1. Wenn wir die im Jahre 1927 erschienene Literatur zur Gesamtentwicklung der kirchlichen Verfassung des MA. überblicken, so teilt sie sich in zwei Hauptgebiete: eine Reihe von Arbeiten (Nr. 1694, 1695, 1696, 1703) behandelt die Entwicklung der kirchlichen Verfassung und des kirchlichen Rechtes im wesentlichen unter dem Eindrucke des neuen jus canonicum, mehr nach systematischen oder praktischen Gesichtspunkten. Die andere Gruppe, die sich mehr historisch mit einzelnen Erscheinungen der ma. Kirchenverfassung beschäftigt, hat weit weniger große und zusammenhängende Arbeiten aufzuweisen als die erste. Für die Jahresberichte der deutschen Geschichte können jedoch die ersteren Aufsätze nur teilweise herangezogen werden, da sie viel mehr in das Gebiet der Rechtswissenschaft als das der Geschichte gehören.

Unter der ersteren Gruppe ist zunächst ein Aufsatz von Köstler ( 1695) zu nennen, der in kurzen klaren Zügen einen Überblick über die Gliederung und das Wesen des neuen kirchlichen Rechtes gibt. Soweit die Verquickung von Recht, Moral und Dogmatik, die Unterscheidung allgemeiner Gesetze und Statuten für einzelne Gruppen, der Privilegien und Dispense auch für das MA. zutrifft, werden diese klaren, knappen Definitionen auch für unser Gebiet in Betracht kommen. Denselben Gegenstand in viel breiterer Anlage behandelt Rinander ( 1696). Er erörtert in drei großen Abschnitten den Kirchenbegriff des kanonischen Rechtes, sein Wesen und seine Vorstellung vom Klerus. Wie schon die Begriffsgliederung zeigt, kommt es auch hier im wesentlichen auf die soziologischen und juristischen Begriffe an; Rinander nimmt jedoch stets Bezug auf die Geschichte. Im ersten Abschnitt geht er von dem Satze aus, daß die Kirche eine Gesellschaft sei, die als societas perfecta et inaequalis zu bezeichnen ist. Er untersucht darauf die Stellungnahme der gesamten älteren und neueren Literatur zum Kirchenbegriff und schließt sich dann im wesentlichen der Auffassung von Sohm an, der im 12. Jhd. als Folge des Investiturstreites eine wesentliche Veränderung im Kirchenrecht zu erblicken glaubt. Er sucht diese Auffassung, die er sich zu eigen macht, durch Belege aus Schriftstellern des 12. Jhds. ausgehend von Hugo von St. Viktor und von der ursprünglichen Vorstellung der doppelten christlichen Welt, wo an der Spitze der einen der Kaiser und an der Spitze der andern der Papst steht und die einander beigeordnet sind, zu belegen. Im zweiten Abschnitt handelt es sich ihm darum, wieder von der modernen Auffassung des kanonischen Rechtes, die in diesem eine Art öffentlichen Rechtes, aber auch privatrechtliche Satzungen vorfindet, ausgehend den Wandel im 12. Jhd. nachzuweisen. Wieder wird Sohm, der im älteren kirchlichen Rechte ein im wesentlichen religiöses »Sakramentenrecht« sieht. zitiert und wird versucht, von hier aus die Ungleichartigkeit des kanonischen Rechtes als teils öffentliches und teils privates Recht auf seine Wurzeln zurückzuführen. Im dritten Abschnitt wird der tiefgehende Unterschied, den


