§ 27. Rechts- und Verfassungsgeschichte des Hochmittelalters.

(H. Hirsch.)

An die Erwähnung des Lehrbuches von Besta, mit der die vorausgehende Übersicht schließt, läßt sich der Bericht über die zum Teil sehr ansehnlichen Leistungen anfügen, die italienische Rechtshistoriker auch in diesem Jahre auf dem Gebiet der hochmittelalterlichen Verfassungsgeschichte aufzuweisen haben. --Bognettis Buch ( 1293) ist dem großen Problem gewidmet, welchen Anteil die Langobarden an der Bildung öffentlich-rechtlicher Landgemeinden in Oberitalien gehabt haben. In seinem 1924 erschienenen Werk über das Entstehen von Burg- und Landgemeinde hatte Fed. Schneider dargelegt, daß die freien Landgemeinden aus Arimannensiedlungen hervorgegangen seien, die von den langobardischen Königen nach dem Vorbild des byzantinischen Militärsystems geschaffen worden sind. Dem gegenüber ist B. geneigt, die ma.lichen Landgemeinden aus Almendgenossenschaften abzuleiten, die schon in vorrömischer Zeit bestanden haben. Fed. Schneider hat bereits seinen Widerspruch angemeldet (H. Z. 137, 558 ff.), während Dopsch (Mitteil. des Inst. 43, 131 ff.) meint, daß die beiden Anschauungen »in der Hauptsache vereinbar seien«. Die weiteren Betrachtungen Bognettis gelten vor allem den Bezeichnungen für das Gemeineigentum (viganalia, comunalia, conciliva, compascua), den rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Landgemeinde und dem Übergang verschiedener Rechte auf geistliche oder weltliche Grundherren (domini loci). Die


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Auszüge aus verschiedenen Urkunden der Gegenden von Mailand und Como, deren Verhältnisse der Verfasser besonders berücksichtigt hatte, sind nach den übereinstimmenden Urteilen von Schneider und Dopsch als Grundlage für die Darstellung schon deshalb, weil die Texte stark gekürzt sind, nicht recht verwertbar. -- L. Chiapelli ( 1298) hat seine Untersuchungen über das Städtewesen in Italien mit besonderer Berücksichtigung des langobardisch-tuszischen Gebietes fortgesetzt. Dem der Langobardenzeit gewidmeten ersten Teil ist nun der Abschnitt gefolgt, der eine Darstellung der städtischen Verhältnisse, namentlich der Stadtverfassung, für die karolingische Zeit bietet. Der Verfasser hat wohl mit Recht der Anschauung, die Herrschaft der Karolinger hätte für Italien wenige Neuerungen gegenüber den Einrichtungen des langobardischen Königreiches gebracht, widersprochen. Die Zuwanderungen germanischer Volksteile vor allem auch von Franken und Alemannen haben auf die Gestaltung der städtischen Verhältnisse in vielfacher Weise Einfluß genommen. Es ist verdienstvoll, daß Ch. für Piemont, die Lombardei, die Emilia, Venetien und Toscana eine Zusammenstellung von Quellen und Literatur bietet, aus der die Bedeutung der germanischen Einwanderung für die dort aufgeführten Städte erhellt. Auch die folgende Darstellung über die Einführung der fränkischen Beamten, der Grafen an Stelle der Herzöge und Gastalden, über die Bedeutung der Immunität, die den Grafen die Gewalt nahm und den Bischöfen übertrug, darf der Beachtung empfohlen werden. (Vgl. U. Stutz Zeitschr. d. Sv. Stift. f. RG. 48, 444ff.) -- A. Visconti ( 1292) hat eine Konstitution Ottos III. über die Unveräußerlichkeit von Kirchengut ( 998) (Mon. Germ. Const. 1 Nr. 23) neu abgedruckt, die keiner Reichsversammlung vorgelegt worden ist und darum keine Gesetzeskraft erlangt zu haben scheint. Daß der Text gerade in zwei Farfeser Hss. überliefert ist, wird wohl zutreffend mit dem Interesse erklärt, das Abt Hugo von Farfa an dem Zustandekommen dieses Gesetzes gehabt haben mag.

