VIII. Aufklärung. Deutscher Idealismus.

-- Für das Gesamtbild des »Jahrhunderts der Aufklärung«, nicht bloß für die Aufklärung selber bilden die Weimarer Acta Historico-Ecclesiastica (seit 1734 als Zeitschrift erscheinend) eine wichtige Materialsammlung. Um deren Erschließung durch Auswertung des in der Gothaer Herzoglichen Bibliothek vorhandenen Briefwechsels mit den Herausgebern bemüht sich seit einiger Zeit Wotschke, der im vorigen Jahr nur kurz auf einen Schleswig-Holsteinischen Korrespondenten zu sprechen kam (vgl. 1926, Nr. 2273) und diesmal ausführlich unter Abdruck zahlreicher Briefe die niedersächsischen Mitarbeiter behandelt (Ztschr. für Niedersächsische KG., S. 218--276). W. beschränkt sich leider darauf, das mitzuteilen, was nicht in die Acta aufgenommen ist. Daneben aber verdient die andere Frage Beachtung, in welcher Form nun die Mitteilungen der Korrespondenten in die Acta übergegangen sind. Das wäre für deren Quellenkritik die entscheidende Frage.

Als Gesamtcharakteristik der Aufklärung verdient der knappe, aber treffende Artikel von Hnr. Hoffmann in »Religion in Geschichte und Gegenwart« I, Sp. 634--648, hervorgehoben zu werden. Dazu der neue dritte Band der Gesammelten Schriften W. Diltheys ( 2010), der neben Ernst Troeltsch (vgl. 1925, S. 413) die kirchengeschichtliche Forschung entscheidend angeregt hat. Aus dem gleichzeitig erschienenen siebenten Band gehören das dort S. 335 ff. abgedruckte Manuskript über die Struktur des Zeitalters der Aufklärung, das staatliche Leben in ihr u. ä., ebenso die S. 342 ff. mit Ausführungen über den


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deutschen Pietismus inhaltlich in den in Bd. 3 behandelten Geschichtsablauf hinein. -- Obwohl unter rechtswissenschaftlichem Gesichtspunkt geschrieben, muß die Studie E. Wolfs ( 1992) mit ihren auch die Kirchenrechts- und Kirchenverfassungs geschichte angehenden Ausführungen über Pufendorf und Thomasius auch hier hervorgehoben werden (vgl. Besprechung S. 320). -- An theologiegeschichtlichen Darstellungen liegt nur Knothes Aufsatz über den Hallenser Siegmund Jakob Baumgarten ( 1858) vor, ein Teil seiner ausführlichen Königsberger Dissertation. Er charakterisiert die Phase der deutschen Theologie der ersten Jahrhunderthälfte, in der sich mit orthodoxen und pietistischen Elementen die Leibniz-Wolfsche Philosophie und die englischen deistischen Ideen verbinden und zum Aufbau einer Theologie führen, die sich ganz bewußt als eine theologia scientifica von der bisherigen abhebt, indem sie nicht nur methodisch, sondern an entscheidenden Punkten auch materiell den Anschluß an das neuzeitliche Denken gesucht und gefunden hat. Das läßt sich an Baumgartens »Evangelischer Glaubenslehre«, die K. vor allem berücksichtigt hat, instruktiv zeigen. -- Für das historische Interesse der Theologie der Aufklärung bietet Scherers Darstellung über den akademischen Betrieb der Geschichtswissenschaft ( 90), die am eingehendsten die Kirchengeschichte berücksichtigt, viel Material, müßte nur, um ein vollständiges Bild zu ergeben, durch Beobachtung des auch im akademischen Unterricht sich auswirkenden religionsgeschichtlichen Interesses ergänzt werden. Im übrigen ist Sch.s Buch eine erstaunlich reichhaltige Sammlung des inbetrachtkommenden Materials aus allen deutschen Universitäten, auch den katholischen, nicht bloß des aus gedruckten Quellen zu erhebenden, sondern auch auf Grund der Archivakten. Die Tradition einer Kirchengeschichtsvorlesung reicht bis 1588 (Frankfurt a. Oder) zurück, setzt sich aber erst etwa ein Jahrhundert später durch, an den katholischen Universitäten erst Ende des 18. Jhd.; die Kirchengeschichte wird im 18. Jhd. weithin zu der einflußreichsten theologischen Disziplin, indem z. B. das dogmenhistorische Interesse das dogmatische fast verschlingt. Die Literatur an Lehrbüchern, Programmen usw. wird im Anhang bibliographisch gebucht, aber auch im Text zur Charakteristik des Geistes des Geschichtsunterrichtes herangezogen.

