III. Bibliotheksgeschichte.

Die Wurzeln der neuzeitlichen Bibliotheksgeschichte reichen bis in die mittelalterlichen Klöster zurück. Aber nicht nur deshalb bietet die monographische Behandlung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte ihrer Büchersammlungen eine so dankbare Aufgabe; derartige Arbeiten schaffen, wie Heinrich Schreiber in der Einleitung seines Buches über die Mainzer Kartause ( 79) betont, die Voraussetzungen für die Geschichte der mittelalterlichen Kultur überhaupt. Dem Verf. bot die Bibliothek dieses Klosters ein besonders reiches Material, das er in dreijähriger Arbeit erschöpfend durchforscht hat. Es ist ein besonderer Glücksfall, daß die Handschriften dieses zu Beginn des 14. Jhds. gegründeten Konventes trotz mancher Stürme, denen die Stadt im Lauf der Jahrhunderte ausgesetzt war, zum größten Teil erhalten und in der Mainzer Stadtbibliothek beisammen blieben, und ferner, daß ein für mittelalterliche Verhältnisse erstaunlich sorgfältig gearbeiteter Katalog


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und eine Ausleihordnung, beide aus dem 15. Jhd., auf uns gekommen sind. Der etwa 1500 Handschriften und Inkunabeln verzeichnende Katalog, dessen Untersuchung den Verf. zu einer zusammenfassenden Studie über die mittelalterliche Katalogisierungspraxis überhaupt anregte ( 71), fügt dem auch sonst üblichen, mit Pultsignaturen versehenen Standortsverzeichnis einen alphabetischen Sachindex hinzu. Ein Intellectus registri leitet zum Gebrauch des Katalogs an. Die wichtigste Quelle aber waren die Handschriften selbst, die soweit sie nicht in Mainz lagen, von Schreiber in Basel, Frankfurt und Pommersfelden eingesehen wurden. Die darin enthaltenen Texte und Vermerke lieferten in Verbindung mit der aus den Archivalien gewonnenen Klostergeschichte eine Fülle von Daten über die Schicksale der Bibliothek bis zur Aufhebung der Kartause im Jahre 1781 zugunsten der Mainzer Universität. Für die Tätigkeit des Bibliothekars, die Erwerbung und Ausleihe der Bücher, Buchschmuck und Buchbinderei und für das geistige Leben in der Kartause wird ein reiches Material zusammengetragen. Nachforschungen nach Beziehungen der Bibliothek zum Mainzer Frühdruck blieben leider erfolglos, obwohl eine Verbindung zur Familie Gensfleisch und zu Gutenbergs Mitarbeiter und Schüler Johann Numeister nachweisbar ist. Für die neuere Zeit gelingt es dem Verf., die Legende von der Vernichtung der ganzen Bibliothek durch Markgraf Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach und später durch die Schweden zu berichtigen.

Das gleiche methodische Ziel, wie Schreiber für die Mainzer Kartause verfolgt Diestelkamp bei der Durchforschung der Halberstädter Dombibliothek ( 82). Auch er sucht durch Verwertung der historischen Quellen und der erhaltenen Handschriften ein Bild von der lokalen geistigen Kultur zu gewinnen, freilich viel weniger durch die Überlieferung begünstigt als jener. Aber auch Diestelkamp kann sich auf ein zuverlässiges Inventar des 15. Jhds. stützen, das sich im Magdeburger Staatsarchiv erhalten hat. Ein weiterer glücklicher Umstand gestattet auch, den größeren Teil der Titel mit den im Halberstädter Domgymnasium und in der Universitätsbibliothek Halle erhaltenen Handschriften zu identifizieren. An schmerzlichen Verlusten fehlt es nicht, so der des liber memoriarum totius anni membraneus, der noch in einem 1740 aufgestellten Bibliothekskatalog genannt wird. Die beigegebene Beschreibung von 33 in Halle befindlichen Handschriften Halberstädter Provenienz bietet eine willkommene Ergänzung zu G. Schmidts Verzeichnis der Codices der Gymnasialbibliothek, so daß nunmehr sämtliche nachweisbare Handschriften des Domstifts aufgenommen sind.

