B. Bildung, Kulturgut und allgemeine Anschauungswelt des MA.

Unter den ma. Bildungsstätten ragt die Abtei St. Gallen derart hervor, daß sie gewiß eine Gesamtdarstellung ihrer kulturellen Bedeutung verdiente, wie sie ihr Clark ( 2391) hat angedeihen lassen. Man kann sein Buch über die Abtei St. Gallen als eine Art Gegenstück, wenn auch in wesentlich enger umgrenztem Rahmen, zu dem 1925 erschienenen zweibändigen Sammelwerk über »die Kultur der Abtei Reichenau« bezeichnen. Auch hier ist, wenn auch mit den naturgemäß beschränkteren Kräften eines Einzelbearbeiters, der Versuch unternommen, die Kultur in möglichst weitem Umfange einzubeziehen -- wenigstens in dem Umkreise von Wissenschaft und Bildung, Literatur, bildender Kunst und Musik; gerade auf die »synthetische« Behandlung dieser verschiedenen Kulturzweige legt der Verfasser den entscheidenden Wert. Er hat dabei die Aufzeigung gewisser herüber- und hinübergehenden »Beziehungen« und wechselseitigen »Einflüsse« im Auge. Die allein aber machen aus einer Summation aneinandergereihter, in sich selbständiger Einzeldarstellungen der Einzelzweige der Kultur noch keine »Synthese«,


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die vielmehr einen Integrationsprozeß voraussetzt: ein Zurückgehen auf den alledem zugrunde liegenden und in alledem sich kundgebenden »Geist«. Das erst wäre eine geistesgeschichtliche Darstellung, für die alle Darbietung kulturgeschichtlichen Materials eben doch immer nur Vorarbeit ist. -- Ganz und gar in das Gebiet einer Kulturgeschichte alleräußerlichster Observanz gehört Zaccagninis detaillierte Schilderung der zuständlichen Verhältnisse an der Bologneser Universität im späteren MA. ( 2394); von den Amtsbefugnissen der Rektoren angefangen bis zu der Tracht der Pedelle, wird hier allem mit einer Liebe zum Kleinen nachgegangen, die oft einer besseren Sache wert gewesen wäre. -- Über die isolierte Betrachtung einzelner Bildungszentren hinaus führt die Frage nach dem geistigen Verkehr zwischen den verschiedenen Bildungsherden. Diese Frage der geistigen Kommunikationswege im MA. wird -- in der neuen amerikanischen »Zeitschrift für ma. Studien«, »Speculum«, dem Organ der »Mediaeval Academy of America«, über deren Entstehung und Programm Coffman ( 2340) berichtet -- von dem bekannten Harvard-Professor Haskins ( 2346) untersucht: die Frage nämlich, wie sich bei aller (durch die Behinderungen und Schwierigkeiten des äußeren Verkehrs bedingten) örtlichen und regionalen Beschränktheit der kulturellen Entwicklung dennoch die abendländische Einheitskultur des europäischen MA. herausgestalten konnte, indem einerseits zwischen geistigen Zentren gleicher Art -- also zwischen klösterlichen, kirchlich-bischöflichen, höfisch-ritterlichen, städtischen Mittelpunkten oder solchen des Universitätslebens -- weitreichende Beziehungen sich knüpften, dann aber auch eine übergreifende Kooperation verschieden artiger Bildungskreise sich ergab. Auch über das Wandern von Büchern im MA. fallen einige Bemerkungen ab, mit denen man verbinden mag, was Thorndike ( 2348) über feierliche Vorlesungen neu entstandener Werke an Universitäten, speziell im 13. Jhd., mitteilt; Vorlesungen, die, zusammen mit der nachfolgenden Approbation durch die Versammlung und eventueller Lorbeerkrönung, eine (sich dem Publikum besonders empfehlende) »Form der Publikation« darstellen. -- Einen Überblick über das ma. Kulturgut zu geben, ist der Zweck eines Sammelbandes