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wir am Anfang in der Definition der »societas inaequalis« kennengelernt haben, der Priester und Laien trennt, einer näheren Behandlung unterzogen. Wieder geht der Verfasser von den modernen Kanonisten aus und kommt erst im Laufe der Abhandlung auf die Vorstellungen des Thomas von Aquino. Er schließt damit, daß er das kanonische Recht eben in diesen Zuspitzungen, die er besonders erörtert hat, als eine der Wurzeln des modernen öffentlichen Rechtes erklärt. In dieselbe Richtung gehört der Aufsatz von Hashagen ( 1693). Er versucht darzutun, daß die Einflußnahme der weltlichen Gewalten auf die Kirche nicht erst im Spät-MA. wurzle, sondern auf die Anschauung zurückgehe, »daß der Fürst sein Amt direkt von Gott habe«, so daß entweder »der Laieneinfluß auf die Kirche« ... »als Pflicht erkannt und gepriesen« wurde, oder »dem Fürsten als dem Beamten, Beauftragten und Stellvertreter Gottes« ein »sakraler, gottähnlicher ... Charakter« beigelegt wurde. Leider hält sich der Aufsatz nur bei der Theorie auf, von einzelnen Belegen da und dort abgesehen, so daß vor allem der tiefgreifende Unterschied, der die Stellung des Kaisers gegenüber der Kirche bis zum Investiturstreit von der Staatsauffassung des späteren MA. trennt, nicht in der Weise zur Geltung kommt, wie man es wünschen möchte. Wurzelt die ältere Auffassung in der Gedankenwelt der »civitas dei« Augustins, die das Kaisertum und das Papsttum nur als zwei in Wechselwirkung stehende Spitzen der einen Christenheit kennt, so wurzelt das Staatskirchentum des Spät-MA. einerseits in der immer stärkeren Konzentration aller Rechte im Staate gegenüber den universalen Gewalten, andererseits auf dem aus den Ereignissen des 15. Jhds. (konziliare Idee, Klosterreform) hervorgegangenen Reformationsrecht der Fürsten.

Während diese drei Aufsätze im wesentlichen theoretisch bleiben, sucht v. Schubert ( 1694) in einer großen Synthese die Entwicklung des Verhältnisses des geistlichen Rechtes gegenüber dem Rechte der Staaten vom Römischen Reich bis zur Gegenwart zu zeichnen. Als Ausgangspunkt dienen ihm die beiden Briefe Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. am Anfang des Investiturstreites, wo einerseits der Papst dem König mit Absetzung droht, andererseits dieser die Abdankung Gregors fordert. Das geistliche Recht, sagt er, entstand mit der Kirche, die in den alten heidnischen Staat hineinwuchs, der gerade damals einer allmählichen Vereinheitlichung durch das römische Staatsrecht ausgesetzt war, das unabgeschlossen sich auf ein allgemeines, ethisch begründetes Menschenrecht hinentwickelte. Daß es gerade im Christentum zu einer eigenen Rechtsentwicklung kommen mußte, bedingen nach Schubert folgende Tatsachen, »die alle drei den jüdischen Mutterboden verraten«: 1. im Charakter des Christentums als einer sittlichen Religion; 2. in der absoluten Verbindlichkeit aller »Lebensregelung ... weil sie von dem höchsten Gotte stammte«. 3. In der gleichmäßigen Durchbildung des bischöflichen Amtes. Die Christenverfolgungen sind ihm der erste Kampf zwischen beiden Rechten; »das Ergebnis war die Kapitulation des Staates vor der Kirche«, die schließlich durch die geschickte Politik der Kaiser zur »Staatskirche Justinians« führte. In diese weit überspitzten Formeln glaubt er die Entwicklung des Morgenlandes bannen zu können. Die Entwicklung des Abendlandes scheint ihm entgegengesetzt zu verlaufen, wo seit dem 5. Jhd. »der in den Kampf hineingestellte, auf seine eigene Kraft angewiesene Rechtsorganismus der Kirche die straffere, monarchische Krönung durch das Papsttum empfing«.


