VII. Pietismus.

Auf die Entstehungsgeschichte des deutschen Pietismus wirft der Aufsatz von K. D. Schmidt über Labadie und Spener ( 1853) insofern neues Licht, als er für die schriftstellerische Abhängigkeit Speners von dem Niederländer auf Grund genauer Schriftenvergleichung endlich den exakten Nachweis führt; er macht es auch mindestens sehr wahrscheinlich, daß Spener auch zu seiner Gestaltung der Collegia pietatis im Sinne von brüderlichen Bibelbesprechungen unter Leitung des Pfarrers mit von Labadie angeregt ist, wobei neben dessen großer Reformationsschrift (La Réformation de l'église) auch die kleinere Spezialschrift L'Exercice profétique, 1668 (I. nennt die Collegia »Profetien«) verglichen wird. -- Dem niederrheinischen Kreis, in dem der Pietismus Wurzel gefaßt hatte, bevor er ins Luthertum eindrang, gelten die Briefpublikationen Wotschkes. Die aus der Gothaer Bibliothek stammenden Briefe ( 1887) sind Briefe von und an Friedrich Breckling, den in Schleswig-Holstein amtsentsetzten, seit 1660 in Holland wirkenden Kritiker des Kirchentums und Förderer der praxis pietatis. Aus der Halleschen Waisenhausbibliothek stammen die vom Niederrhein her an Spener und A. H. Francke gerichteten Briefe ( 1855), während die (in demselben Jahrgang der »Monatshefte für Rheinische KG« S. 225--243 publizierten) Briefe des Pfarrers Forstmann in Solingen und sein Briefwechsel mit Zinzendorf ( 1857) aus dem Herrnhuter Archiv entnommen sind. Die bedeutendste Gestalt dieser niederrheinischen Bewegung, Gerhard Tersteegen, findet durch Fr. Winter ( 1856) eine gut unterbaute, eingehendere Behandlung, die von dem bei Tersteegen stark hervortretenden, aber nie seine Aktivität hemmenden quietistischen Zug ausgeht und diesen geistesgeschichtlich zu erklären sucht. Sein typologischer Vergleich der französischen Mystik einerseits, Tersteegens anderseits deckt bei diesem die ihm bei aller Berührung mit den Franzosen eigne evangelisch-reformatorische Linie auf. Sehr fein arbeitet W. z. B. heraus, daß es sich bei Tersteegen im Gegensatz zu der Madame de Guyon nicht um ein Aufgeben des Ich als Person, sondern nur um die Aufhebung des »Eigen«, der sündhaften Ichrichtung vor Gott handelt, ebenso daß es sich bei Tersteegens Gottesverhältnis nicht nur um subjektive Aneignung und einen inwendigen Gott handelt, sondern das Objektive außer uns stark betont bleibt. Vollständig wäre das von W. gezeichnete Bild, wenn er nun nach der Unterscheidung Tersteegens von der quietistischen Mystik französischer Form die Linie zu Luther und der altprotestantischen Mystik des 16. und 17. Jhd. genauer gezogen hätte. -- Es ist zu bedauern, daß das Francke-Jubiläum 1927 (200. Todestag Franckes) uns keine gleicherweise tiefgrabende Monographie über A. H. Francke geschenkt, auch wenig neues Material aus den noch ungehobenen Schätzen in der Halleschen Waisenhausbibliothek und in der Berliner Staatsbibliothek, die wertvolle Teile


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des Franckeschen Nachlasses verwahrt, der Öffentlichkeit dargeboten hat. Außer den 1926, Nr. 2211, 2212, 2290 aufgeführten Schriften bzw. Aufsätzen ist nur etwa Folgendes hervorzuheben: Egers Hallesche Festrede ( 1854), die sich auf eine kurze Frömmigkeitsanalyse und auf den Pädagogen Francke beschränkt; ferner die von der Buchhandlung des Waisenhauses herausgegebene Sammelschrift »Zum Gedächtnis A. H. Franckes«, in der Fr. Mahling, Karl Mirbt und August Nebe dessen Verdienste um Kenntnis und Verständnis der Bibel, sowie um Innere Mission, Heidenmission und Schule würdigen; vor allem aber Aug. Nebes »Neue Quellen zu A. H. Francke« (Gütersloh, Bertelsmann), zur Hälfte Briefe oder Gutachten von Fr. selber, zur anderen Hälfte an oder über ihn, auch solche aus London, Boston, Kopenhagen, Stockholm, Moskau, die die Auslandswirkung Franckes beleuchten. Inhaltlich besonders wertvoll ist auch Franckes Projekt einer Bibelrevision v. J. 1712 (S. 26 ff.), sowie seine Pläne betreffs Reform bzw. Evangelisierung der griechisch-orientalischen Kirchen (S. 53 ff., 82 ff.). -- Ein Bild aus dem separatistischen Pietismus zeichnet Th. Matthiesen ( 1894). Es handelt sich um die sogenannte Bordelumer Rotte in Nordfriesland, deren Führer und deren kurze Geschichte M. auf Grund der Akten kennzeichnet. Er weist nach, daß hier u. a. Einflüsse von David-Joris, dem holländischen Sektierer des 16. Jhd., vorliegen. -- Die von Wotschke ( 1851) aus dem Briefwechsel orthodoxer Theologen in den Jahren 1696 ff. wiederentdeckte Historia Pietismi, die den Danziger Samuel Schelwig zum Verfasser hatte, ist eine antipietistische Kampfschrift, die die Entwicklung bis 1703 behandelt hat, aber trotz Schelwigs und seiner Freunde Bemühungen nie gedruckt worden ist. Auch die Handschrift scheint verloren zu sein, was zu bedauern ist, da zahlreiche namhafte Theologen aus allen Gegenden Deutschlands Schelwig Materialien zugeleitet haben.


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