englischer Provenienz ( 218), der unter dem Gesichtspunkt des »Erbes«, welches das MA. den nachfolgenden Zeiten hinterlassen habe, eine Art Inventur aufzunehmen unternimmt -- aber auch nicht mehr als eben dies. Die Frage innerer Verwurzelung neuzeitlicher Entwicklungen im ma. Geistesboden kommt gar nicht auf; der Begriff des »Vermächtnisses« wird in seinem äußerlichsten Sinne genommen. Da ist von allem etwas: ein wenig Geschichte der Frömmigkeit und der Philosophie, ein wenig Kunst- und ein wenig Literaturgeschichte, etwas über Pädagogik und etwas über Jurisprudenz, ein wenig Wirtschafts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, etwas politische Ideengeschichte und etwa noch ein Kapitel aus der Sozialgeschichte wie das über die gesellschaftliche Stellung der Frauen, -- alles zusammengefaßt in einen ganz losen Rahmen: eine Summe von lauter Stücken, verteilt unter eine Reihe von Bearbeitern; kein organisches Ganzes. Unter den Mitarbeitern immerhin ein Autor vom Range Vinogradoffs. -- Der englische Dominikaner Jarrett ( 2352) in seinem Buche: Social theories of the middle ages reiht zwar ebenfalls einzelne Skizzen aneinander, die sich zudem thematisch teilweise mit entsprechenden Kapiteln des eben besprochenen Sammelbandes decken (Law, Education, Women), aber sie werden doch wenigstens zusammengehalten durch

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den Versuch, ein in sich geschlossenes Gebiet ma. Anschauungswelt zur Darstellung zu bringen. Dabei ist der Kreis des Begriffs der »Soziallehren« anerkennenswert weit gefaßt, so daß nicht nur etwa die Stellung zur Sklaverei, zum Eigentum, zur Erwerbstätigkeit, sondern auch die Stellung zum Kriege und die (für das MA. ja immer zentrale) Idee der »Christenheit« behandelt wird. Sogar die Kunstauffassung wird in einen sozialen Zusammenhang gebracht, was bei einem nichtindividualistischen Zeitalter eine besondere Berechtigung besitzt. Freilich von der eigentlichen Problematik dieser Fragen, wie sie Troeltsch entwickelt hat, weiß J. nichts. -- Dagegen ist ganz und gar einer fortlaufenden Auseinandersetzung mit Troeltsch gewidmet das Buch von O. Schilling ( 2370 a) über die christlichen Soziallehren. Zur Würdigung des geistesgeschichtlichen Ertrags dieser Auseinandersetzung darf ich auf meine eingehende Rezension in der Hist. Zt. 137 (S. 504--509) verweisen.

Den Charakter einer selbständig urteilenden Übersicht, nicht aber eigentlich selbständiger Forschung, trägt auch die Dissertation von W. Thalhauser ( 2373) über die Stellung der ma. Kirche zum Berufsethos. Sie beruht nicht auf quellenmäßiger Einzelforschung, sondern auf der sorgfältigen Durcharbeitung einer sehr umfassenden sekundären Literatur (die Bibliographie ist schon an und für sich ein Verdienst) zum Zweck der Darstellung des gegenwärtigen Problemstandes. Das Ergebnis der ruhigen und besonnenen Überschau ist eine weitgehende Klärung. Dabei führt die aufgeworfene Frage nach der Stellung der ma. Kirche zum Berufsethos an die letzten und tiefsten Kernfragen der ma. Weltanschauung überhaupt heran. Das Ideal asketischer Vollkommenheit bedeutete keineswegs eine Sprengung der Einheitlichkeit des christlichen Lebensideals, das einzig in der Forderung der caritas bestand, die den Menschen mit Gott verbindet; die »evangelischen Räte« sollen nur ein Mittel sein, dem näherzukommen; aber die Zugehörigkeit zu dem Stande der »Vollkommenheit« verbürgt keineswegs den Besitz der Vollkommenheit, der