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Der Steigerung der kirchlichen Rechtsansprüche sieht er die Macht der Frankenkönige gegenübertreten, »dort (in der Kirche) war die Idee, hier das Leben«. Die Stärke dieser germanischen Mächte ist einerseits an die Heiligkeit gewisser germanischer Fürstengeschlechter geknüpft, andererseits geht »Königsrecht vor Bischofsrecht«. Gerade hier vermißt man den Hinweis auf die Möglichkeit des Weiterwirkens des spätrömischen Staatskirchentums und die Zunahme der politischen Bedeutung des Bischofsamtes als des einzigen von der Bürokratie von Byzanz unabhängigen. Eine weitere Seite germanischen Königsrechtes ist das Eigenkirchenrecht mit allen seinen Teilerscheinungen. Er überspringt die deutsche Kaiserzeit, von der er ausgegangen war und sieht den Sieg des kirchlichen Rechtes in dem Bündnisse des Papstes mit dem Adel und der cluniacenischen Bewegung. Nun zeichnet er die Gegenentwicklung, ausgehend von dem Attentat von Anagni 1303 bis zur Reformation. »Drei positive Gründe für diese Erstarkung des weltlichen Rechtes« führt er an: die Fortdauer germanisch-eigenkirchlicher Tendenzen in den Territorialstaaten, verbunden mit dem Auftreten eines nationalen Rechtes in England und Frankreich, dann »den Einfluß des wieder entdeckten weltlichen römischen Rechts«, den bei Marsilius von Padua beginnenden modernen Staatsgedanken, sowie die Staatspersönlichkeit: »auch vom Staate überhaupt konnte man sagen, er sei von Gott«. Dagegen stellt er die Schwäche des geistlichen Rechtes im Mangel einer politischen Macht, und den Komplikationen des Schismas und der konziliaren Idee. Es führt über den hier gesteckten Rahmen hinaus, wollte man die Fortsetzung, in der Schubert die Reformation, die Entwicklung der Gewissensfreiheit und Demokratie vom napoleonischen Staat bis zum Kulturkampf zeichnet und ihr das Trienter Konzil, die Tätigkeit der Päpste der Gegenreformation und die Entwicklung von Pius IX. bis zur Gegenwart entgegensetzt, hier näher behandeln. Man empfindet in der Zuspitzung am Schlusse allzusehr eine Tendenz des Ganzen auf die augenblicklichen kirchenpolitischen Fragen im deutschen Reiche. So blendend die Darstellung im ganzen und so klar die einzelnen Punkte herausgehoben sind, so erscheint es doch wohl nicht unangebracht, hier anzudeuten, daß das geistliche Recht jedesmal dann das Übergewicht erhielt, wenn das weltliche Recht den moralischen Vorstellungen der herrschenden religiösen Strömungen nur mangelhaft entsprach. Daneben könnte man noch darauf verweisen, daß die byzantinischen Einflüsse auf die Staaten der Völkerwanderung und auf die Kaiseridee Karls des Großen, sowie die jahrhundertelange Unterwühlung der ma. Kirche durch die von Bosnien kommende katharische Bewegung wohl ebenfalls zu den wesentlichen Momenten gehören, die in einem solchen Entwicklungsbilde nicht fehlen sollen. Ist doch der Gegensatz von Kirche und Staat, wie wir ihn heute kennen, durchaus nicht etwas zu allen Zeiten Selbstverständliches, sondern in der Geschichte wohl zuerst in der Ketzerbewegung des Hoch-MA. ausgedrückt. Der radikale Dualismus dieser zeitweise u. a. in Oberitalien herrschenden Strömung, der die »Electi« viel schärfer von den Laien scheidet, als in der katholischen Kirche, hat die weder in Byzanz noch in Westrom noch bei den germanischen Königen und deutschen Kaisern bekannte Idee der Trennung von Kirche und Staat mächtig befördert. Daß zeitlich in Oberitalien Ketzerei und Wiedererwachen des römischen Rechtes zusammenfielen, ermöglichte die juristische Zuspitzung und den italienisch-nationalen Charakter dieser Idee.

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An diese Arbeiten, die zum Teil durch das Erscheinen des neuen Codex des Jus Canonicum ins Leben gerufen sind, schließt sich die Arbeit von Hanser ( 1703). Derselbe bespricht das nunmehr geltende Recht für den Gebrauch der Pontifikalien bei den Äbten, und entwickelt im Anschlusse daran ganz kurz, wie dieses Recht aufkam. Die älteste Verleihung der Pontifikalien ist die 986 datierte an das Kloster Ciel-d'oro in Pavia und die von 993 an Bremen, beide in ihrer Echtheit bestritten. Die ersten vollkommen sicheren Verleihungen sind die an Canterbury 1063 und an Echternach 1069. Noch 1046 hat Papst Klemens II. dem Abt von Fulda die Verleihung abgeschlagen. Eine endgültige Regelung dieses Gebrauches erfolgte zuerst 1256 und bald darnach unter Papst Klemens IV., der erklärte, daß den Äbten die Pontifikalien nicht wegen ihrer Person, sondern wegen der Bedeutung ihrer Kirchen zukämen.