Die zahlreiche Literatur über »Deutscher Idealismus und Christentum« ist von Kurt Leese mit seinem Vortrag (Berlin, Hutten-Verlag) trotz dessen Kürze wirklich bereichert worden; ihn kennzeichnet bei aller Anerkennung der im Idealismus liegenden Gefahren für die Religion doch dessen positive Wertung, und seine scharfe Auseinandersetzung mit der antiidealistischen Haltung K. Barths, Gogartens, Lütgerts u. a. (vgl. Bericht 1925, S. 415 f.) beleuchtet die gegenwärtige Problemlage, für deren Kenntnis auch auf die instruktiven Berichte von Pl. Tillich in den »Theologischen Blättern« 6, 1927 S. 29--40, 196--198 hinzuweisen ist. -- Es ist zu begrüßen, daß neben der Aus einandersetzung mit der Gesamtbewegung die theologische Behandlung der Einzelgestalten, ohne deren eindringendere Analyse das Allgemeinbild in der Luft schwebt, wieder stärker eingesetzt hat, zunächst hinsichtlich des Frühidealismus und der klassischen idealistischen Literatur und Philosophie, jüngst auch hinsichtlich des Spätidealismus. Aus unserem Berichtsjahr ist für Hamann, den »Magus des Nordens«, ohne den weder Herder noch Goethe zu verstehen ist, auf die Beiträge von A. Kowalewski (»H. als religiöser


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Lebensphilosoph«) und von Fr. Blanke in den »Bildern aus dem religiösen und kirchlichen Leben Ostpreußens« (Königsberg, Gräfe und Unzer), S. 47 f., 55--78, hinzuweisen. Während Blanke in aller Kürze -- er hat es dann 1928 weiter ausgeführt -- die zu Luther hinführenden Beziehungsfäden betont, versucht Kowalewski eine systematische Strukturanalyse, um den sachlichen Zusammenhang der eigentümlichen Kernlehren Hamanns aufzudecken; als die beziehungsreichste Kernlehre erscheint ihm Hamanns Prinzip der Ganzheit als Gegensatz zu allen das Konkrete und Anschauliche aufhebenden Abstraktionsprodukten und aller Trennung von Sinnlichkeit und Verstand. Es ist das Prinzip der Anschauung, das auch bei Herder und auf der Goetheschen Linie des Idealismus eine bedeutsame Rolle spielt. -- Für Herder ist M. Doerne: »Die Religion in Herders Geschichtsphilosophie« (Leipzig, Felix Meiner) zu buchen, der sehr richtig nicht einseitig Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte«, sondern vor allem auch die Werke aus seiner Bückeburger Zeit als Quellen heranzieht, um seine religiöse Geschichtsanschauung aufzudecken. Da der Verfasser selber den Standpunkt der Diastase von Christentum und Kultur vertritt, wird er den anders laufenden Linien mindestens des späteren Herder nicht ganz gerecht, während er die vom Offenbarungsgedanken beherrschte theologische Geschichtsanschauung Herders kongenial zu werten weiß (vgl. Horst Stephan, Theol. Lit.ztg 1928, S. 347 f.). -- Eine gewisse Linie Herderscher Geschichtsbetrachtung, sein religionsgeschichtliches Interesse in seiner Wirkung auch auf vielfach anders orientierte Theologen der Folgezeit tritt uns in der Studie entgegen, die Werner Schütz dem für die Entstehungsgeschichte der schleswig-holsteinischen Erweckungsbewegung bedeutsamen Kieler Theologen Johann Friedrich Kleuker gewidmet hat (Bonn, Röhrscheidt). Dieser war als Hauslehrer in Bückeburg Herder nahegetreten, behält dessen antirationalistische Einstellung in scharfer Ausprägung bei und zeigt in seinen Schriften zur vergleichenden Religionsgeschichte (Zend Avesta, indische Religion) stärkste Herdersche Einflüsse. -- Zur Frömmigkeit unserer klassischen Literatur hat Gerhard Fricke: »Der religiöse Sinn der Klassik Schillers« (München, Chr. Kaiser) eine Untersuchung geliefert, die das Religiöse in Schillers Schaffen auch da, wo es sich nicht in den traditionellen Formen ausspricht, aufdeckt, seine Kunst »im Dienst des Göttlichen« sieht, auch seiner autonomen Ethik und seinem geschichtsphilosophischen Idealbegriff das Religiöse abzulauschen weiß. Aber das Bild leidet nicht nur unter der allzu scharfen Kontrastierung des »religiösen« Schiller und des »heidnischen« Goethe, sondern -- als deren Grundlage -- auch darunter, daß die Tatsache nicht deutlich herausgearbeitet wird, daß gerade bei Schiller die Auflösung der traditionellen religiösen Metaphysik viel radikaler als bei Goethe vollzogen und bei ihm der in der Aufklärung einsetzende Reduktionsprozeß gegenüber der überlieferten Frömmigkeit und ihren Formen viel schärfer zu Ende geführt ist (vgl. auch Knittermeyer, Theol. Lit.ztg 1928, S. 328 ff.). -- Inwieweit dies auch bei Kant der Fall ist, ist noch immer eine umstrittene Frage. Während Vaihinger Kant für seine Als-Ob-Philosophie in Anspruch nimmt und als Fiktionalisten deutet, interpretiert Adickes (Kant und die Als-Ob-Philosophie. Stuttgart, Frommann) die so klingenden Stellen von den ebenso vorhandenen realistischen Stellen aus und betont, daß Kant nicht die Realität des Ding an sich, der Ideen, der Postulate leugnet, sondern nur die Möglichkeit, vom theoretischen