andererseits auch außerhalb jenes Standes erworben werden kann. »Wenn alles vom guten Gott geschaffen ist, so kann die eigentliche Weltverneinung im Sinne des Welthasses nur ... Beleidigung des Weltschöpfers sein. Der Verzicht kann offenbar nur sittlich gut sein als relative Negation, als Raumschaffen für Besseres« (Mausbach, Ethik des hl. Augustin). Das asketische Ideal ist eingeordnet in ein höheres, übergreifendes Ideal, das der caritas: so wie über dem (an sich stark betonten) sittlichen »Verdienst« die Gnade steht. Der Sinn der Askese sollte nur in dem lebendigen Hinweis darauf bestehen, daß das Diesseits nicht als ein letzter und höchster Zweck erachtet werden dürfe; was darüber hinausging, war einseitige Überspannung seitens einzelner Asketen, die von der Kirche als solcher keineswegs gutgeheißen wurde. Eine Entwertung und Verachtung des Diesseits lag nicht im Sinne ma. Weltanschauung, in deren Gefüge ja -- wie Troeltsch (mit dem Th., bei der Beurteilung der alten Kirche sogar zu weitgehend, übereinstimmt) eindringlich gezeigt hat -- die lex naturalis, auch sie als ein göttliches Gesetz, eine nicht wegzudenkende bestimmende Rolle (und zwar schon seit der Väterzeit) spielt. Daher Weltbejahung, d. h. positive Wertung der Kulturgüter; insbesondere auch des bürgerlichen Berufes, der Ehe, des Staates, Angebahnt schon durch Augustin, aber durch dessen gewaltigen Sündenpessimismus noch an der vollen Auswirkung verhindert, bricht sich diese Anschauungsweise im MA. in entscheidender Weise


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Bahn. Zu dem Reich der Natur, das den notwendigen Unterbau des Reiches der Gnade bildet, gehört auch die ständische Gliederung des Gesamtorganismus des corpus Christianum. Und innerhalb dessen hat nun die divina providentia einen jeden an seinen Platz gestellt, um für das (notwendigerweise arbeitsteilige) Ganze zu wirken, so daß nichts von dem zum Leben Nötigen fehle. So ist der Beruf ein von Gott verliehenes Amt, vom Einzelnen auszuüben im Dienste des Gesamtkörpers. »Unser Herr hat Martha (und Martha war ja für das MA. das Symbol der vita activa) nicht zurechtgewiesen um der Werke willen -- denn diese waren gut --, sondern nur um der Sorge willen, die sie sich darum machte«, heißt es bei Tauler. Dem MA. (und eben nicht etwa erst der Reformation) ist die Arbeit daher ein »Gottesdienst«; schon im 10. Jhd. finden wir das Handwerk als eine »laudatio ad Dominum« angesehen von dem Bischof Ratherius von Verona. So ist denn auch die Zunft eine religiöse Bruderschaft. Was nun speziell den Kaufmannsstand und das Kaufmannsgewerbe anlangt, so wurde hier freilich auf die besonderen Gefahren und Versuchungen dieses Berufes immer von neuem hingewiesen, doch ohne daß die Bedeutung, welche das kaufmännische Gewerbe an sich für das soziale Ganze besitzt, verkannt worden wäre. Wie nicht der Staat, sondern nur der ungerechte Herrscher, so wurde auch nicht der Kaufmannsstand, sondern nur der (oft!) ungerechte Kaufmann verurteilt. Gegen das tatsächliche Verhalten gewinnsüchtiger Kaufleute fallen freilich harte Worte -- übrigens auch von Laienseite (Freidank), wobei der natürliche bäuerlich-ritterliche Widerstand der Naturalwirtschaft gegen Handel und Geldwirtschaft zu berücksichtigen ist (Fr. Neumann). Die Forderungen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit aber, wie sie auch hier von dem Ideal harmonisch geordneter statischer Zustände diktiert