Unter den Aufsätzen, die sich mit der Entwicklung des Jus Canonicum im einzelnen befassen, ist zuerst der von Holtzmann ( 1699) zu nennen. Er bespricht zwei bisher nicht bekannte Dekretalensammlungen; die eine, die er Collectio Dertusensis nennt, hat Kehr in der Bibliothek des Domkapitels von Tortosa im Codex 144 entdeckt. Sie ist um 1200 geschrieben und enthält 72 Briefe, die auf 150 Kapitel verteilt sind. Neun Briefe, die ungarische und spanische Angelegenheiten betreffen, sind bisher unbekannt gewesen. Die ungarischen Briefe datiert H. nach dem Tode des als verstorben erwähnten Kardinalbischofs Manfred auf ungefähr 1179. Er nimmt an, sie seien aus dem Register Papst Alexander III. ausgezogen, während die spanischen Briefe von den Empfängern an den Sammler gelangt sein könnten. Die Hälfte aller Dekretalen glaubt er vor 1179 ansetzen zu können. Die ganze Sammlung müßte um diese Zeit herum in Italien entstanden sein. Ein Exkurs bringt eine neue Datierung, für Brief 5 (J.-L. Nr. 14 066), der entgegen Kehr auf 1171 oder 1172 gesetzt wird. Im Anschlusse an den Aufsatz folgt eine Inhaltsübersicht, in der die Nummern 25, 30, 57, 62 bis 69 und 73 vollständig abgedruckt sind, eine Tabelle erleichtert den Vergleich mit Jaffés Regesten und anderen Dekretaliensammlungen. Eine zweite Sammlung wird dann als Collectio Aurevallensis (von Orval) eingeführt. Sie befindet sich heute in Luxemburg im Codex Nr. 30, ist ebenfalls um 1200 geschrieben und enthält 186 Kapitel, von denen 28 ganz oder teilweise doppelt erscheinen. Die Wiederholungen lassen sich infolge einer Änderung im Aufbau auf die Kompilation zweier Sammlungen zurückführen. H. glaubt infolge Übereinstimmung der Kapitel 52 bis 128 mit der Bambergensis die Handschrift für ein Zwischenglied zwischen Parisiensis II und Bambergensis erklären zu können, während der erste Teil mit Parisiensis I verwandt zu sein scheint. Durch ein Versehen wurde ein Dekretal Alexander III. Lucius III. zugeschrieben, woraus sich ergibt, daß die Abfassungszeit frühestens in dessen Pontifikat fällt. Da die Bambergensis in Frankreich entstanden sein soll, ist es ohne weiteres möglich, daß diese Collectio in der Gegend entstand, aus der die Handschrift stammt. Unbekannte Dekretalen enthält sie nicht. Auch hier ist eine Tabelle zur Übersicht beigefügt. Nicht weniger interessant sind die Dekretglossen, die Gilmann ( 1698) im Codex 419 der württembergischen Landesbibliothek durch Hinweis von Chroust gefunden hat. Auch sie entstand ungefähr in derselben Zeit, wie die vorerwähnten Dekretalensammlungen. G. glaubt aus verschiedenen Einzelheiten auf Entstehung derselben in der Kirchenprovinz Sens, vielleicht in Paris schließen zu können. Der Verfasser


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der Glossen erwähnt, daß er vorher eine Summa zum Dekret geschrieben habe. Die Glossen zitieren außer der heiligen Schrift die Dekrete des Burkard von Worms, benützen zahlreiche Dekretalen Papst Eugen III. und Alexander III., außerdem die Formel des Bischofseides angeblich nach Gregor dem Großen und einen Erlaß Urban II. über den Klerikereid. Zweimal werden die Institutionen, mehrere Male der Codex und die Digesten zitiert, mehrfach die Kirchenväter und einmal Seneca. Diese Glossen waren eine Quelle der Summa Lipsiensis und der Glosse des Huguccio. Als interessante Auffassung des Autors werden z. B. hervorgehoben: nur die Canones der allgemeinen Konzilien seien vom hl. Geiste eingegeben. Hingegen