§ 30. Reichsverfassung bis 1806.

(H. E. Feine.)

Der seit Jahren mit der sog. Reformatio Sigismundi im Auftrag der Münchener Historischen Kommission beschäftigte Herausgeber Karl Beer ( 735) legt einen Bericht über die neugefundene Handschrift der Salzburger Studienbibliothek vor, die sich als ein Vulgatatext erweist, und zwar als der beste bisher erkannte, und eine Anzahl wertvoller Korrekturen ermöglicht, so daß er der künftigen Edition zugrunde gelegt werden muß. Eine nähere Untersuchung der Autorfrage ergibt für B., daß ein Geistlicher nur den ursprünglichen Entwurf verfaßt und ihn dann verdeutscht und erläutert habe; weitergeführt und auf den Umfang von 1439 gebracht wurde die Reformschrift jedoch erst von einem nahestehenden, gesinnungsverwandten Laien. Beide Autoren sucht B. an der Quelle der großen Zeitereignisse, in der Kanzlei des kaiserlichen Statthalters in Basel. -- Nicht ohne Interesse für die allgemeine Geschichte der Frühzeit der Reichsreform ist auch die Arbeit von Hans Stümke ( 343) über die letzten Endes ergebnislosen Reformversuche des zerfahrenen Münzwesens im Deutschen Reiche in der Zeit von 1400 bis 1439 (vgl. auch S. 138).

Das Buch von Bock ( 759) über den Schwäbischen Bund und seine Verfassungen 1488--1534 bedeutet nicht nur eine Bereicherung der landschaftlichen und allgemeinen deutschen, sondern speziell auch der Reichsverfassungsgeschichte. Denn Entstehung, Weiterentwicklung und Ende des Bundes stehen in fortwährender politischer, zum Teil auch rechtlicher Berührung mit der Reichsreformbewegung. Nicht nur, daß die Entwicklung des Bundes im kleinen vielfach die Entwicklung des Reiches selbst teils widerspiegelt, teils durchkreuzt, daß der Bund zu Reichsregiment, Reichskammergericht und Kreisverfassung in fortwährenden unmittelbaren Wechselwirkungen steht, -- die Geschichte der Friedenswahrung, des Heerwesens und der Gerichtsbarkeit des Bundes ist geradezu ein Stück Reichsverfassungsgeschichte. Hat doch der Schwäbische Bund in jenen Jahrzehnten neben Kaiser und Reichsständen als dritte, militärisch höchst beachtenswerte, festorganisierte Macht die Reichspolitik und die schwebenden Verfassungsfragen nachhaltig beeinflußt. Seine Gerichtsbarkeit konnte lange als vorbildlich gelten und hat, wie B. nachweist, neben und unter dem Kammergericht zur Romanisierung der Rechtsprechung nicht wenig beigetragen, zumal seit ihm der Kaiser i. J 1512 eine Sonderstellung im Reiche gewährte, die seinen Einfluß weit über das Bundesgebiet hinaus ausdehnte. Trotzdem die Bundesverfassung von 1488 und ihre sehr bedeutsame Fortentwicklung im zentralistischen Sinn unter steigendem fürstlichen Einfluß in den Jahren 1496, 1500, 1512 und 1522 zum Teil eingehend besprochen wird, liegt das Schwergewicht der Arbeit doch durchaus nicht auf dem institutionellen Gebiet, so sehr sie dieses um neue Einzelzüge bereichert, und kann das Buch daher weit eher eine politische als eine Verfassungsgeschichte des Schwäbischen Bundes genannt werden. Eine seiner Hauptaufgaben, die er zeitweise mit gutem Erfolg und durchgreifenden Maßnahmen ausgeführt hatte, die Landfriedenswahrung, ging in der Folgezeit, vor allem seit der Reichsexekutionsordnung von 1555, auf die Reichskreise über. Der kurze Aufsatz von C. Erdmann ( 1358) schildert auf Grund des Würzburger Aktenmaterials aus diesen Vorgängen das Zustandekommen des Deputationsabschiedes


