VI. Orthodoxie und Synkretismus.

Otto Ritschls Dogmengeschichte der lutherischen Orthodoxie ( 1810) ist das Gegenstück zu dem 3. Bande seines großen Werkes, der die reformierte Entwicklung behandelt hatte (vgl. Bericht 1926, S. 478 f.), wie dieser ein auch die Fülle der Einzelgestalten vorführendes Gesamtbild der Zeit, durchweg auf eigenen Quellenstudien beruhend. Soweit die lutherische Orthodoxie sich im Gegensatz zur melanchthonschen Theologie bzw. in den »philippistischen« Streitigkeiten entwickelt hatte, war sie von R. schon in seinem 2. Bande, 1912, zur Darstellung gekommen. Der vorliegende Band setzt mit der Entwicklung der lutherischen Orthodoxie im Gegensatz zur reformierten Theologie (Abendmahl, Christologie, Prädestination u. a.) ein, durfte aber hier auf jenes erste Entwicklungsstadium insofern ergänzend zurückgreifen, als der Philippismus des »Kryptocalvinismus« beschuldigt und gerade unter diesem Titel als wider den Augsburger Religionsfrieden verstoßend aufs schärfste befehdet worden ist; R. schildert besonders die kursächsischen Kämpfe, mit dem Bestreben, das noch immer allzusehr von den gegnerischen Konstruktionen beherrschte traditionelle Bild des kursächsischen »Kryptocalvinismus« richtigzustellen und die fraglos zwischen diesem und dem Calvinismus, auch zwischen Melanchthon selber und Calvin bestehenden Unterschiede in der Abendmahlslehre deutlich zu machen. Von besonderer Wichtigkeit sind die Nachweise, inwieweit der antireformierte Gegensatz selbst zu Korrekturen der lutherschen Theologie geführt hat, indem man z. B. aus


S.388

der Polemik gegen Calvins Prädestinationslehre heraus auch Luthers Determinismus abstieß oder abschwächte. Überhaupt hat R., obwohl er sich dadurch den Eindruck von der dauernden Nachwirkung des Luthererbes nicht verbauen läßt, auf diese Abwandlungen des ursprünglichen Luthertums, z. B. durch das Einströmen mystischer Ideen (fruitio Dei, unio mystica) oder rational-humanistischer und aristotelisch-scholastischer Philosophie, starken Ton gelegt und sie bei den führenden Theologen der Orthodoxie im Einzelnen verfolgt. In dem zweiten Teil des Bandes wird als der 3. Gegensatz, an dem sich die Entwicklung der Orthodoxie orientiert, der auf Union der Konfessionen eingestellte »Synkretismus« in seinen verschiedenen Phasen dargestellt, im Mittelpunkt natürlich die Gestalt Georg Calixts in Helmstedt, und dabei besonders die Frage der auch auf orthodoxer Seite sich durchsetzenden Unterscheidung von fundamentalen und nicht fundamentalen Glaubensartikeln eingehend behandelt. Wie die katholisierende Wirkung, so kommt auch die von Luther weithin unberührte, »aufklärerische« Haltung Calixts bei R. gut zur Darstellung. Zur Kritik des Bandes vgl. F. Kattenbusch Theol. Lit. Ztg. 1928, S. 25 ff.; L. Zscharnack ZKG 45, 1926, S. 626 ff. -- Gemessen an dem umfassenden Bild, das R. entrollt, erscheinen die anderen hier zu nennenden Arbeiten nur wie Ergänzungen zu einzelnen Punkten. Das Diarium des Martin Crusius, von dem Göz und Conrad jetzt nur den auf 1596--97 bezüglichen Teil herausgegeben haben ( 2030), wird, wenn es einmal vollständig vorliegen wird, auch eine wichtige Quelle für die theologische und kirchliche Entwicklung der Zeit bilden; Crusius hatte unter seinen Korrespondenten zahlreiche Theologen, darunter auch klangvolle Namen wie Ägidius Hunnius oder Polykarp Leyser. Das Tagebuch, das in neun Bänden in der Tübinger Universitätsbibliothek liegt, reicht von 1573 bis 1604. Auf seinen Wert hatte W. Göz schon in der Literarischen Beilage des Staatsanzeigers für Württemberg 1921, S. 362 ff. aufmerksam gemacht. -- Zur Ausbreitungsgeschichte des Calvinismus um die Wende des 16. zum 17. Jhd. sei auf Ernst Feddersens Aufsatz über den Kryptocalvinismus am Gottorfer Hofe unter Herzog Johann Adolf ( 1896) hingewiesen; es wirken sich da Beziehungen zwischen dem Gottorfer und dem Kasseler Hofe aus. In die Kämpfe greift von bekannten Theologen u. a. Leonhard Hutter mit seinem Calvinista Aulico-Politicus, 1610, ein, gegen den sich dann der Herzog beim sächsischen Kurfürsten beschwerte (F. druckt S. 386 ff. den Beschwerdebrief ab). -- Unter Beschränkung auf »Die württembergischen Pfarrer im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges« zeigt F. Fritz ( 1877), welche gesellschaftskritischen Fragen der Krieg ausgelöst und zur Behandlung in politischen Predigten und ethischen Schriften aufgezwungen hat. Neben den Fragen nach Recht und Aufgaben der Obrigkeit, Kirchenregiment, Standessitte, Wucher u. dgl. steht die Kriegsethik im Mittelpunkt (besonders Theodor Thumm, Tractatus theologicus de bello, 1621, mit der Verteidigung des gerechten Krieges), aber angesichts der konfessionspolitischen Wirkungen des Krieges auch die Frage nach dem Recht des Volkes zur Verteidigung seiner Religion gegen die Obrigkeit, wobei es beachtenswerterweise nicht an scharfer Kritik des »Cuius regio eius religio« auf der Grundlage der Idee der Volkssouveränität fehlt (z. B. Joh. Val. Andreä, Civis christianus, u. a.). F. weist an zahlreichen Beispielen S. 177 ff. auch die vom ursprünglichen Luthertum wegführende Verstärkung der Richtung auf pietistische, puritanische, asketische

S.389

Lebensgestaltung, z. T. unter ausländischem, besonders englischem Einfluß, nach, der zuletzt in größerem Rahmen Hans Leube (Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, 1924) nachgegangen ist. -- Weit schärfer als in den von Fritz verwerteten kirchlichen Zeugnissen meldet sich die Gesellschaftskritik, hier dann mit schärfster Kritik an der Kirche verbunden, in den aus dem spiritualistisch-mystischen Kreise stammenden Schrifttum jener Zeit. Vgl. E. Kochs: Das Kriegsproblem in der spiritualistischen Gesamtanschauung Christian Hohburgs (ZKG 46, S. 246 bis 275).


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)