rede derselbe keineswegs immer aus den Kirchenschriftstellern. Der Verfasser beschäftigt sich dann weiter ausführlich mit der Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit und glaubt, eine Absetzung des Papstes sei nur in jenem Falle möglich, wo derselbe eine bereits von einem Konzil verurteilte Lehre wiederhole. Dagegen seien seine literarischen Erzeugnisse nicht anders zu werten als bei jedem anderen Kirchenschriftsteller. Weiter ist interessant, daß der Verfasser der Glossen die Übertragung des Imperiums an Karl den Großen mit der mangelnden Unterstützung zusammenbringt, an der es die byzantinischen Kaiser gegen die »Heretici« hätten fehlen lassen (d. h. aus dem Bilderstreit). Ausführlich handelt er über das kirchliche Dispensationsrecht, dieses sei nur eine Milderung der Strenge, widerspreche also dem Kanon nicht. Über das Verhältnis von Kirche und Staat meint er, der Papst hätte beide Gewalten in seiner Hand vereint, könne jedoch auch einem Laien erlauben, über Kleriker zu richten. Ebenso ist er der Ansicht, daß Papst und Bischöfe zur Ausübung ihrer Gerichtsbarkeit diese einem Laien übertragen können. Die geistliche Gerichtsbarkeit erstrecke sich über Zehente, Wucherzinsen (usuris) und Opfergaben (oblationibus) u. dgl. Die Gewalt des Fürsten werde ihm vom Volke übertragen. Bezüglich des Taufsakramentes meint er, hierbei sei der Wille des Getauften nicht erforderlich. Hinsichtlich der Konsekration der Eucharistie weicht er von der Ansicht ab, daß Christus dieselbe durch das Aussprechen der Worte vorgenommen habe. Auch hält er Ablässe, die durch Spenden für Arme und Gefangene gewonnen werden, für wertvoll.

Unter den Aufsätzen, die sich mit Einzelfragen der Kirchenverfassung des MA. beschäftigen, ist unbedingt die große Arbeit von Pöschl ( 1697) an die Spitze zu stellen, jedenfalls der wichtigste und interessanteste Aufsatz, der in diesem Jahresbericht besprochen werden kann. Pöschl will die Inkorporation neuerlich untersuchen und ihre historische Entwicklung zeichnen. Ausgehend von »der ungeheuren Mannigfaltigkeit der Einzelerscheinungen« im ma. Rechtsleben will P. die »Ausgestaltung der verschiedenen Abhängigkeitsverhältnisse der geistigen Anstalten und der dort eingerichteten Ämter untereinander« unersuchen. »Die seit dem 13. Jhd. aufkommenden sogenannten Inkorporationen kirchlicher Anstalten und Ämter« hätten, wenngleich sie aus den »Verhältnissen eben dieser Zeit« hervorgegangen wären, ähnliche ältere Vorläufer. Die Kompliziertheit dieser Abhängigkeitsverhältnisse wird an verschiedenen Beispielen z. B. Monte Cassino geschildert, ihr Wandel angedeutet. Es entstehen dadurch Abhängigkeitsverhältnisse, die »außerhalb der hierarchischen Ordnung« liegen. Die Verschiedenheit ihrer Entwicklung liege in der konkreten Wirtschaftslage. Einverleibungen wurden zum Nutzen der einverleibten Institute vorgenommen. Etliche Beispiele dienen zum Beleg, worunter die Aufhebung


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von Inkorporationen wegen Schädigung eines Stiftes, dem die Pfarren einverleibt wurden (Bellelay, Diözese Basel) das Treffendste zu sein scheint. P. glaubt »eine viel stärkere Berücksichtigung der Konventualkirchen« gegenüber den niedrigen Kirchen sei »in der Darstellung des ganzen Erscheinungskomplexes notwendig«. Die Entwicklungsstufen seien durch die wirtschaftliche Stellung des Kirchengutes als Verbrauchswirtschaften oder Produktionswirtschaften und durch deren Überschüsse