waren, beschränkten sich auf die Zugrundelegung der Idee der »Nahrung«, des standesgemäßen Auskommens, die Innehaltung des iustum pretium und die Beachtung des Zinsverbots. Diese Theorie suchte die ma. Stadtwirtschaft in die Praxis umzusetzen: Ausschluß der Konkurrenz und Garantierung des Auskommens für jedes Mitglied war das Ziel der Zünfte. Freilich beweisen die immer und immer von neuem eingeschärften Vorschriften der Zunftrollen, wie sehr man mit der Neigung zu unlauterem Wettbewerb zu kämpfen hatte (Keutgen). Was verworfen wird, ist immer das grenzenlose, unendliche Gewinnstreben; es wird immer ein sittliches und notwendiges Ziel auch des Handels verlangt. Ein lucrum moderatum gilt als gestattet, aber nicht als Ziel, sondern als Entlohnung der Arbeit. Überall muß Maß herrschen, Einordnung und Hinordnung; der Wert des Reichtums besteht vor allem darin, daß er »facultatem ad multa beneagenda« gewährt. Übrigens werden die Schranken des Zunftsystems nicht um der Schranken willen gezogen, sondern »nur da, wo die Nahrung bedroht werden könnte« (v. Below); einen gewissen Spielraum läßt es dem Einzelnen. Thomas von Aquino, wie Berthold von Regensburg erkennen schon die internationalen Aufgaben des Handels. Der Handel soll dem »bonum commune« dienen und »ehrlich« betrieben werden. Bernhardin von Siena entwirft ein ausgeführtes Bild des »wahren und rechten« Kaufmanns, mit dem eudämonistischen Schluß, daß ein solcher »mit Gottes Hilfe ein gewinnreicher, viel besprochener Kaufmann« werde, »Gott und den Menschen angenehm, ein Vorbild und ein Spiegel für alle gerechten Kaufleute ...« Hier mündet das Thema schon ein in das neue Problem der Stellung der Kirche zum aufkommenden Geist des Kapitalismus:

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Schon Bernhardin rechtfertigt einen kaufmännischen Gewinn in der Höhe, die der Unternehmerverantwortlichkeit, der Unternehmerleistung und dem Unternehmerrisiko entspricht. Die wirtschaftsethische Linie Bernhardins geht auf Duns Scotus zurück (vgl. E. Schreiber). Die zuerst von Franz Keller geäußerten Ansichten über eine dem Geist des Kapitalismus entgegenkommende Anschauungsweise in der scholastischen Wirtschaftsethik findet Th. durch J. Strieders Forschungen bestätigt, wohingegen den Calvinismus -- dafür wird gegen Max Weber auf Karl Holl verwiesen -- noch bis in das 17. Jhd. hinein eine im höchsten Grade antikapitalistische Tendenz auszeichnete. (Zu der Frage »Religion und Genesis des kapitalistischen Geistes« nützliche Literaturzusammenstellung am Schluß der Th.schen Arbeit.) -- Da zu Th.s Gewährsmännern, auf die er sich bei seiner Auffassung des Berufsgedankens der ma. Kirche stützt, auch Nik. Paulus gehört, so sei eine neue Abhandlung dieses Autors, die speziell den hl. Thomas unter diesem Gesichtspunkt behandelt ( 2371), hier mit angemerkt. Sie zeigt, wie Thomas die Berufsgliederung zurückführt auf die natürliche Verschiedenheit der menschlichen Neigungen und Anlagen, wie aber diese »natürlichen« Ursachen nicht, wie Max Weber und Holl es tun, von dem Wirken der göttlichen Vorsehung abgetrennt, ja in einen Gegensatz zu ihr gestellt werden können, da dies gegen den Geist der thomistischen Weltanschauung wäre, die ja eben in jenen »natürlichen« Ursachen nur Mittelursachen sieht, durch welche die göttliche Vorsehung wirkt, so daß hier der gottgewollte, providentielle Charakter der verschiedenen Berufe, zu denen die Einzelnen »berufen« sind, klar gegeben ist.