Avondo Ruffini ( 1290 f.) ist neuerdings (vgl. zuletzt Jahresb. 1926, 450) mit zwei Beiträgen zur Geschichte des Wahlrechtes im MA. hervorgetreten. In einer Übersicht, die mit den Zeiten der griechischen Staaten beginnt und mit Hinweisen auf die Gegenwart, auf die Wirksamkeit des Völkerbundes, endigt, wird uns die Geschichte des Mehrheitsprinzipes vorgeführt, werden besonders die mannigfaltigen Beziehungen dargelegt, in die dieses zum Einmütigkeitsprinzip ebenso wie zur Forderung getreten ist, daß die Stimmen nicht gezählt, sondern gewogen werden müßten. Dieser letzteren entspricht die sanioritas der kirchlichen Rechtsanschauung, die seit dem 5. Jh. nachweisbar ist und seit dem Investiturstreit einen Höhepunkt an Geltung erreicht hat. -- Mehr der wissenschaftlichen Erkenntnis und weniger der Belehrung weiter Kreise dient das zweite Buch des nämlichen Verfassers »i sistemi di deliberazione colletiva nel medioevo italiano« ( 1290). Wieder darf die Kenntnis der deutschen Literatur hervorgehoben werden. Neuerdings setzt Ruffini seinen Lesern den Unterschied auseinander, dem zufolge nach den deutschen Weistümern die Minderheit dem Mehrheitsbeschluß einer Markgenossenschaft sich zu fügen hatte, während in den ältesten Kommunen Italiens weder ein Einzelveto noch eine Verpflichtung der Minderheit, den Beschlüssen der Mehrheit beizutreten, nachweisbar ist. Die Kritik, die Ruffini an der Auffassung Gierkes von der Ablösung des Genossenschaftsbegriffes durch den der Körperschaft gibt, hat bereits Stutz (Zeitschr. d. Sav. Stift. f. RG. 48, 446) als dem Sinn der Lehre Gierkes nicht ganz entsprechend


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gekennzeichnet. Die Darstellung erscheint bis ins 14. Jh. geführt. In der Ausbildung der Abstimmungsarten und im Gebrauch des Mehrheitsprinzips sind die italienischen Kommunen in Europa führend geworden.

Die Literatur zur italienischen, namentlich verezianischen Verfassungsgeschichte ist durch mehrere wichtige Beiträge bereichert worden. Magnante ( 1300) legt dar, daß sich der consiglio dei rogati in den auf den 4. Kreuzzug unmittelbar folgenden Jahren ausgebildet hat, zu einer Zeit, zu der die Erfolge Venedigs auf außenpolitischem Gebiet eine derartige Erweiterung des Wirkungskreises gebracht hatten, daß der große Rat nicht mehr zu genügen schien. Das 13. Jh. zeigt uns Zusammensetzung und Wirksamkeit dieses Rates in seinem allmählichen Aufstieg und in seinen Kompetenzkonflikten mit anderen Verwaltungseinrichtungen, namentlich mit dem Rat der Dreißig. Zu den Angelegenheiten des Handels und der Schiffahrt kamen später die der auswärtigen und Kolonialpolitik dazu und schließlich auch die der Finanz- und Volkswirtschaft. Von der Mitte des 14. Jh. an ist der »consiglio dei rogati« die die Geschicke Venedigs lenkende Behörde und es ist nur der Ausdruck dieser Tatsache, wenn er sich am Ende dieses Jahrhunderts Senat der Republik Venedig nennt. Das Buch von Maranini ( 1301) über die venezianische Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis zur Sperre der »Serrata« des großen Rates und die Studie von Ponchielli ( 1305) über den Begriff der Missetat in den Konstitutionen der Kaiser und den germanischen Volksrechten der Frühzeit sind uns trotz wiederholter Bemühungen nicht zugänglich gewesen.

»Une source de la fortune monastique« nennt Lesne ( 1285) die Schenkungen, die den Zweck haben, dem Schenker, einem Mitglied seiner Familie oder einem Schützling eine Art von Lebensrente oder den Genuß einer vorübergehenden Versorgung zu sichern und für die der Verfasser Zeugnisse aus der Zeit vom 8. bis 10. Jh. aufzuspüren sich bemüht. Sie lassen sich aus den Urkunden der Klöster und den Mustern für solche, die in Formularsammlungen vorliegen, unschwer finden. Aber immer sind es Klöster, niemals Laien, Bischöfe oder Kathedralkapitel, mit denen solche Verträge abgeschlossen werden, die ähnliche Wirkungen haben, wie heute das Eingehen einer Versicherung oder die Erlangung einer staatlichen Pension.