bedingt. Darnach scheidet P. zwei Stufen, die eine bis zum 12. Jhd. reichend, die andere das späte MA. umfassend. Mit Berufung auf sein Werk über das Bischofsgut wird die »weitverbreitete Anschauung« abgelehnt, als hätten ursprünglich sämtliche Diözesankirchen mit der Bischofskirche wirtschaftlich und rechtlich eine Einheit gebildet, und die kühne Behauptung aufgestellt: »die Quellen aber wissen von alledem nichts«. Die vom Verfasser angeführten Urkunden, meist Königsurkunden von den Karolingern an, entsprechen allerdings dieser These. Der Ursprung der bischöflichen Klöster, wird dann weiter ausgeführt, »geht stets wie der der übrigen bischöflichen Güter ... auf privatrechtlichen Erwerbsoder Gründungsakt zurück«. Auch bei italienischen Klöstern auftauchende Unterscheidungen zwischen Klöstern, die nach römischem und solchen, die nach langobardischem Recht lebten, bedeute hier nichts. Noch im 8. Jhd. habe die Unterordnung eines geistlichen Instituts unter ein anderes nur eine rechtliche Bindung des untergeordneten Institutes zur Folge. Es stellen sich jedoch immer häufiger Verhältnisse ein, in denen das untergeordnete Institut dazu diene, dem übergeordneten Erträgnisse zuzuführen. Der »Verweltlichungsprozeß« des Kirchengutes durch die Benefizialleihen und durch die Ausnützung seitens des Reiches hätte am Ausgang der karolingischen Periode seinen Höhepunkt erreicht. Die Abhängigkeitsgrade sind nun stark abgestuft: Neben Klöstern mit eigenen Äbten stehen solche, in denen der Oberherr auch Abt dieses untergeordneten Klosters ist, dann andere, die zu Zellen herabsinken. Seit dem 10. Jhd. mache sich eine Gegenströmung bemerkbar. »Die gegenwärtig weitverbreitete Annahme einer allgemeinen Zunahme und Verstärkung der Abhängigkeit der Konventskirchen von geistlichen oder weltlichen Herren zum Zwecke deren wirtschaftlicher Ausbeutung vor dem Investiturstreit ist in dieser Fassung vollkommen irrig.« (?) Durch die verschiedensten Privilegierungen werden hier Sicherungen gegenüber Übergriffen des Oberherrn gewonnen. Unveräußerlichkeit der Güter, Teilnahme an der Immunität der übergeordneten Kirche, freie Vogtwahl, seien die Mittel, die zu dieser Sicherstellung dienen sollten. Das Eigentum der Bischöfe an bischöflichen Klöstern werde zu einem bloßen Schutz. »Daher kann man in den Pertinenzverhältnissen des früheren MA., besonders in den Übertragungen von Kirchen und Klöstern an Bischofskirchen nur in sehr beschränktem Maße Vorläufer der späteren Inkorporationen sehen.« Daneben erkennt P. doch auch an, daß es auch gegenteilige Fälle gebe. Was für die bischöflichen Kirchen gelte, sei auch auf die Reichsklöster und die diesen untergeordneten Kirchen auszudehnen. »Im ganzen kann es m. E. keinem Zweifel unterliegen, daß die Annahme einer weit ausgedehnten Herrschaft über diese Institute von der Grundlage des Eigentums aus, wie sie gegenwärtig namentlich für die Zeiten vor dem Investiturstreit verbreitet ist, ganz erheblicher Einschränkungen bedarf.« Kurz faßt sich P. über die »Niederkirchen«. Er betont bei diesen die häufig vorkommende Unfreiheit der Priester,