Hier darf auch, trotz seines scheinbaren speziellen Themas, der Aufsatz von Dickinson ( 2357): The medieval conception of kingship ... eingereiht werden: denn einerseits hat er, angesichts der reichen Literatur, die bereits über die politischen Ideen des Johannes Saresberiensis vorliegt, doch weithin den Charakter einer -- übrigens wegen ihrer begrifflichen Klarheit und Schärfe sehr rühmenswerten -- Übersicht; und dann will der Verfasser an diesem »einzigen wichtigen« politischen Traktat, der aus der Zeit vor der Aristotelisierung des ma. Denkens stammt und daher »die rein ma. Tradition« in »ihrer reifsten Form« darbietet, »die ma. Konzeption des Königtums« schlechthin entwickeln; die Auffassung vom Königtum aber ist ihm »das Herz« der politischen Gedankenwelt des MA. -- Natürlich ist die Staatslehre des Johannes von Salisbury, wie alle ma. Staatslehre, im wesentlichen (religiös fundierte) politische Ethik. Daß Ottmar Dittrichs Geschichte der ma. Ethik ( 2370) einen Johannes von Salisbury nur mit ein paar ganz kurzen und völlig unzulänglichen Bemerkungen abtut, mag zeigen, wo der Historiker des allgemeinen Geisteslebens bei dieser Darstellung eines Philosophen nicht auf seine Rechnung kommen wird: das Augenmerk ist den philosophischen »Systemen« der Moral zugewandt, also mehr den Selbstdarstellungen der Ethik in der Welt des abstrakten Gedankens als den -- auch außerhalb der Welt der «Systeme» zum Ausdruck gelangenden -- ethischen Einstellungen des ma. Menschen zum «Leben» und seinen Ordnungen wie zur «Kultur» und ihren Gütern. Immerhin -- vom Standpunkt des Philosophen aus gesehen, ist der Kreis dessen, was der Verfasser in seine Darstellung einbezieht, sogar erfreulich weit gezogen; und wenn dies Handbuch dem Universalhistoriker naturgemäß nur die Dienste eines Hilfsbuches leisten kann, so wird er doch für ein so brauchbares Hilfsmittel, wie es diese


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Geschichte der ma. Ethik ist, die alle älteren Darstellungen weitaus übertrifft, sehr dankbar sein müssen. -- Kein Lesebuch, aber ein (keiner Empfehlung mehr bedürftiges) Nachschlagebuch ist Molsdorfs katalogartiger »Führer« durch die ma. Symbolik und Typologie ( 2386), wie sie uns in der bildenden Kunst entgegentritt. Wer dem ganzen Beziehungsreichtum weltanschaulicher Vorstellungen, der sich da ausdrückt, nachgehen will, findet dies Handbuch nun in einer neuen Auflage von noch erhöhter Brauchbarkeit. -- Eine allen Ansprüchen genügende Darstellung des ma. Naturgefühls besitzen wir bekanntlich in Ganzenmüllers Buch. Trotzdem wird man daneben auch Biese immer noch ergänzend zu Rate ziehen, freilich die eingehendere ältere Darstellung der neuen populären ( 2374), über die ich mich in der Hist. Zt. 139 (S. 323--327) näher ausgelassen habe, unbedingt vorziehen; für das MA. kommen das III., IV. und (für Dante) das V. Kapitel in Betracht.