Die Leistungen der Wissenschaft vom deutschen Recht lassen gerade in diesem Jahre deutlich die Probleme erkennen, um deren Lösung gegenwärtig gerungen wird. Im Vordergrund stehen die Arbeiten, die die Ausgabe der großen Rechtsbücher und der Rechtsquellen des späteren MA. vorbereiten oder doch kritische Beiträge zur Erklärung einzelner Sätze dieser Rechtsaufzeichnungen bieten wollen. Daneben beansprucht die Entwicklung der Stadtverfassung und der ständischen Verhältnisse nach wie vor besonderes Interesse. -- Das erste Heft der Rechtsbücherstudien von K. A. Eckhard ( 1271) ist den Vorarbeiten zu einer Parallelausgabe des Deutschenspiegels und Urschwabenspiegels gewidmet. Den Ausgangspunkt bot die bisher nicht genügend erforschte Schwabenspiegelhandschrift des Freiburger Stadtarchivs. Die Untersuchung der Fremdartikel zeigte deren Herkunft aus dem Urschwabenspiegel, das heißt einer Form dieses Rechtsbuches, die heute nicht mehr in handschriftlicher Überlieferung vorliegt. Dort scheint noch der Gesamtartikelbestand des Deutschenspiegels enthalten gewesen zu sein. In den weiteren Abschnitten beschäftigt sich der Verfasser mit Ziel und Methode der Deutschenspiegelneuausgabe, den Quellen


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und der Entstehungszeit des Deutschenspiegels und der Frage einer Edition des Urschwabenspiegels, dessen gänzliche Wiederherstellung nicht möglich ist. Der Deutschenspiegel scheint, wie E. schon früher auseinandergesetzt hat, zwischen 1265 und 1276 in Augsburg entstanden zu sein. Da der Verfasser bereits König Rudolfs Gesetze vom Februar 1274 kennt, auf die Ereignisse des Augsburger Hoftages von Mai 1275 aber noch nicht Bezug nimmt, dürfte die Entstehungszeit durch die genannten Ereignisse begrenzt werden. Die ausführliche Besprechung durch v. Schwerin (Zeitschr. d. Sav. Stift. f. RG. 49, 524 ff.) kennzeichnet ebenso die Schwierigkeiten, die der Rekonstruktion des Urschwabenspiegels entgegenstehen, wie die Verdienste, die sich E., indem er mit jugendlichem Eifer an diese verwickelten Fragen herantrat, schon jetzt erworben hat. Bemerkenswert an dieser Anzeige ist noch, daß v. Schwerin die Frage, ob der Deutschenspiegel als Mittelglied zwischen dem Sachsen- und dem Schwabenspiegel anzusehen und zu benutzen ist, verneint und anzunehmen geneigt ist, »daß der Deutschenspiegel nichts anderes ist als die Kompilation einer oberdeutschen Sachsenspiegelübertragung mit einem Schwabenspiegeltext«, der dem Wortlaut der Freiburger Hs. sehr nahe stand. -- Aus den Deckblättern einer Lorcher Vogteirechnung des Staatsfilialarchivs in Ludwigsburg und aus einem Pergamentbruchstück einer ebendort aufbewahrten Hs. des ehemaligen Klosterpriorates Hofen a. Bodensee druckt K. O. Müller ( 1269) Bruchstücke zweier Hss. des Schwabenspiegels (Lehnrecht) aus dem 14. bis 15. Jh. ab, die bessere Texte als die der Laßberger Ausgabe bieten. -- Die articuli reprobati sind jene 14 Stellen des Sachsenspiegels, die Gregor XI. in einer Bulle von 1374 als unchristlich und ketzerisch verdammt hatte. Von diesen sind, wie Aidnik ( 1268) nachweist, vier in Alt-Livlands Lehen- und Ritterrechten, allerdings in abgeänderter Form, aufgenommen worden, in den Stadtrechten Rigas und der livländischen Städte ist nur einer (I, 52, 1) nachweisbar, wonach niemand ohne Zustimmung der Erben und ohne gerichtliche Mitwirkung weder sein Eigen noch seine Leute vergeben durfte. Wenn also der Erzbischof Michael von Riga von der Stadt Riga um 1500 einige aus dem Sachsenspiegel stammende Artikel aus dem Stadtrecht auszumerzen verlangte, so ging seine Forderung über das hinaus, was hätte erfüllt werden können und hat auch dort, wo es möglich gewesen wäre, keinen Erfolg gehabt. -- K. G. Hugelmann ( 1275) hat mit einem ersten Beitrag Studien zum Recht der Nationalitäten im deutschen MA. eröffnet und verweist gleich in der ersten Note darauf, daß die Probleme des Nationalitätenrechtes dem deutschen MA. in gleicher oder ähnlicher Form wie uns heute bekannt gewesen sind. An den Angaben des Sachsenspiegels und anderer Rechtsquellen des 13. Jh. wird zu zeigen versucht, welche Bedeutung den vier großen Stammesgebieten in der Darstellung Eikes von Repgau zukommt, obwohl sich dieser schon »bewußt ist, daß ihr Zerfall in kleinere Territorien bereits begonnen hat«. Anderseits besteht aber zur Zeit Eikes noch das Personalitätsprinzip, demzufolge im ganzen Reich der Adelige nach der Lage seines Hantgemals, jeder Reichsangehörige aber nach dem Ort seiner Geburt verlangen kann, nach dem Recht seines Stammes gerichtet zu werden. --Rehme ( 1297) hat von 170 deutschen Städten die Stadtbücher des MA. verzeichnet, deren Anlage kritisch beleuchtet und die Nachrichten gesammelt, die über unbekannte Aufzeichnungen solcher Art noch vorhanden sind. Nicht alle Stadtbücher, die wir kennen, finden sich bereits in diesem ersten Bande aufgeführt. Ein zweiter soll folgen,