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die eine erhöhte Abhängigkeit bedingt hätte, vergleicht die Niederkirchen mit kleineren Fronhöfen der Klöster, wogegen in anderen Fällen der Priester die Nutzung des Gutes habe, und erwähnt die seit dem 10. Jhd. auftauchende Scheidung einzelner Altäre von den Kirchen. Er beschließt den I. Teil des Aufsatzes mit der Schilderung des Verhältnisses abhängiger Hochkirchen gegenüber anderen Hochkirchen (Ravenna, Aquilea und deren Suffragane, Salzburger Filialbistümer) und betont die Herkunft der »späteren eigentlichen Inkorporationen aus anderer Wurzel«. Im Gegensatze zu diesen Verhältnissen bis 1200 wird nun die Inkorporation des späteren MA. behandelt. P. meint, sie sei aus dem Lehenrechte eingedrungen. »Das durchaus Charakteristische aller Inkorporationen ist die Einbeziehung des Vermögens kirchlicher Ämter und Anstalten in ein Tafelgut.« Sie »finden in der bleibenden Einrichtung der Lehen, der damals allgemein durchgeführten Scheidung der Tafelgüterbestände gegenüber dem verlehnten Teile des Herrengutes erst seine Entstehungsgrundlage.« Davon unterscheidet P. die bloße Herrschaft der übergeordneten Kirche über die Temporalien der Untergeordneten. Die Abschließung des Mensalgutes zu einem Corpus gegenüber dem verlehnten Gut wird besonders betont, und an Beispielen erörtert, auch die kanonistische und feudistische Literatur des 15. bis 17. Jhd. herangezogen, die die Aufnahmen verlehnter Güter in das Corpus der Tafelgüter ganz wie P. Inkorporation nennt. Das sei durch den allmählichen Übergang der Kirchenlehen in Benefizien befördert worden. Kirchen, deren Abhängigkeit aus älterer Zeit sich erhalten hätten, seien deswegen noch nicht inkorporiert. P. unternimmt den Versuch, nachzuweisen, daß die Prälaten solcher von früher her einzelnen Bistümern untergeordneten Klöster als Lehensleute des betreffenden Bischofs gegolten hätten. Z. B. in Speyer und Bamberg, wobei ihm der damalige Sprachgebrauch, der von »Kirchenlehen« spricht, entgegenkommt. Ja, er kann dartun, daß das Kloster Moggio (nicht wie P. sagt Mosacio) 1354 zum geistlichen Unterfürstentum des Patriarchenstaates Aquilea erhoben wurde. Das dürfte indessen mit der noch viel zu wenig untersuchten herzoglichen Gewalt des Patriarchen in Friaul zusammenhängen. P. fährt also fort, die Inkorporation sei ein engeres Verhältnis als Temporalherrschaft oder Patronat oder der Besitz von Kirchen »in spiritualibus et temporalibus«. Keine eigentliche Inkorporation liege vor, bei »Einbeziehung von geistlichen Ämtern und Anstalten ... für Zwecke anderer Institute« sowie in Vorbehalten einzelner Ämter für Stiftsmitglieder oder in der Erwerbung des Patronatsrechtes. Er spricht hier von vorübergehender Inkorporation. Trotzdem er sich im wesentlichen an den Sprachgebrauch des späten MA. hält, klagt auch er über manchmal entstehende Ungenauigkeiten in demselben. Eine Kritik dieser Ausführung muß davon ausgehen, daß P. seine ganzen Ausführungen erst bei 700 beginnt, und als Beleg für dieselben bis etwa 1100 fast nur Kaiser- und Königsurkunden benützt. Dabei gesteht er selbst ein, daß er den Schwerpunkt auf die Rechtsverhältnisse der Klöster und Stifte legen wolle und damit die niedern Kirchen vernachlässigt. Trotzdem unterläßt er es, das Verhältnis zum Vogte, das namentlich bei den Klöstern des 11. Jhd. ein wesentlich anderes Bild ergeben würde, als er es zeichnet, zu behandeln. Diese Tatsache sowie das Übergehen der zahlreichen Privaturkunden der Frühzeit muß naturgemäß zu einseitigen Schlüssen führen. Hingegen scheint seine Auffassung über die Inkorporation des späteren MA. eine gute und klare Darlegung der damals herrschenden