Will man das Verhältnis des ma. Menschen zur Natur im weitesten, im kosmischen Sinne verstehen, so muß man vor allem begreifen, was ihm die Astrologie bedeutete. Bolls bekanntes Werk über Sternglaube und Sterndeutung, in der Neuauflage von Gundel durch »Nachträge« und Zusätze auf mehr als den doppelten Umfang erweitert ( 2374a), bietet dafür alles grundlegend Wichtige. Ist es doch ein besonderes Verdienst dieses Werkes, daß es auf das zurückgeht, »was dem Sternglauben in den menschlichen Grundtrieben und Empfindungen Boden schafft«, und dartut, daß es sich dabei nicht zunächst um einen »vulgären Aberglauben« handelt, sondern um ein »seelisches Erlebnis« von »religiösem Grundcharakter«: das Erlebnis des Kosmos als eines lebendigen Organismus (das ein uns vielleicht erst durch die Aufklärung und durch die Naturwissenschaft des 19. Jhds. genommenes Urgefühl ist). H. A. Strauß ( 2374b), dessen Buch über den astrologischen Gedanken als eine wertvolle Ergänzung zu Boll anzusehen ist, meint, »das primäre Erlebnis« sei vielleicht arisch, und orientalisch erst »das später erstarrte Regelwerk«. Jedenfalls setze die Rezeption des von der Antike, Byzanz und den Arabern überlieferten Sternglaubens beim christlichen MA. eine Bereitschaft dafür voraus. Es habe dann das Übernommene umgestaltet aus den Kräften der eigenen Seele, die von »der Möglichkeit himmlisch-irdischer Entsprechung« ganz durchdrungen war. Das christliche Bewußtsein der Gotterschaffenheit beider, der Welt wie des Menschen, mußte ja ein nur um so engeres Band zwischen Mensch und Welt knüpfen. »Aus diesem Gefühl, mit dem Ganzen ... verknüpft zu sein, wird dem Menschen alles ... Vorzeichen.« Gewiß können für den Christen die Sterne nicht wider Gottes Willen wirken, aber sie können ihm voraus verkündigende Zeichen seines Willens sein -- so zwar, daß sie andeuten, was dem Menschen bevorstehen würde, wenn nicht seine Reue und Buße, sein Gebet und sein Opfer das sonst unabwendbare Verhängnis noch abwenden. Dabei scheinen -- in einer noch nicht ausreichend geklärten Weise -- sehr verschiedenartige, ja entgegengesetzte Motive durcheinander zu laufen. Laktanz und Augustin sehen in den Sternen Dämonenmacht wirksam (die freilich der freie Wille des Menschen und Gottes Gnade überwinden können); von hier führt der Weg zur dämonischen Astrologie des MA., zur astrologischen Magie oder Zauberei. Gegen solche Zauberer, welche sich die Sterngeister, mit denen sie in geheimem Konnex standen, dienstbar machten, ging die Kirche streng vor. Auf der anderen Seite lehrt dagegen ein ma. Aristoteleserklärer in den Fixsternen »die Urbilder der


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auf Erden entstehenden Dinge« sehen, -- und mußte es nicht dem Weltgefühl wie des Platonismus so des ma. »Realismus« naheliegen, in den Sternen die Urbilder des die Welt beherrschenden ordo, die Weisungen und Vorbilder für das Irdische zu finden? So kann die Astrologie geradezu als Verkünderin der weisheitsvollen Ordnung Gottes angesehen und als solche von kirchlicher Seite verteidigt werden als eine gottgewollte Kunst -- eine Haltung, die mit der Warnung vor einem Fatalismus, der alles rein naturgesetzlich bestimmt sieht und sich von der Tyrannei der Sterne rettungslos abhängig fühlt, durchaus Hand in Hand gehen konnte. So akzeptieren Hugo von St. Victor und Abälard die astrologia naturalis, d. h. die Lehre vom Einfluß der Planeten (auch bei der hl. Hildegard von Bingen findet sich derartiges), wohingegen die astrologischen Prophezeiungen für sie Einflüsterungen des Teufels sind. Gegen den (besonders seit dem 13. Jhd. grassierenden) Vulgärglauben an das unbedingte Abhängigsein alles menschlichen