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in dem der Verfasser die Geschichte des Stadtbuchwesens abschließen will und vor allem jene Stadtbuchaufzeichnungen besprochen werden sollen, deren Würdigung archivalische Vorarbeiten notwendig gemacht hat. Nach dem Erscheinen dieses zweiten Bandes wird die deutsche Stadtbuchforschung einen Überblick über das gewinnen, was seit Homeyers Übersicht auf diesem Gebiete geleistet worden ist. Lokalen Geschichtsvereinen, Landeskommissionen und Instituten wird dann noch immer viel zu tun übrig bleiben. (Vgl. Frölich, Zeitschr. d. Sav. Stift. f. RG. 48, 484 ff.) --

Die Literatur zur Geschichte der ständischen Verhältnisse hat in diesem Jahr den Beitrag eines Gelehrten aufzuweisen, von dessen Auffassungen längst ein starker Einfluß auf die Probleme der Standesgeschichte ausgeht. »Adelsherrschaft im MA.« nennt sich das neue Buch des Freiherrn v. Dungern ( 1272), in dem er anregend und geistreich wie immer seine Auffassung von der Bedeutung des Adels vom 9. bis zum 13. Jh. mit neuen und alten Gründen und mit Hinweisen auf die Urteile in der neueren Literatur darlegt. Die Fähigkeit eines besonderen Geburtsstandes, die Ausübung des Grafenamtes und der hohen Gerichtsbarkeit über die auf adeligen Gütern angesessenen Bewohner an sich zu ziehen, wäre in stärkere Beziehung zu setzen gewesen zu der durch die Sätze der großen Rechtsbücher belegbaren Auffassung, derzufolge der König im Mittelpunkt amts- und reichsrechtlicher Anschauung gestanden hat. Der Meinung, daß die Nachwirkung der karolingischen Verfassungs- und Verwaltungsreformen in den Jahrhunderten des hohen MA. erst nachgewiesen werden muß und nicht ohne weiteres als bestehend angenommen werden darf, bin ich gerne bereit zu folgen. Aber unwiderleglich ist auch die Anschauung, daß die Gerichtshoheit des deutschen Königs und der Gedanke der Öffentlichkeit hochgerichtlicher Rechte im 12. Jh. an Bedeutung gewonnen hat. Es wäre Dungerns Aufgabe gewesen, zu zeigen, ob und wie sich zwischen diesen einander widerstrebenden Rechtsanschauungen ein Ausgleich vollzog oder wenigstens angebahnt hat. Zur Annahme eines Satzes, »daß der Graf bei Handhabung der Hoheitsrechte, die er verwaltete, nicht nur an den Grenzen der exempten geistlichen Herrschaftsgebiete, sondern genau so an den Grenzen des Grundbesitzes weltlicher Dynasten, auch wenn sie nicht Grafen waren, eine Schranke gefunden hat« (S. 13), ist die Rechtsgesschichte in ihrer jetzigen Gestalt noch nicht reif. Widerspruch hat sich bereits eingestellt (vgl. v. Below HZ. 137, 298 ff., Lechner Jahrb. f. Landeskunde v. Niederösterreich, N. F. 22, 116 ff.). Aber es ist unverkennbar, daß Dungerns Lehren in den zwanzig Jahren ihres Bestehens an Geltung gewonnen haben, und das Verdienst verbleibt auch seiner neuesten Darstellung unverkümmert, in ein noch ungeklärtes Gebiet wichtiger Fragen hineingeleuchtet zu haben. --Pöhlmann ( 1281) untersucht die Herkunft des Wortes ligius und die Verbreitung des ligischen Lehensverhältnisses. Die ersten Erwähnungen gehören dem 11. Jh. und der Diözöse Lüttich und Frankreich an. Der Verfasser meint, daß das einzige Volk, bei dem die Voraussetzungen für das Eingehen eines ligischen Rechtsverhältnisses, engste Bindung zwischen Unternehmer und Gefolgsmännern, vorhanden war, nur die Normannen des 10. und 11. Jhs. gewesen sein können. In welcher Weise das französische Königtum die Bedeutung dieser Einrichtung erkannt und seinen Zwecken dienstbar machte, hat H. Mitteis sehr wirkungsvoll gezeigt. -- Die im Jahre 1925 erschienene Arbeit von Plotho ( 1273) gilt der Entscheidung der Frage, ob die Ministerialen


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von Rittersart frei oder unfrei gewesen und welchen Geburtständen sie entstammt seien. Der sachkundigen Untersuchung hat G. v. Below (HZ. 135, 415--422) einen seiner letzten Aufsätze gewidmet, an denen wir noch einmal die Klarheit seiner Darstellung bewundern dürfen. Die Ministerialität in Altdeutschland war »ganz unzweifelhaft unfrei«, im kolonialen Deutschland sind die Ritter scheinbar frei, aber sie stammen »überwiegend von altdeutschen Ministerialen« ab. Die Vorstellung Plothos, daß die unfreie Herkunft der Ministerialen zugleich ihre nichtgermanische Abstammung bedeute, wird durch v. Below mit Recht als »nicht unbedingt gültig« bezeichnet. Mögen auch unter den Unfreien viele Kriegsgefangene keltischer, slawischer und auch avarischer Volkszugehörigkeit sich befunden haben, so ist die Zahl der unfreien Germanen, die durch kriegerische Unterwerfung ihre Freiheit verloren haben, noch größer. Freilich bleibt bestehen, »daß die Deutschen wie alle Kulturvölker nicht ganz reinrassig sind«. -- D. Th. Enklaar ( 1274) hat die Arbeiten von Ganshof (Jahresb. 1926, 369) und Weimann über die Ministerialität besprochen. Während er von dieser nur einen Bericht gibt und sie zur Benutzung sehr empfiehlt, hat er an jener Verschiedenes auszusetzen -- daß in dem großen Deutschen Reich kaum je eine allgemein gültige Auffassung über Entstehung und Entwicklung der Ministerialität sich durchsetzen werde, was eine Voraussetzung bei Ganshof sei, und daß dieser den bäuerlichen Ministerialen, die keine Ritterdienste geleistet haben, zu wenig Beachtung geschenkt und die Verhältnisse im Niederländischen Gebiet nicht berücksichtigt habe.