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Standpunkt aus etwas Bestimmtes über sie auszusagen, bestreitet. Walter Reinhard (Über das Verhältnis von Sittlichkeit und Religion bei Kant unter besonderer Berücksichtigung des Opus postumum und der Vorlesung über Ethik. Bern, P. Haupt) sucht sogar zu zeigen, daß Kant, ohne freilich von der ihm geläufigen Gedankenführung loszukommen, über die Postulatentheorie hinausgekommen sei, indem er im kategorischen Imperativ ein mittelbares Sicherweisen Gottes gesehen habe. R. betont auch aufs stärkste im Blick auf die von ihm besonders berücksichtigten Schriften Kants, daß dessen Religion keineswegs in Sittlichkeit aufgehe trotz des aktiven ethischen Charakters der Kantschen Frömmigkeit. Auf der anderen Seite steht Martin Schulze (Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Königsberg, Gräfe und Unzer), der in sehr sorgsamer Analyse der religionsphilosophischen Hauptschrift Kants zu dem Ergebnis gelangt, daß die Religion vollständig durch die Moral verschlungen sei, daß die vorhandenen Kompromisse mit dem Kirchenglauben (Gottesbeweis, radikales Böse, Gerichtsgedanke u. a.) tatsächlich nur seine eigentliche Meinung »verschleiern«, und daß es mindestens zweifelhaft sei, ob Kant an der außermenschlichen Realität Gottes festgehalten habe. Sicher mit Recht wird Kants Abstand von der reformatorischen Frömmigkeit betont, während er wohl zu wenig der aufklärerischen Entwicklung eingegliedert wird. -- Als Beitrag zu dem Problem des Zusammenhangs von Aufklärung und deutschem Idealismus ist die »kirchengeschichtliche Säkular-Erinnerung« aufgebaut, die Karl Aner Johann Heinrich Voß, dem Sänger der »Luise« und des »deutschen Homer«, widmet (Theologische Studien und Kritiken 100, 1927, S. 103--153). A. zieht dabei auch Vossens Briefwechsel und Aufzeichnungen über ihn in weitem Umfang heran, um seine religiöse Art festzustellen, auch deren Entwicklung aus kirchlicher Tradition heraus zu Aufklärung und Idealismus hin zu verfolgen; Voß's Schaffen und Leben bildet nach A.s Formulierung »einen Kanal zwischen beiden Strömen«. -- Wegen seiner Einfühlungsgabe und feinen Seelenanalyse sei endlich Paul Wernles Buch »Pestalozzi und die Religion« (Tübingen, Mohr), mit reichen geschichtlich geordneten Zitaten aus dem ganzen Schrifttum sowie aus Briefen und Tagebüchern Pestalozzis, besonders hervorgehoben. Es soll gerade im Blick auf die antiidealistische Polemik gewisser theologischer Kreise der Gegenwart zeigen, welche religiösen Kräfte bei einem Menschen, der wie Pestalozzi bewußt »Christlichkeit und echte Menschlichkeit« in eins setzt, wirksam sein können, und verfolgt, wie diese christlich-humane-idealistische Frömmigkeit sich bei ihm durch eine von ihm selbst als Periode des »Unglaubens« bezeichnete Stufe hindurch entwickelt hat. W. hatte schon in seinem großen Werk über den Schweizerischen Protestantismus (vgl. Bericht 1925, S. 413 f.) Pestalozzis Gestalt bald hier bald da im Zusammenhang mit den geistigen Bewegungen seiner Zeit auftauchen lassen; das einheitliche Bild gibt uns diese Sonderschrift.


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