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von 1564, der bekanntlich eine Verstärkung der Stellung der Kreisobersten in Exekutionssachen brachte, und zeigt, daß dieser Beschluß einen Sieg der ständischen Gewalten in der Reform des Exekutionswesens bedeutete gegenüber einem aus Anlaß der Grumbachischen Händel nicht ungeschickt begonnenen Versuch des Kaisers, die Exekutionsordnung mit Hilfe des Deputationstages abzuändern und durch eine stehende Truppe von 2000 Reitern neben der ordentlichen Kreishilfe sowie die Befugnis, Deputationstage einzuberufen, die Landfriedenswahrung in die Hand zu bekommen. Es konnte kein Zweifel mehr sein, daß eine Entwicklung der Reichsverfassung und Reichsorgane auf friedlichem Wege nur noch im ständischen Sinne möglich war. -- Der Augsburger Religionsfriede liegt jetzt in einer neuen kritischen, gegen die 1. Aufl. 1896 wesentlich erweiterten und verbesserten Form von der Hand Karl Brandis ( 800 a) vor. Die neue Ausgabe enthält vier Texte mit kritischem Apparat, nämlich die gesonderten Entwürfe des Fürstenrats und des Kurfürstenrats, den endgültigen Text des Friedens im Rahmen des Reichstagsabschiedes nach dem privilegierten Mainzer Druck und den vollständigen Text der Deklaration König Ferdinands vom 24. September 1555, die ersten beiden und den letzten nach den urkundlichen Originalen. -- Auf eine weitere, große Aktenpublikation kann hier nur kurz hingewiesen werden, auf den ersten Band der von Max von Bahrfeld ( 355) herausgegebenen Verhandlungen auf den Kreis- und Münzprobationstagen des Niedersächsischen Kreises 1551 bis 1625, der den Kampf um die Einführung der Reichsmünzordnung von 1559 behandelt und neben seinem speziellen münzgeschichtlichen Inhalt auch einen Einblick in das vielgestaltige Leben des Niedersächsischen Kreises gewährt (vgl. auch S. 141).

Zur Geschichte der Reichsverfassung in ihren beiden letzten Jahrhunderten sei hier ein Hinweis auf eine schon im letzten Jahrgang unter Nr. 1798 genannte, dem Berichterstatter erst jetzt zugänglich gewordene Arbeit von Hans Hellmuth gestattet, die den Kampf des Kaisers mit den Reichsständen um das Postregal im 17. und 18. Jhd. behandelt. Es war eine wahrhaft schöpferische Tat, als Kaiser Rudolf II. den Leonhard von Taxis i. J. 1595 zum »General- Obristen-Postmeister« im Heil. Reich ernannte und mit der »Reformation und Verbesserung des Postwesens« betraute, da ein geordnetes öffentliches Postwesen in den Territorien so gut wie völlig fehlte. Zunächst haben die Reichsstände gegenüber der Neuerung eine teils duldende, teils abwartende Stellung eingenommen, deren Gemeinnützigkeit sogar gelegentlich, so i. J. 1637, ausdrücklich anerkannt. Erst nach 1648 steigt der Widerstand besonders dagegen, daß die Reichsanstalt jeden anderen Wettbewerb auszuschalten versucht und unter kaiserlichem Schutz für ihre Beamten weitgehende persönliche Begünstigungen in Anspruch nimmt; in den Ausführungen hierüber liegt das Schwergewicht der Arbeit. Ein Teil der Reichsstände, und zwar die mächtigeren, dem kaiserlichen Arm mehr entrückten, so Brandenburg, Sachsen, Braunschweig, Lüneburg und Hessen, verwehrten dem Taxisschen Unternehmen überhaupt die Aufnahme in ihr Land, während andere, wie Bayern, Württemberg und Baden, zwar dem Kaiser das Recht zur Führung von Reichspostlinien durch ihr Land einräumten, aber hier sich selbst das Recht, Landesposten auch auf den kaiserlichen Linien zu unterhalten, beanspruchten. Nur die kleineren Reichsstände, insbesondere Süd- und Westdeutschland, das »Reich« im engeren Sinne,


