II. Luther.

Von der Weimarer Lutherausgabe sind in unserem Berichtsjahr zwei Bände erschienen, außer dem 48. Band ( 1820) auch die zweite Abteilung des 17. Bandes, die den Druck der Lutherschen Postillen weiterführt.


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Sie bietet, abschließend von G. Buchwald bearbeitet, die Fastenpostille von 1525 mit bibliographischer, literarischer und sprachgeschichtlicher Einleitung sowie von der Postillenreihe Stephan Roths die Festpostille von 1527 mit den nötigen Worterklärungen. Der 48. Band sammelt in dem von O. Albrecht bearbeiteten ersten Teil gegen 300 von Luthers Hand stammende Bibel- und Bucheinzeichnungen, Wandsprüche, Inschriften auf Erz, Stein, Glas usw., an Zahl weit über das in den älteren Lutherausgaben gesammelte Material hinausgehend (den auf die Personalien bezüglichen Erklärungen A.s hat O. Clemen ZKG 46, S. 613 f. noch einige Ergänzungen hinzugefügt). Im zweiten Teil schöpft Joh. Haußleiter den Gothaer Codex Besoldi, dessen Bedeutung er erst recht erkannt hat (vgl. ARG 19, S. 1 ff. 81 ff.), und einige andere in den früheren Bänden nicht verwertete Handschriften aus und bietet dabei wertvolles neues Material: Luthers Präparationen zu seinen Vorlesungen über den Titusbrief und über den ersten Johannesbrief, beide v. J. 1527, Luthers Trostsprüche von seinem Koburgaufenthalt 1530, die Praefatio in Aesopum vom selben Jahre, Ergänzungen zur Genesisvorlesung u. a., vor allem aber Ergänzungen zu den sechs Tischredenbänden der W. A., zu denen durchweg dieser neue Band verglichen werden muß, insofern er teils Varianten zu den bisherigen Texten, teils ganz neue Tischreden gibt und dabei die Zahl der überlieferten Stücke von 7075 auf 7203 erhöht. -- In die Werkstatt der Weimarer Lutherausgabe mit ihrer notwendigen Kleinarbeit an Handschriftenentzifferung, Identifizierung der Überlieferung u. dgl. läßt die Beschreibung der von Georg Rörer stammenden Jenaer Handschrift Bos. q. 24 u durch Albrecht und Willkomm ( 1813) gut hineinschauen. Ihre Teile sind teils von Rörer selbst geschrieben, teils von C. Cruciger u. a., teils sind es Originalhandschriften Luthers, teils auch Drucke. Inhaltlich handelt es sich überwiegend um Lutherstücke, Briefe, Tischreden, Protokolle aus der Bibelrevisionsarbeit, Gutachten, Kommentarstücke, Predigten u. a.; durchweg wird notiert, wo diese Texte schon gedruckt sind. Beachtenswert sind auch die beigegebenen Handschriftenproben, eine kleine Ergänzung zu den von O. Clemen und Mentz in reicher Auswahl gesammelten »Handschriftenproben aus der Reformationszeit«. --Ellweins deutsche Übersetzung von Luthers Vorlesung über den Römerbrief v. J. 1515/16 ( 1829) bedeutet zwar trotz der (zahlenmäßig geringen) hinzugefügten erklärenden Anmerkungen keine Bereicherung der Forschung, erschließt aber dieses für die Erkenntnis von Luthers Entwicklung zum Reformator so wichtige Vorlesungswerk einem größeren Kreise, der sich an die lateinische Ausgabe von Joh. Ficker nicht heranwagen würde. E. gibt eine vollständige Übertragung der Scholien und fügt in Fußnoten eine Auswahl aus Luthers Randglossen bei. Eine Nachprüfung der grundsätzlich freien, zuweilen aber auch sinnstörenden oder unverständlichen Übersetzungsweise bringt Vogelsang in Theol. Lit.ztg. 1929, S. 111 ff. -- Eine dankenswerte Förderung der Luther-Ikonographie bedeutet die Publikation Stuhlfauths ( 1823). Sie gibt in vortrefflichen Reproduktionen das Material der Totenbildnisse Luthers (Ölgemälde, graphische Werke, Medaillen), unter Ergänzung der in den öffentlichen Sammlungen in Berlin, Dresden, Hannover, Leipzig, Wittenberg vorhandenen Stücke durch solche aus Privatbesitz. Zu den historischen Untersuchungen über die Herkunft der Bildnisse gibt O. Clemen ZKG 47, 1928, S. 123 ff. kritische Ergänzungen und Korrekturen.

