I. Allgemeine Reformationsgeschichte.

Brandis ( 787) Darstellung der deutschen Geschichte vom Spätmittelalter bis zum Augsburger Religionsfrieden, nach seinem eigenen Urteil des »bewegendsten und trotz so vieler Enttäuschungen an Menschen und Vorgängen größten Abschnittes unserer deutschen Geschichte«, muß, obwohl sie bereits im Bericht über die politische Geschichte besprochen ist (vgl. S. 211), unter kirchengeschichtlichem Gesichtspunkt hier nochmals hervorgehoben werden als eine die seitherige Forschung zusammenfassende und in den politischen Teilen, besonders in den späteren Kapiteln (Karl V.) durch eigene Archivstudien weiterführende Gesamtdarstellung, die auch das in unseren kirchengeschichtlichen Darstellungen gebotene Bild vielfach ergänzt und stellenweise berichtigt. Man hat theologischerseits moniert, daß tatsächlich nicht Luther, sondern Karl V. der Held dieser Darstellung sei, und hat Br. Historikern wie G. Ritter (vgl. dessen »Luther«; 1821) oder Joachimsen gegenübergestellt, wobei man aber m. E. gegenüber dem aus dem Aufbauplan des Gesamtunternehmens der »Deutschen Geschichte« sich ergebenden äußeren Aufbau die innere Haltung Br.s nicht genügend beachtet. Betont Br. durchweg grundsätzlich den Zusammenhang des Religiösen mit der ganzen Breite der historischen Lebensvorgänge, so zeigt er anderseits ein Verständnis für die Triebkraft der religiösen Ideen und der religiösen Persönlichkeiten


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jener Zeit, das seine Darstellung weit über die rein politische Geschichtschreibung, wie sie etwa Fueter in seiner Geschichte des europäischen Staatensystems von 1492 bis 1559 (i. J. 1919) geboten hat, hinaushebt. Neben Politik, Kulturgeschichte, politischer Verfassungsgeschichte, Bildungswesen u. dgl. finden außer Luther, dessen Cranachstich v. J. 1520 den Band eröffnet, und dessen Name immer wieder begegnet, auch die anderen Träger der religiösen und kirchlichen Bewegung und die innerkirchliche Entwicklung in Br.s Geschichtserzählung bei aller Kürze plastische Zeichnungen, und das Ringen um den religiös-sittlichen Gehalt der Kirche wie um die Form der Kirche gehört für Br. durchaus zu dem entscheidenden und die Folgezeit bestimmenden Inhalt der Reformationszeit, deren epochale Bedeutung er gegenüber einer Überwertung der Aufklärungszeit gerade um ihrer religiösen Kräfte willen stark betont. -- Diese Frage der Bedeutung, auch der »Kulturbedeutung« der Reformation beherrscht mehrere der Aufsätze H. Boehmers, die sein Bruder Rudolf B. zu einem Sammelband ( 147) zusammengefaßt und damit einer größeren Öffentlichkeit erschlossen hat. Im Hintergrund steht dabei, ausgesprochen oder nicht ausgesprochen, der Gegensatz zu Troeltschs Geschichtsbild, sowohl bei der Bestimmung des Wesens der Reformation im Vergleich mit dem Typus katholischen Christentums, als dessen Repräsentant B. im ersten Aufsatz Ignaz von Loyola Luther gegenüberstellt, als auch bei der Herausarbeitung der Kulturbedeutung des Luthertums verglichen mit der des Calvinismus im zweiten Aufsatz. Beide Male tritt übrigens B.s Abneigung gegen die Erfassung historischer Vorgänge auf dem Wege von »Abstraktionen«, in denen »die mystischen Begriffe« Idee, Prinzip, Geist eine vorwiegende Rolle spielen, in charakteristischer Weise hervor. Das hat die Kehrseite, daß er stark konkrete Bilder des »Tatsächlichen«, Besonderen, Individuellen zeichnet, aber auch den Nachteil, daß weiterreichende, noch nicht gleich geformte, »ideelle« Wirkungen oft unbeachtet bleiben. Der zweitgenannte Aufsatz ist von programmatischer Bedeutung, weil er im Gegensatz zu der vorherrschenden »westlichen Orientierung unserer kulturgeschichtlichen Studien« auf die Notwendigkeit energischerer kulturhistorischer Erforschung der lutherischen Gebiete (auch der skandinavischen) hinweist und selbst eine Einzelfrage aus diesem Gebiet in Angriff nimmt, die zu dem von Max Weber und Troeltsch eingehend behandelten Thema: Wirtschafts geist der Konfessionstypen gehört. Er verfolgt die auch in lutherischen Gebieten schon früh einsetzende wirtschaftliche Unternehmungslust und arbeitet dabei ein Doppeltes als etwas dem Calvinismus Überlegenes heraus: einerseits die allgemeine mehr innerlich und geistig interessierte Einstellung des Luthertums, anderseits dessen persönlichere Wertung der Arbeit wie der Arbeitnehmer im Unterschied von der Profitrichtung und dem kapitalistischen Klassenbewußtsein der Besitzenden als der »Erwählten« auf calvinistischer Seite. Leider ist die Studie so wiedergedruckt, wie sie 1921 zuerst veröffentlicht war. B. selbst hätte sich gewiß z. B. die wertvollen Untersuchungen Uttendörfers über den Herrnhuter Wirtschaftsgeist (vgl. den Bericht 1925, S. 414 f.; 1926, S. 480) als Ergänzung seines nur schmalen Beobachtungsfeldes nicht entgehen lassen.


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