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erkannten das Taxissche Vorrecht nach dem kaiserlichen Willen in vollem Umfang an. Auch hierin spiegelt sich ein charakteristisches Stück Reichsgeschichte. -- Auch die im vorigen Bande 1926 bereits genannte ( 1106) Arbeit von Niklot Beste über das Verhältnis Mecklenburgs zu Kaiser und Reich in den Jahren 1763--1806 verdient in diesem Bericht nachträglich einen Hinweis. Zeigt sie doch, welche nicht geringe Bedeutung die Reichsverfassung und speziell der Kaiser noch kurz vor dem Reichsende auch für die kleineren norddeutschen Territorien besaß, die sich nicht wie die großen, vor allem Preußen, Hannover und Sachsen, dem Reichsverband fast völlig entziehen konnten. Auch der innere Gegensatz gegen die Landstände führte den Herzog an die Seite des Kaisers. Namentlich die Bestrebungen des Herzogs um Erweiterung seiner Territorialrechte, vor allem um ein Privilegium de non appellando illimitatum sind verfassungsgeschichtlich interessant.

Eine ungewöhnlich feine und tiefdringende Studie zu den letzten Lebensjahren und dem Untergang des Hl. Röm. Reiches ist die Schrift von Heinrich Ritter von Srbik ( 887), die mit Hilfe wenig oder gar nicht benützter Wiener Archivalien wie der Berichte der beiden Stadion, von Hügels und des Pariser Geschäftsträgers Vincent jene Vorgänge in teilweise neueren tieferen Zusammenhängen erkennen läßt. Mit Recht teilt der Verf. nicht die landläufige, durch einen Namen wie Goethe gedeckte Auffassung von dem Unwert und der Verächtlichkeit des Heil. Reiches in seinen letzten Jahrzehnten, sondern sieht in ihm hohe geistige, dem deutschen Volk auch heute noch unverlorene Werte lebendig verkörpert und spricht von der »Wahrheit, daß das Römische Reich noch immer der politische Körper« -- wenn auch voll Krankheit und Schwäche -- »war, der den hauptsächlichen Lebensraum der altdeutschen und der älteren kolonialen Siedlung des Deutschtums staatsrechtlich in einem Bunde zusammenschloß, dessen Verklammerung mit staatsrechtlich reichsfremdem Gebiet auch das jüngere koloniale Deutschland der deutschbestimmten mitteleuropäischen Raumeinheit eingliederte und der diesen Mittelraum durch östliche und westliche Außenwerke sicherte« (S. 14). So wird sein Untergang zu einem Vorgang von tieftragischer Bedeutung, der auch von der deutschen Mitwelt im großen und ganzen durchaus richtig gewürdigt worden ist (S. 65 ff.). Zwei Akte stehen im Mittelpunkt der Betrachtung, der eine in die Zukunft des 19. Jhds., der andere in die Vergangenheit weisend: Die Annahme der österreichischen und die Niederlegung der römisch-deutschen Kaiserkrone. Ersterer, veranlaßt durch den Wunsch nach dauernder Ranggleichheit mit dem neuen Kaiser der Franzosen auch bei Verlust der Reichskrone, nachdem ein Erbkaiserplan aufgegeben werden mußte, war zugleich der erste Schritt zur Reichsauflösung selbst; denn vollsouveräne Länder im deutschen Reich konnte es nach der Reichsverfassung nicht geben. Waren doch auch die Königskronen, die einzelne Reichsfürsten trugen, nicht auf Reichsländer fundiert. Wozu aber das Haus Habsburg immerhin ein politisches Recht haben mochte, das bedeutete, entsprechend von den Rheinlandstaaten geübt, das unmittelbare Ende des Reiches. Wir sehen jetzt auch aktenmäßig deutlich, wie Napoleon mit allen Mitteln der List, Drohung und Gewalt einen schimpflichen Untergang des Hl. Reiches herbeigeführt und dessen Selbstauflösung Schritt für Schritt sich zwar nicht in verfassungsmäßigen Formen, wohl aber unter stärkstem auswärtigem Druck vollzogen hat (vgl. auch das Referat S. 231).


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