Von den Beiträgen zur Geschichte der Stadtverfassung ist der an erster Stelle zu erwähnende von grundsätzlicher Bedeutung. Die im Bericht des Vorjahres S. 378 rühmend hervorgehobene Arbeit von F. Beyerle über Marktfreiheit und Herrschaftsrecht in oberrheinischen Stadtrechtsurkunden hat in den Urteilen von K. A. Eckhard ( 1295) und U. Stutz (Zeitschr. d. Sav. Stift. f. RG. 48, 642) weitere Zustimmungen gefunden. Stutz konnte dabei bereits vermerken, daß G. v. Below ( 1295) die Ergebnisse, in denen sich der Verfasser bemühte, der Bedeutung der Grundherrschaft für Aufkommen und Wachstum der Städte gerecht zu werden, als eine Erneuerung der hofrechtlichen Theorie erklärt und bekämpft hat. Das lag F. Beyerle gewiß ganz ferne. Daß die Arbeit im Kampf der Lehrmeinungen zunächst nicht ganz gut zu bestehen scheint, beweist nur, daß sie zu den immer häufiger werdenden Leistungen gehört, deren Urheber zwischen den verschiedenen Theorien durchzukommen trachten und nicht darstellen wollen, wie es nach einer von diesen sein sollte, sondern wie es tatsächlich gewesen ist. -- Das Buch von Pirenne ( 1294) »Les villes du moyen âge« bietet den französischen Text der Vorträge, die der Verfasser 1923 an verschiedenen Universitäten der Vereinigten Staaten gehalten hat und die 1923 in Buchform zusammengefaßt unter dem Titel »Medieval Cities. Their origins and the revival of trade« in englischer Sprache erschienen sind. In acht Kapiteln führt uns P. den Handel im Mittelmeer vor, der noch im 8. Jh. eine bis zum Norden reichende, für den Staat der Franken besonders bedeutungsvolle Ausbreitung aufweist. Die Einfälle der Araber und die Ausbreitung des Islam haben den Mittelmeerhandel sehr geschädigt und den Okzident genötigt, von eigenen Mitteln zu leben. Die Raubzüge der Normannen haben auch im Norden einen Verfall des Handels herbeigeführt, die Grundherrschaft wird zur wirtschaftlichen Grundlage des Staates und der Gesellschaft. Die karolingische Zeit


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kennt keine Stadt im wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Sinne. Seit dem 10. Jh. vollzieht sich eine Wiederherstellung des Handels, als dessen Zentren zunächst Venedig und Flandern aufscheinen. Der Stand der Kaufleute erringt nicht bloß die persönliche Freiheit, er erwirbt auch Privilegien und tritt neben Adel und Klerus. Die Entstehung der Städte aber leitet eine neue Aera in der inneren Geschichte des westlichen Europa ein; sie stehen im Mittelpunkt der Geldwirtschaft, werden Träger einer Laienkultur, die der Renaissance ebenso vorgearbeitet hat, wie durch die Sektenbildungen und die Mystik der städtischen Dominikaner und Franziskaner der Reformation. Wir möchten diesen klaren Ausführungen in jenen Teilen besonderen Beifall spenden, in denen das Ende des 9. Jh. als der Endpunkt