechnen, nämlich neben Verlobung und Vermählung mit der Trauung, die erst die eheherrlichen Rechte, insbesondere die Munt über die Frau durch Übergabe von seiten des Muntwaltes bewirkte, und mit dem Beilager, das nach Eckhardts Nachweis im deutschen MA. der Trauung regelmäßig vorausging, während der Verwandtenkonsens als wesentliches Moment insofern ausscheidet, als er lediglich die zur formalen Gültigkeit des Geschäftes nötige »volbort« des Umstandes der im Ring versammelten


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Dinggemeinde darstellt. Indem nun Meyer zunächst die seitherigen Versuche diskutiert, diese befremdliche Häufung ehebegründeter Akte entwicklungsgeschichtlich zu begreifen, gewinnt er aus den hierbei verbleibenden. Widersprüchen die eigene fruchtbare Problemstellung: wo es gemeingermanisch eine Eheform gegeben habe, bei deren Abschluß die Frau als selbständige Kontrahentin auftritt, wie das angesichts der Tatsache erforderlich ist, daß sich neben der Muntauflassung als Eheschließungsgeschäft auch das Konsensgespräch in der Vis-volo-Form als ursprünglich erweist. Er findet diese schon urgermanische Ehe mit Gleichberechtigung der Frau in der längst bekannten, historisch greifbaren, aber bisher wenig beachteten Friedelschaft, die weder mit der Kebsehe noch mit dem Konkubinat vermengt werden darf. Indem er dann im zweiten Teil seiner Abhandlung das Wesen dieser Friedelehe aus den Quellen heraus näher bestimmt, gelangt er zu dem wohl zwingenden Postulat, daß der rechtsbegründende Akt dieser freien Ehe nichts anderes als eben das Konsensgespräch gewesen sein kann. Dann aber bedeutet der Akt im Ring, wie er in den Epen auftritt, bei Abschluß einer Mundialehe erst eine spätere Bildung, die aus der Friedelschaft nachträglich eingefügt wurde, so daß auch nicht von einer grundsätzlich freieren Stellung der Frau im germanischen Recht die Rede sein kann, sondern nur von einer späteren Hebung, die die Stellung der Frau in der Muntehe erfuhr, als die alte Geschlechtsmunt erlosch. Mithin wäre schon urgermanisch eine Doppelform der Ehe vorauszusetzen, deren Nebeneinander Meyer mit der einleuchtenden Annahme erklärt, daß die Friedelschaft ursprünglich die Ehe des Mutterrechtes, die Muntehe aber die Ehe nach Vaterrecht war, ohne daß Meyer deswegen eine prähistorische mutterrechtliche Entwicklungsstufe bei den Indogermanen behaupten will. Doch verbietet der beengte Raum des Berichtes das Eingehen auf diese umsichtige rechtsvergleichende Vertiefung und den darauf gegründeten entwicklungsgeschichtlichen Ausbau, den Meyer seinen Ergebnissen im dritten und vierten Teil der Abhandlung gibt.

Ebenso kann ich nur in aller Kürze einen weiteren Aufsatz von ähnlich einschneidender Bedeutung streifen: den geistvollen Versuch F. Beyerles ( 1288a), die Rechtsnatur der ältesten Bürgschaft mit neuen Mitteln zu deuten. Der herrschenden Geiseltheorie, die das Wesen der Bürgschaft als Einsatz der Person aus dem Pfandgedanken herleiten möchte, hält der Verf. vor allem entgegen, daß man ja dann gerade für die ältesten Stufen haftungsgeschäftlicher Sicherstellung erwarten müßte, es sei der Bürge, der der Herrschaft des Gläubigers anheimfiele. Da sich aber in Wahrheit der Bürge als derjenige erweist, in dessen Gewalt sich am Verfallstage Leib und Vermögen des Schuldners kraft Pfändungsrechtes befindet, geht Beyerle umgekehrt von der Gestellungsbürgschaft als Urtypus aus und deutet ihre älteste Gestalt als ein Treuhandverhältnis des Bürgen zum Schuldner, mit der Wirkung, dessen leibliche Festnahme zu ersetzen und ihn dadurch zu »schützen«. Von dieser Voraussetzung her ergibt sich dann u. a. für die Deutung des Wettvertrages, der eine fortgeschrittene Wirtschaft und mildere Denkweise bekundet, daß sich der Schuldner hier durch Übergabe des Stabes dem Gläubiger zu Händen des Bürgen vergeiselt, während der Gläubiger durch Weitergabe des Stabes seine Gewalt an Leib und Habe des Schuldners dem Bürgen überantwortet, dem seinerseits daraus durch Handreichung und Treugelöbnis eine ursprünglich


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sakrale Treupflicht erwuchs. Mit dieser Andeutung der Gedankengänge Beyerles muß ich mich leider begnügen. Es scheint mir jedenfalls außer Frage, daß man auf diesem Wege dem Motivzusammenhang in der Entfaltung des ursprünglichen Bürgschaftsgedankens weit näher kommt als durch die herrschende Lehre.