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Meinung über dieses kirchenrechtliche Verhältnis ohne Rücksicht auf dessen Entstehung zu bieten. Daß P. glaubt, er habe durch seine die wirtschaftlichen Verhältnisse als Hauptbedingung der Rechtsverhältnisse hinstellende Theorie die Meinung, daß von der Völkerwanderung bis ins 12. Jhd. das germanische Eigenkirchenrecht die kirchlichen Rechtsverhältnisse beherrscht habe, überflüssig gemacht, ist wohl eine gewaltige Überschätzung dieser wirtschaftlichen Verhältnisse. Es ist vielmehr so, daß man einen entscheidenden Einwand gegen das Eigenkirchenrecht aus P. Ausführungen nicht wird gewinnen können, ganz abgesehen davon, daß so zufällige Umstände, wie es schließlich geistigen Mächten gegenüber die wirtschaftlichen Verhältnisse sind, nicht imstande sind, eine so tiefgreifende und so viele Tatsachen erklärende Strömung, wie sie die geniale Konzeption von Stutz annimmt, ersetzen könnten. Bei P. kommen der geistige Strom, der im 8. und 9. Jhd. die iro-schottischen Klöster und deren Verwandte entstehen läßt, und der ganz andere Strom, den die cluniacensische und hirsauische Reformbewegung des 11. Jhd. bedeutet, und die jeweils damit zusammenhängenden aus der Art der geistigen Bewegung geborenen Rechtsverhältnisse zu kurz.

Wertvoll ist der kurze Beitrag von Testi-Rasponi ( 1701); an Hand der Justinianischen Gesetze wird dargetan, daß im 6. Jhd. die fünf großen Patriarchen den Titel »patriarcha et archiepiscopus«, einige Bischöfe des Orients, die auf sehr alten Bischofstühlen sitzen, den Titel »patriarcha« führen, den ja auch Gregor von Tours ein paarmal dem Bischof von Lyon gibt, während der Titel »archiepiscopus« ungefähr dem entspricht, was die orientalische Kirche später einen autokephalen Erzbischof, die abendländische einen Primas nennt. In diesem Sinn führen den letzteren Titel die Erzbischöfe von Thessalonike, Karthago und Arles innerhalb des römischen Patriarchates. Den Hauptbeweis bildet Novelle 131 vom 18. März 545. Seit 553 führt, vielleicht infolge der Abreise des Papstes Vigilius, der Erzbischof Maximian von Ravenna diesen Titel. Dieser Nachweis ist sowohl zum Verständnis der Entstehung des Patriarchats Aquileja 567 wie der frühesten Pallienverleihungen und -fälschungen (Arles) von großem Wert, beleuchtet wohl noch die Entstehung der Erzbistümer des 8. und 9. Jhd. (Chrodegang, Drogo usw.) und stützt Buchners Ansichten doch in etwas. Geringere Bedeutung haben Berlières Zusammenstellungen über die Abtwahlen des MA. ( 1702) für die Deutsche Geschichte. Es ist eine bald mehr, bald weniger verhüllte Statistik des Auftretens der verschiedenen Formen der Erhebung durch freie Wahl, Kompromiß, Postulation u. dgl., zu der deutsches und französisches Material ungefähr gleichmäßig herangezogen ist.

Der Aufsatz von Levillain ( 1281a) über die merowingischen Immunitäten gehört nur mittelbar hierher, betrifft eigentlich staatliche Verfassungsgeschichte. L. ist von Kroell abhängig und scheint die deutsche Literatur nur dem Namen nach zu kennen. Während Kroell die Formel der Merowingerurkunden »sub integra immunitate« als Freiheit von jeder öffentlichen Leistung deutete und diesen Urkunden die eigentlichen Immunitätsverleihungen gegenüberstellte, sucht L., m. E. mit Recht, darzutun, daß es sich in beiden Fällen um dasselbe, nämlich um eine der Rechtsstellung der Fiskalgüter entsprechende Niedergerichtsbarkeit handle. Somit bleibt der Ertrag an Untersuchungen über einzelne Seiten der kirchlichen Verfassungsgeschichte des MA. eigentlich ein verhältnismäßig geringer.


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