Wollens und Handelns von den Gestirnen und gegen die populäre astrologia iudiciaria wandten sich die geistig Führenden, ohne daß sie aber eine Wirkung der Gestirne an sich bestritten. Kein Geringerer als Albertus Magnus war »der erste namhafte deutsche Astrologe«. Auch nach Dante schaffen die Gestirne bestimmte Inklinationen; doch hat der Mensch von Gott die Fähigkeit erhalten, vermöge seiner Erkenntnis des Guten und Bösen und seines freien Willens jene Inklinationen zu besiegen -- im Sinne des alten astrologischen Spruches »astra inclinant, neque tamen necessitant«. Sowohl Boll wie Strauß beziehen sich auch auf Thomas von Aquino als einen, der in bestimmtem Umfange den Einfluß der Gestirne ausdrücklich zugibt. Darum mag an dieser Stelle auf die eingehende, streng quellenmäßige Darstellung hingewiesen werden, die Choisnard ( 2374 c) von den astrologischen Anschauungen des hl. Thomas gibt. Danach sind die Gestirne zwar nicht die Ursache für alles Geschehen, wohl aber eine der Ursachen, welche bestimmte natürliche Bedingtheiten schaffen. Sie bewirken bestimmte angeborene Prädispositionen, die man insoweit, als sie unsere »Neigungen« betreffen, auch erkennen und auf ihre natürliche Verursachung zurückführen kann. Aber man darf nicht vergessen, daß es sich hier doch nur um einen kausalen Nexus innerhalb des Rahmens der rein naturgesetzlichen Wirksamkeit handelt; denn über dieser Sphäre natürlicher Notwendigkeiten steht die Sphäre des freien menschlichen Willens und die alles regierende göttliche Vorsehung. Auf deren unmittelbares Wirken (d. h. auf ihr Wirken nicht mittels der causae secundae) führt Thomas dasjenige Geschehen zurück, das sich vom Menschen aus gesehen als ein »zufälliges« darstellt. Man darf daher nicht so vorgehen, als gäbe es nur die natürliche Sphäre, und als wäre die Welt mitsamt den Menschen ein Mechanismus. Aber auch hier gilt das abusus non tollit usum. Man kann die Zukunft vorhersagen, insoweit sie von den Gestirnen bestimmt ist. Und das ist in sehr weitem Umfange der Fall. Denn wenn auch der Einfluß der Gestirne im wesentlichen nur ein solcher auf die sensitiven Kräfte, die Triebe der menschlichen Natur ist (immerhin wird auch ein gewisser Einfluß auf Intellekt und Willen als möglich vorausgesetzt), so ist doch, da die meisten Menschen eben lediglich ihren Trieben und Leidenschaften folgen (statt ihnen zu widerstehen), in der großen Mehrzahl der (gewöhnlichen) Fälle eine astrologische Voraussagung möglich. Daher auch das häufige Eintreffen der Prognosen, die einfach mit dem Verhalten der »Menge« rechnen. Thomas könnte hier (augustinisch) von der allgemeinen

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Sündhaftigkeit sprechen, die hier das zugrundeliegende Faktum ist; aber der (ja schon in manchem auf die Renaissance vorausweisende) Scholastiker gibt dem Problem eine andere (stoische) Nüance: der unvernünftigen »Menge«, die blind ihren Trieben und Leidenschaften folgt, steht die äußerst geringe Zahl der »Weisen« gegenüber, die, weil sie sich ihrer geistigen Freiheit bewußt sind und sich von der Vernunft lenken lassen, auch den Gestirnen gebieten können. Nicht auf Sünde und Buße, sondern auf Triebbefangenheit einerseits und freiem Gebrauch der Vernunft andererseits liegt der Ton. Es gibt eine Sphäre rein »natürlicher« Bedingungen; ihre Erforschung, mitsamt den sich daraus ergebenden Prognosen, ist ein durchaus »erlaubtes« Unternehmen. Nur gibt es eben noch zwei darüber hinausgreifende Sphären: die des vernünftig urteilenden freien menschlichen Willens und die der divina providentia. Damit sind Recht und Grenzen der Astrologie gegeben.


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