Derselbe für das frühe MA. so ergiebige Band der Savigny-Zeitschrift bringt überdies einen Beitrag zur fränkischen Gerichtsverfassung von P. Kirn ( 1282), der sich gegen die Auffassung wendet, als sei das fränkische Königsgericht ein Billigkeitsgericht gewesen, das im Gegensatz zu den ordentlichen Gerichten weder formell noch materiell an die Strenge des Gesetzes gebunden war. Als grundlegend für diese von ihm bekämpfte Anschauung erachtet Kirn das c. 21 von Hinkmars Schrift de ordine palatii, dem er entnimmt, daß Hinkmar weder mit aequitas das gemeint habe, was wir heute Billigkeit nennen, noch überhaupt als Kronzeuge für eine grundsätzliche Billigkeitsjustiz des fränkischen Königs verwertet werden könne. Natürlich habe ein Milderungs- und Begnadigungsrecht des Königs de facto bestanden, das Kirn auf die Einwirkung kirchlicher Lehren (iustitia vel misericordia) zurückzuführen geneigt ist.

Neben diesen im eigentlichen Sinne rechtshistorischen Arbeiten steht eine Reihe von Veröffentlichungen, die mehr verfassungsgeschichtlicher Art sind und zum Teil in die älteste Wirtschafts- und Sozialgeschichte hinübergreifen. Den germanischen Staatsgedanken, wie er sich im äußeren Aufbau des altgermanischen Staates und seiner Entfaltung vom Stammesstaatentum zum Großreich ausgeprägt hat, behandelt W. Merk ( 1261) in einem überaus anschaulichen Aufriß, der sich zugleich in den Gegenwartsdienst einer geschichtlich vertieften Besinnung auf die schöpferischen Grundkräfte unseres Volkstumes stellt. -- Das Ständeproblem der germanischen Gesellschaft erörtert in umsichtiger Weise P. Harsin ( 1278); seine kritischen Ausführungen, die sich zum Teil gegen Heck richten, greifen von den gesellschaftlichen Sonderverhältnissen bei den Sachsen, Friesen, Thüringern, Franken und Bayern bis auf die Gesellschaftsordnung bei den Germanen des Tacitus zurück und betonen mit Nachdruck die erheblichen, zeitlich und regional bedingten Unterschiede der sozialen Zustände, die in diesem Zeitraum bestanden. -- Mit dem Reiche der Merowinger in verfassungs- und wirtschaftsgeschichtlicher Hinsicht befassen sich L. Levillain ( 1281a) und S. Hofbauer ( 1450). Jener bekämpft die letztlich auf Fustel de Coulanges zurückgehende Ansicht, daß in merowingischer Zeit die Erlangung der Immunität eine streng persönliche Vergünstigung gewesen sei, die sich ausschließlich auf die im Diplom jeweils genannten Personen bezog. Indem er zunächst die überlieferten Schenkungen aus Königsgut und dann die eigentlichen Immunitätsverleihungen erneut durchmustert und in diesem Zusammenhang auch ein Diplom Childeberts III. und ein anderes Chilperichs II. mit seinen eigenen Emendationen des Textes abdruckt, gelangt er zu der Definition: L'immunité est une exemption partielle ou totale des impôts qui frappent le sol et les hommes du domaine; elle est undroit réel et perpétuel; et elle est regardée légitimement comme le bienfait des rois qui l'ont concédée et confirmée. -- Hofbauers Arbeit über die großen Grundherrschaften unter den Merowingern aber unternimmt den Versuch, im Sinne der bekannten Hauptwerke Dopschs die These v. Inama-Sterneggs zu widerlegen, daß die großen Grundherrschaften, wenn nicht gar in der Karolingerzeit


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erst entstanden, so doch in dieser ihre eigentliche Ausbildung erfahren und ihre hervorragende sozialpolitische Wirksamkeit entfaltet hätten. In Wahrheit müsse man diese Entwicklung viel früher ansetzen; es sei erwiesen (dies unter Berufung auf Dopsch und Wittich), daß bereits bei den Germanen zu Tacitus' Zeit Grundherrschaften vorhanden waren, und die Wanderepoche habe in dieser Beziehung keinen wesentlichen Rückschritt gebracht; ferner entfiele auf Grund der neuesten Forschung fast alles, was merowingisch ein weiteres Auswachsen der Grundherrschaften hätte verhindern können: der primitive Wirtschaftsbetrieb, die »Kulturlosigkeit«, das mangelnde Streben nach wirtschaftlichem Fortschritt u. ä. Demgemäß wäre auch anzunehmen, daß dieselben Ursachen für die Ausbildung der Großgrundherrschaft, die in karolingischer Zeit ihr Anwachsen begünstigten, schon in der Merowingerzeit, wenn nicht noch früher, wirksam gewesen wären, und in der Tat bezeugten auch alle Quellen eine entsprechend große Verschiedenheit in der damaligen Verteilung von Grund und Boden.