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Von den Darstellungen unseres Berichtsjahres ist die G. Ritters ( 1821) nur eine Neuauflage seiner kleineren Lutherskizze (über seine Auffassung vgl. Bericht 1925, S. 406). -- Auch nur ein Neudruck ist die Neuausgabe von Theodosius Harnack, »Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre« (München, Chr. Kaiser, 2 Bde.), einem Werk, das einer ersten umfassenderen Lutherrenaissance des 19. Jhds. entstammt (Bd. I, 1862; Bd. II, 1885), das damals durch seine Fähigkeit zur Nachempfindung reformatorischer Frömmigkeit ungemein anregend gewirkt hat und heute besonders die von Holl bei seiner Arbeit an Luther vernachlässigte, erst neuerdings in Angriff genommene Erforschung der Christologie Luthers anregen kann. Der alten Darstellung geht freilich die Bekanntschaft mit den erst danach erschlossenen Vorlesungen seit 1513 völlig ab, und auch die von ihm benutzten anderen Quellen waren damals noch nicht textkritisch einwandfrei bearbeitet. Die Herausgeber haben durch anhangsweisen Nachweis der zitierten Texte in den neueren Lutherausgaben und durch (freilich nicht konsequent durchgeführte) Fragezeichen bei zweifelhafter bzw. unhaltbarer Quellenverwertung, ebenso durch Hinzufügung der heute anerkannten Zeitangaben für die Luthertexte dem Leser wenigstens die Nachprüfung etwas erleichtert (vgl. die Kritik Hirschs Theol. Lit.ztg. 1927, S. 39 ff.). -- Von den Einzelfragen behandelnden Arbeiten bezieht sich E. Wolfs Untersuchung ( 1839) auf Luthers Frühzeit und den nicht zu unterschätzenden Einfluß, den Staupitz, sein Ordensoberer, auf seine religiöse und theologische Entwicklung ausgeübt hat. Unter Benutzung auch des handschriftlichen Quellenmaterials zeichnet W. vor allem dessen Anschauungen von Gnade und Prädestination und seine Ideen der conformitas mit Christus, wozu auch Kreuz und Anfechtungen gehören, der humilitas mit Einschluß der Selbstverurteilung des Menschen und Ähnliches, was zu Luther hinführt bzw. dessen theologische Gedankenbildung noch vor dessen eigener befreiender Entdeckung des Sinnes von Römerbrief 1, 17 angeregt hat, was aber von Luther dann nach seiner Art erfaßt und verwendet worden ist. Denn im Gegensatz zu Jeremias (s. Bericht 1926, S. 474) stellt W. Staupitz, auch den späteren Staupitz, durchaus nicht auf die evangelische Linie, sondern faßt auch dessen spätere Äußerungen nur als Fortbildung der früheren, die vor allem auf der Theologie des Augustinereremiten Ägidius Romanus (Egidio Colonna) beruhen. Das hinter dem Staupitzproblem auftauchende weitere Problem ist also das des Einflusses der Augustinertheologie als Ordensdoktrin auf Luther. Eine Hauptquelle für die Frühtheologie Staupitzens, die von ihm 1497 oder 1498 in Tübingen gehaltenen Hiobpredigten, hat W. in Verbindung mit G. Buchwald gleichzeitig aus der in München aufbewahrten eigenhändigen Niederschrift Staupitzens als Sonderband herausgegeben ( 1876), ein Anfang zu der hoffentlich einmal kommenden wissenschaftlichen Gesamtausgabe der Werke Staupitzens, für den man bisher im wesentlichen auf die 1867 von Knaake veranstaltete Auswahlausgabe angewiesen war. -- Der wichtigste neue theologiegeschichtliche Beitrag zur Lutherforschung ist E. Seebergs Untersuchung über »Luthers Gottesanschauung« ( 1830 a), ein Vortrag, der inzwischen (1929) in erweiterter Form und mit dem notwendigen, beim Erstdruck fehlenden Quellenunterbau als Buch erschienen ist. Der Vortrag bringt das Ganze in programmatischer Kürze. S. skizziert die Gotteslehre des Thomas von Aquino, Gabriel Biels und Taulers, um dann für Luthers Gottesanschauung zunächst seine