Ausschließlich auf den erhaltenen Handschriftenbestand war Rother für die Geschichte der Bibliothek des schlesischen Zisterzienserklosters Heinrichau angewiesen ( 88), da hier ältere urkundliche Nachrichten völlig fehlen. 132 Heinrichauer Bände sind in die Breslauer Staats- und Universitätsbibliothek gelangt. Mit gewohntem Spürsinn konnte der Verf. alle diese Handschriften mit den Titeln eines dem 18. Jhd. entstammenden Handschriftenverzeichnisses einer ungenannten Bibliothek identifizieren, dessen Herkunft aus Heinrichau dadurch sichergestellt wurde. Die Mehrzahl der Handschriften gehört dem 14. Jhd. an, aber eine aus dem 11., fünf aus dem 12. und fünfzehn aus dem 13. Jhd. beweisen doch, daß auch ältere Codices, zum Teil vielleicht durch Klöster der Filiation, der Heinrichau entstammt, dorthin gelangt waren. Schreibetätigkeit durch die Mönche selbst wie durch Lohnschreiber ist nachweisbar. 66 Inkunabeln Heinrichauer


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Provenienz besitzt die Breslauer Bibliothek. Die äußere und innere Beschaffenheit der Handschriften des Klosters ragt über den Durchschnitt der aus den übrigen schlesischen Klöstern stammenden hinaus.

Aus allen diesen Arbeiten erhellt der unschätzbare Wert der mittelalterlichen Kataloge für die bibliotheksgeschichtlichen Forschungen und die Notwendigkeit der möglichst umfassenden Veröffentlichung dieser Quellengattung. In diesem Zusammenhang sind die methodischen Bemerkungen noch heute aktuell, die Theodor Gottlieb, der im Januar 1929 verstorbene, hochverdiente Altmeister auf diesem Gebiet, nach einer zehn Jahre zurückliegenden Niederschrift über die bekannte Publikation der österreichischen Bibliothekskataloge veröffentlichte ( 73). Er beleuchtet darin die Schwierigkeiten, mit denen die Herausgeber infolge der Unvollständigkeit und Unlesbarkeit der Titel häufig zu kämpfen hatten und die durch die Mängel der photographischen Reproduktion schwer erreichbarer Texte nicht unwesentlich erhöht wurden.

Die Entwicklungslinien von den mittelalterlichen zu den neuzeitlichen Büchersammlungen zeigen die städtischen Bibliotheksgeschichten auf, die im Berichtsjahr erschienen sind. In der vornehm ausgestatteten Festschrift zum Dortmunder Bibliothekarstag gibt Albert Wand einen Beitrag zur Geschichte der dortigen Büchersammlungen ( 80). Die Stadt, deren kulturelle Blütezeit durch das Archigymnasium, die Druckerei, beide im Jahre 1543 entstanden, sowie durch die beneidenswert große Zahl von 35 Chroniken, die über ihre Vergangenheit berichten, gekennzeichnet wird, besaß in ihrem Franziskaner- und Dominikanerkloster ansehnliche Bibliotheken. Ihre Erbschaft trat nach der Säkularisation (1808) die Pfarrbibliothek der Probstgemeinde an. Neben ihr gab es in Dortmund noch zwei Kirchenblibliotheken und eine auffallend große Zahl von Privatsammlungen, die jedoch bald nach 1800 vielfach verschleudert wurden. Erst 1908 erhielt Dortmund eine Stadtbibliothek.

Die Stadt- oder Ratsbibliothek Nördlingens ( 75 a) reicht bis in das 16. Jhd. zurück. Sie wurde begründet durch die testamentarische Schenkung ihres Bürgermeisters Johannes Protzers († 1587), dessen Bücherbesitz 290 Bände, meist Frühdrucke juristischen Inhalts, umfaßte. Auch die Leipziger Stadtbibliothek, deren Geschichte ihr Direktor Johannes Hofmann in der anläßlich ihres 250 jährigen Bestehens erschienenen Festschrift darstellt ( 84), verdankt ihre Entstehung einer privaten Stiftung. Der 1677 verstorbene Advokat beim kurfürstlichen Hofgericht, Huldreich Groß, vermachte der Stadt zu diesem Zweck seine Bibliothek von 4000 Werken und sein Vermögen. Dank der regelmäßigen städtischen Zuschüsse und der Sitte, daß die Ratsherrn vor ihrem Amtsantritt der Bibliothek ein wertvolles Geschenk zu überreichen hatten, erfreute sie sich bis zum Siebenjährigen Krieg einer kräftigen Entwicklung. Die zahlreichen Zeugen alter Buchkunst, durch die sie heute alle übrigen deutschen Stadtbibliotheken überragt und zu einer Zentrale der Bucheinbandforschung werden konnte, stammen aus jener Periode. Durch die Tätigkeit Robert Naumanns (1835--1888), des Herausgebers des Serapeums und Vorkämpfers für den bibliothekarischen Beruf, und Friedrich Adolf Eberts, der seine erste bibliothekarische Lehrzeit hier verbrachte, gewinnt ihre Geschichte allgemeinere Bedeutung.