einer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung hingestellt wird, dem gegenüber das 10. Jh. eine Aufwärtsbewegung im Sinne einer Beruhigung der Verhältnisse und Zustände erkennen läßt. -- Diesen Ausführungen gegenüber nimmt sich der nun folgende Beitrag aus, wie die Anwendung der Lehre Pirennes auf einen besonderen Fall. A. v. Laar ( 1299) bespricht die Anfänge von Antwerpen im Licht der Theorie vom Ursprung der Städte. Ursprünglich bestand dort eine Burg, die 836 von den Normannen in Brand gesteckt worden ist. Der Ausdruck Civitas, der in der Nachricht der Annales Fuldenses darüber vorkommt, kann nur gleichbedeutend mit urbs und oppidum sein. Ein befestigter Waffenplatz muß darunter verstanden werden, in den sich der Herr mit seinem Gefolge in Zeiten der Gefahr zurückziehen konnte. 1008 wird Antwerpen eine Mark genannt, von einem portus Antwerpiensis hören wir zuerst 1031. Im 11. Jh. hat sich also die Entwicklung zu einem Handelsplatz vollzogen, der für den Verkehr zwischen England und den Rheinstädten besondere Bedeutung gewinnen sollte. 1146 werden zum erstenmal iudices et scabini erwähnt, ein Merkzeichen städtischer Eigengerichtsbarkeit ist damit nachgewiesen, das den Bestand einer Stadt in rechtlichem Sinne für diese Zeit sicher stellt. Eine kirchliche Gründung hat schon im Zusammenhang mit der alten Burg bestanden. -- H. Rupprecht ( 1296) versucht in seiner Münchener staatswissenschaftlichen Dissertation die Lehren Sombarts über die Städtebildung einer Nachprüfung zu unterziehen und findet, daß in Sombarts Theorie, derzufolge die Städte in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens fast reine Konsumtionsstädte gewesen seien, zwar ein richtiger Kern stecke, daß sie aber in ihrer Gesamtheit unhaltbar sei. Der Verfasser stützt sich ebenso auf die Anschauung von Dopsch über den Zusammenhang der Siedlungen in römischer, vorgeschichtlicher und mittelalterlicher Zeit, wie auf die v. Belows, der die Meinung, eine große Anzahl ma.licher Städte sei aus Residenzen weltlicher und geistlicher Fürsten erwachsen, mit guten Gründen bestreitet. Überhaupt läßt sich eine allgemeine Theorie über die Entstehung ma.licher Städte nicht aufstellen. Die Mitwirkung produktiver Elemente (Handwerker und Händler), die Gunst der geographischen Lage, die Bodenschätze, die Vorentwicklung in römischer, germanischer und vorgeschichtlicher Zeit, also Ursachen verschiedener Art, können für Entstehen und Wachstum einer Stadt angeführt werden. Im Sinne Sombarts aber läßt sich sagen, daß die entstehenden größeren Reichtümer beim Wachstum der ma.lichen Städte mitgewirkt haben. »Daß die gesamte äußerst umfangreiche Literatur des Städtewesens für den Wirtschaftshistoriker in vielen Fragen von geradezu erschreckender Unfruchtbarkeit« ist, sollte ein Anfänger nicht aussprechen.