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philosophischen und -- das Entscheidendere -- seine religiösen Motive herauszustellen, bevor er seine Stellung zu den drei großen Problemkomplexen: deus absconditus und deus revelatus, Gott und die Sünde, die Überwesentlichkeit Gottes und seine Konkretisierung und Offenbarung im Wort und in Christus, in großen Strichen zeichnet. Besonders die starke Betonung der christozentrischen Haltung Luthers (beim dritten Problemkomplex) ist Holls Darstellung gegenüber zu begrüßen. Auf diesen Punkt der H.schen Darstellung bezieht sich auch die Diskussion zwischen H. M. Müller (Theol. Blätter 6, 1927, Nr. 10; vgl. 7, 1928, Nr. 2) und H. Bornkamm (Ztschr. für Systematische Theol. 5, 1927, Nr. 3). --Kohlmeyer ( 1831) verteidigt nochmals seine Thesen betreffs der im zweiten Teil von Luthers Schrift »An den christlichen Adel« vorliegenden Verschärfung seiner Haltung gegenüber dem ersten Teil gegen W. Koehlers Einwendungen (vgl. Bericht 1925, S. 405 f.). -- Auch H. v. Schuberts reich mit Anmerkungen unterbauter und aufschlußreicher Vortrag über Revolution und Reformation ( 1815) ist ganz wesentlich eine Lutherstudie, die, um die Hauptfrage: Luthers Haltung gegenüber der Bauernrevolution zu klären, dessen Stellung zu den rechtlichen, gesellschaftlichen und sozialen Fragen noch über die Reformschriften der Jahre 1519--1521 zurück bis zu seinem ganz individualethischen Sermo de duplici iustitia, 1518, verfolgt, auf dem Hintergrunde der spätmittelalterlichen Grundauffassung vom Verhältnis des Religiösen und Sozialen (Reformatio Sigismundi) einerseits, der die Bauernbewegung und ihre Gleichsetzung von »göttlichem Recht« und Evangelium beherrschenden anderseits. v. Sch. zeigt fein und einleuchtend, wie Luther auch mit seiner unter dem Eindruck der Bauernrevolte erfolgenden Verstärkung der Stellung der Obrigkeit ohne Bruch angeknüpft hat an die der Obrigkeit, den homines publici, geltenden Gedanken seines Sermo von 1518. Ebenso macht es aber seine Darstellung deutlich, daß trotz Luthers vom Evangelium her bestimmter Ethik, seiner Loyalität gegenüber aller Obrigkeit und seiner Forderung duldenden Gehorsams die Revolutionäre anknüpfen konnten an gewisse temperamentvolle Einzeläußerungen Luthers, die »jeglichen Christen« gegen die Tyrannei der geistlichen Obrigkeit aufriefen, und die ihrerseits auf Ungeklärtes in seiner älteren Position hinweisen. In der Auffassung der Bauernrevolte und ihrer Motivierung durch die Ereignisse des Jahres 1524 geht v. Sch. weithin mit Stolze (vgl. Bericht 1926, S. 476 f.; dagegen vgl. Joachimsen ZKG 48, 1929, S. 117).


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