Die Literatur zur Königsberger Bibliotheksgeschichte hat wiederum eine wertvolle Bereicherung erfahren. Während der Aufsatz Krollmanns ( 86)


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nur eine Zusammenfassung der Ergebnisse des Kuhnertschen Buches (vgl. Jber. f. Deutsche Gesch. Jg. 2, S. 172) darstellt, verfolgt Fritz Juntke mit liebevoller Sorgfalt alle Einzelheiten der Entwicklungsgeschichte einer Privatbibliothek, deren Name auf ihren Begründer, den Kanzler Martin von Wallenrodt († 1632) hindeutet. Von ihm und seinen Nachkommen mit festen Einkünften ausgestattet, erreichte sie bis zum Ende des 18. Jhds. einen Bestand von fast 7000 Werken und konnte dank ihrer günstigen Lage in zwei noch heute in der alten Form erhaltenen Räumen im Dom dicht bei der Universität dieser als Ersatz für die unzureichende Universitätsbibliothek dienen. Mit dem Aussterben der direkten Linie des Gründers am Ende des 18. Jhds. war es mit der Glanzzeit der Bibliothek zu Ende. 1908 wurde sie der Universitätsbibliothek angegliedert, im folgenden Jahr der größte Teil ihres Bestandes in deren Räume überführt. Die wichtigsten Aktenstücke zur Geschichte der Bibliothek gibt der Verfasser im Anhang wieder.

Die außerordentlich ergebnisreiche Studie Schottenlohers ( 67) schildert den Pfalzgrafen Ottheinrich, den Vorkämpfer des Protestantismus im Südwesten Deutschlands, als Büchersammler und Förderer der evangelischen Publizistik. Er wie sein Gegenspieler und Vetter, Herzog Albrecht V. von Bayern, waren überzeugt von der Macht des geschriebenen und gedruckten Wortes im kirchenpolitischen Streit. Dieser wurde der Gründer der Münchener Staatsbibliothek. Ottheinrich vermehrte nicht nur die kurfürstliche Bibliothek in der Heilig-Geist-Kirche, die Palatina, mit unermüdlichem Eifer, er selbst besaß in seinen Gemächern eine stattliche Anzahl wertvoller Handschriften, die aus Speier, Mainz und vor allem aus Lorsch zusammengebracht waren. Seine Kammerbibliothek umfaßte bei seinem Tode etwa 330 Handschriften und Drucke. Nur ein Teil von ihnen hat sich erhalten; einige wanderten nach Durchführung der Gegenreformation in die Neuburger Jesuitenbibliothek, andere, die zunächst in Heidelberg verblieben waren, mit der Palatina nach Rom. Ein Verzeichnis der davon noch bekannten Werke wird von Schottenloher beigefügt. Zum Reformationsschrifttum seiner Zeit unterhielt Ottheinrich lebhafte Beziehungen. Der Straßburger Prediger Kaspar Hedio, Flacius Illyricus, Sleidan und Johann Sturm waren unter anderen seine Schützlinge. Auf seine Veranlassung richteten Hans Kilian in Neuburg und später Hans Kohl in Heidelberg Druckerwerkstätten ein, deren Erzeugnisse der Verf. verzeichnet und eingehend beschreibt. Im Anhang widmet Sch. dem Reformationsschrifttum der Palatina, das die Nachfolger Ottheinrichs sammelten, eine Untersuchung. Die berühmte Sammlung Ulrich Fuggers, die er der kurfürstlichen Bibliothek vermachte und sie damit zur bedeutendsten im damaligen Deutschland erhob, war besonders reich mit Reformationsschriften versehen; fünf eigenhändige Niederschriften Luthers befanden sich darunter, die 1815 aus Rom wieder in die Heidelberger Universitätsbibliothek zurückgekehrt sind.

Über einen wichtigen Fund zur Geschichte der alten, bei der Beschießung der Stadt 1870 mit allen Katalogen zugrunde gegangenen Straßburger Universitätsbibliothek berichtet Johannes Ficker ( 77). Von der Hand Andreas Jungs, dem Verfasser der Kataloge, hat sich die Abschrift eines Verzeichnisses von 962 Handschriften der alten Hochschulbibliothek erhalten, die er wahrscheinlich für das Thomaskapitel angefertigt hat. Die Handschriften sind darin genau beschrieben, datiert und mit literarischen Nachweisungen versehen.


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Ficker teilt Bruchstücke des Katalogs mit. Gegen den lügenhaften Bericht über die Schicksale der deutschen Universitätsbibliothek im Jahre 1918, den elsässische Blätter verbreitet haben, nimmt ihr letzter Direktor Wolfram Stellung ( 78). Er weist die Unterstellung zurück, daß er die wertvollsten Bestände im Herbst 1918 habe in Kisten verpacken lassen, um sie nach Deutschland zu überführen. Die Verpackung ist vielmehr bereits im August 1914 erfolgt. Die Kisten wurden in einem bombensicheren Raum des Kellers untergebracht, um sie bei etwaigen Fliegerangriffen vor Vernichtung zu schützen.


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