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Die der Femgerichtsbarkeit gewidmeten Beiträge, von denen in diesem letzten Absatz zu berichten ist, leiten bereits zur Übersicht über die Leistungen auf dem Gebiet der spätma.lichen Verfassungsgeschichte über. Das Femgerichtsbild des Soester Stadtarchivs ( 1302) ist von der Stadtverwaltung Soest und dem Verein für die Geschichte von Soest und der Börde mit einer Einleitung von K. v. Amira herausgegeben worden, in der der erhebliche rechtsarchäologische Wert dieser Darstellung, die den Freigrafen mit zwei Freischöffen in Beratung zeigt, hervorgehoben wird. Daß der Maler von der Gerichtsordnung nichts mehr erkennen läßt, mag damit zusammenhängen, daß zur Zeit der Entstehung des Bildes (2. Hälfte des 15. Jh.) das Femwesen bereits in Verfall begriffen war. -- O. Schnettler ( 1303) ist geneigt, die Frage, ob die Freigrafschaft in allen wesentlichen Punkten auf der Grafschaft beruht, zu bejahen. Damit setzt er sich in Widerspruch zu den Auffassungen von Oppermann, Ilgen, Philippi und Waas, mit deren Ausführungen er sich im einzelnen beschäftigt. Auf die Ausführungen über das Vorkommen ministerialer Grafen seit dem 12. Jh. sei ausdrücklich verwiesen; für die Tatsache, daß im 14. und 15. Jh. die Freigrafen meist Ritter, Bürger oder Bauern gewesen sind, scheint sich damit die Erklärung zu bieten, daß eine Amtsbezeichnung vorliegt, wie ähnlich der Ministeriale, der an Stelle des edelfreien Burggrafen dessen Rechte ausübt, Graf genannt wird. -- Aus dem Archiv der Burg Altena veröffentlicht F. Schmidt ( 1304) drei Freigerichtsprotokolle des Lippischen Freigrafen Johannes Komen über Freigerichtssitzungen am Stuhl zu »Deytlinckhusen vor der lantwer tor Lippe« vom Jahre 1453 und den Wortlaut einer Verkaufsurkunde von 1394, die Beweisstück gewesen sein mag. Die Angabe über die Lage des Freistuhles ist neu und bei Lindner in dem Buch über die Veme noch nicht verwertet.


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