An diese ziemlich allgemein gehaltenen Ausführungen, die im einzelnen wenig Neues bringen, reihen sich schließlich zwei verfassungsrechtliche Spezialuntersuchungen an: die wertvolle Bereicherung unserer Zehentliteratur durch A. Pöschl ( 1451) und der Beitrag zur Verfassungsgeschichte der Alamannen von A. Bauer ( 1276). Pöschl sucht den Fragen, die uns das berühmte Capitulare von Heristall als das erste von Staats wegen für die Kirche erlassene Zehentgebot aufgibt, vor allem von der wirtschaftsgeschichtlichen Seite aus beizukommen. Indem er sich auf die eigenen Untersuchungen stützt, in denen er das fortschreitende Umsichgreifen der Kirchengutsverweltlichung durch Lehenbestellung in der karolingischen Überlieferung und später verfolgt hat, und indem er neben der sonstigen Heranziehung von Kirchengut für weltliche Zwecke besonders auf die Servitien der Reichskirche verweist, gelangt er zu der weittragenden Folgerung: Der Kirchenzehent sei der notwendige wirtschaftliche Ausgleich der gesteigerten staatlichen Inanspruchnahme der Kirchen und ihres Gutes gewesen; das staatliche Zehentgebot bedeute die Verteilung der Staatslasten auf die Gesamtheit der Untertanen, veranlaßt durch den Einbau der Kirchenverfassung in das Gefüge des karolingischen Staates. -- Was schließlich die stammesgeschichtliche Monographie von Bauer anlangt, der sich in eigenwilliger und z. T. recht auffälliger Weise mit seinen verdienten Vorgängern auf dem Felde der schwäbischen Frühgeschichte, insbesondere mit Baumann, herumschlägt, so fällt es mir schwer, über seine hauptsächlichsten Thesen unter Verzicht auf Einspruch zu referieren, wie das die Rücksicht auf den zur Verfügung stehenden Raum des Berichtes verlangt. Nach Bauers Meinung waren die Alamannen, deren Name schon auf das bloße »Menschengemengsel« hinweisen soll, beim Beginn ihrer Geschichte zwar eine ethnische Einheit und größtenteils suebischer Herkunft, aber weder eine Art Amphiktyonie noch ein in politischer Tradition geeinter Völkerschaftsbund, sondern ein Haufen zersprengter Splitter von alten, untergegangenen Verbänden, den der Zufall des Krieges und der Wanderung zusammengewürfelt hatte. Er habe zwar unter erblichen Herrschern, Königen gestanden, aber ohne eigentliche staatliche Ordnung, ohne concilium civitatis und ohne jede verfassungsartige Gliederung, die erlaubte, von centenae oder huntari im Sinne einer politischen Einteilung des Landes oder Volkes zu sprechen. Wohl habe


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es altalamannische Hundertschaften gegeben, aber auch das seien ad hoc gebildete Gruppen (z. B. ein Gerichtsrat, eine Schnellgängermannschaft) gewesen, die in ihrer lockeren Struktur, wenn man von ihrer zahlenmäßigen Begrenzung absieht, mit dem Zweckverbande des Ganzen durchaus auf gleicher Stufe stünden. Einen Staat hätte es somit in Alamannien erst seit der Frankenherrschaft gegeben, und zwar hätten die Franken Herzogtum, Komitat und Centene dort eingeführt, ohne daß diese späteren Kompetenzbereiche der fränkischen Beamten an die vorgefundenen historischen Landschaften unmittelbar angeknüpft hätten. Als altalamannisch wäre danach neben der je nach ihrem Sonderzweck schillernden Hundertschaft lediglich die Bar anzusehen, unter der sich der Verf., wenn ich ihn recht verstehe, eine Art Herrschaftsbezirk denkt, wie er bei der Landnahme aus der Zusammenfassung mehrerer jener kleineren Zufallsverbände von hundert Leuten zu einem größeren landschaftlichen Komplex quasi von selber entstand. Bei Ammianus Marcellinus werde diese altalamannische Bar und Huntari »pagus« genannt, so daß schließlich auch der Gau als ein bloß geographischer Ausschnitt erscheint, der keine festen Grenzen kennt und -- ebensowenig wie die Bar -- mit dem Grafschaftsbezirk identifiziert werden darf.

Damit stehe ich am Ende. Es erübrigt sich nur noch, auf eine verdienstvolle zusammenfassende Darstellung zu verweisen, deren einschlägige Abschnitte unseren Zeitraum umfassen: auf den knappen, zuverlässigen Lehrgang der italienischen Rechtsgeschichte von Besta ( 1289), der zum größten Teil (S. 1--203) die Verfassungsverhältnisse Italiens während der Ostgoten- und Langobardenherrschaft behandelt.


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