§ 42. Humanismus.

(H. Baron.)

Mit Cassirers »Individuum und Kosmos in der Renaissance« ( 1980) erhalten wir zum ersten Male seit Carrières veralteter Geschichte der Renss.- Philosophie wieder eine zusammenfassende Würdigung der philosophischen Bestrebungen der Renss. und des Hum. Freilich handelt es sich dabei nicht um eine chronologisch fortschreitende Geschichtsdarstellung im eigentlichen Sinne. Nach einer Schilderung des Nicolaus Cusanus, die sehr fesselnd und eigenartig (wenn auch zweifellos einseitig) alle Züge hervorhebt, in denen sich Cusanus' Denken bereits vom Geiste der Renss. erfüllt zeigt, begnügen sich die folgenden Kapitel, die Entwicklung einiger Hauptprobleme der Renss.-Philosophie einzeln zu behandeln. Trotzdem besitzt diese philosophiegeschichtliche Studie auch für den allgemeingeschichtlich interessierten Historiker eine ungewöhnliche Bedeutung. C. beschränkt sein Material nämlich nicht auf die eigentlich philosophische


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Literatur, sondern berücksichtigt in weitestem Maße die neueren Forschungen zur allgemeinen Geistes- und Kulturgeschichte des Hum. Von Burdach übernimmt er das Interesse am »Ackermann aus Böhmen«, von dem Italiener Gentile die Hinweise auf die Schriften des quattrocentistischen Humanismus über die »Würde des Menschen«, von Olschki die Entdeckung der Laienwelt der experimentierenden Künstler und Techniker, vom Kreise der Bibliothek Warburg die Ergebnisse der Forschung über das Fortwirken spätantiker Ideen in der Kunsttheorie und bildenden Kunst des 15. Jhds. Die Darstellung, die auf dieser weitgespannten Grundlage von der human. Idee der sittlichen Autonomie und Würde des Menschen und von ihrer philosophischen Ausgestaltung in dem Begriff der produktiven Schöpferkraft des Menschen gegeben wird, bietet eine erste glückliche Zusammenfassung der neueren Forschung. Das Ziel von C.s Untersuchung reicht aber weiter. Ihre eigentliche Aufgabe ist der Nachweis, daß aus dem Bewußtsein der Freiheit und Würde des Menschen ein neuer Begriff der menschlichen Erkenntnis als einer schöpferischen Tätigkeit mit innerer Notwendigkeit herauswächst, und daraus eine neue Erkenntnislehre, die die Welt der Erfahrung als eine Schöpfung des menschlichen Geistes selber betrachtet, und ein neues naturwissenschaftliches Bild des Kosmos, das den ma.lichen Glauben an eine Hierarchie von Sphären verschiedenen Wertes in Kultur und Natur zerstört. Es handelt sich also um eine Art Gegenstück von Kantisch-naturwissenschaftlicher Seite zu Diltheys grundlegenden Renss.- und Reformations-Arbeiten, um den Versuch, das moderne mathematisch-physikalische Naturbild und die moderne subjektivistische Erkenntnislehre statt mit Galilei und Descartes schon mit der Renss. des 15. Jhds. beginnen zu lassen, und zwar als direkte Folge der human. Auffassung vom Menschen, ähnlich wie Dilthey für das Gebiet des politischen, historischen und religiösen Denkens einen entsprechenden Zusammenhang nachgewiesen hat. Man dürfte sich dann also Naturauffassung und Kosmologie der Renss. nicht mehr im äußersten Gegensatz gegen das physikalisch-mechanische Weltbild des 17. Jhds. denken, sondern müßte Astrologie und pantheistische Naturphilosophie der Renss. als bloße Irr- und Seitenwege ansehen, neben denen sich bereits seit frühhumanistischer Zeit eine dem 17. Jhdt. verwandte Naturlehre und Erkenntnisphilosophie als echter Ausdruck des Renss.-Geistes entfaltete. Ich glaube aber nicht, daß C. dieser Nachweis gelungen ist. Bei Nicolaus Cusanus zwar ist es ihm möglich zu verfolgen, wie die als stufenmäßige Hierarchie gedachte Verbindung des Irdischen mit dem Göttlichen zum ersten Male durch die Vorstellung einer Welt verdrängt wird, in der kein Teil dem Göttlichen näher und andern Gesetzen unterworfen ist als ein anderer, und zwar mit Hilfe einer Philosophie, die eine Erkenntnis nur insoweit für wahr halt, wie mathematisches Messen möglich ist, und die deshalb die gesamte Erfahrungswelt von der Sphäre des Göttlichen grundsätzlich scheidet. Aber diese Ideenwelt des Cusaners ist offensichtlich einer ganz besonderen Konstellation, der Berührung der nördlichen Mystik mit italienischem Hum. und mit den naturwissenschaftlichen Interessen der Schule von Padua, entsprungen. Es fragt sich, ob dies Zusammentreffen nicht eine vereinzelte Erscheinung geblieben ist. Cassirer sucht freilich den Nachweis zu erbringen, daß Cusanus' Schriften auch auf Italien einen weit größeren Einfluß ausgeübt haben, als bisher angenommen wurde. Aber trotz aller Versuche, wenigstens bei den Platonikern direkte Einflüsse des Cusanus nachzuweisen,

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vermag er keine nennenswerte neue Tatsache über die bereits von Olschki gemachte Feststellung hinaus beizubringen, daß die Schriften des Cusaners in der Hauptsache nur von den außerhalb aller Schultradition stehenden Künstlern und Technikern gelesen wurden, denen Leonardo da Vinci angehörte. Die praktischen Traktate über Perspektive, Baukunst und Fortifikationstechnik, die in diesen Kreisen entstanden, können jedoch unmöglich als repräsentativ für den philosophischen Geist der Epoche gelten, und auch Leonardos Schriften bieten nirgends eine in ihren philosophischen Konsequenzen durchgeführte Weltanschauung und blieben zudem, wie bekannt, im Verborgenen, ohne Wirkung auf die Zeitgenossen. C. empfindet dies wohl selbst und sucht daher seine These weiter durch den negativen Nachweis zu stützen, daß Astrologie, Magie und pantheistische Allbeseelung der Naturphilosophie, auch wenn sie fürs erste die Oberhand behielten, doch schließlich noch während der Renss. von einzelnen führenden Geistern geistig überwunden wurden. Die frühesten Überwinder der pantheistischen Naturphilosophie, die C. feststellen kann, bleiben aber Galilei und Descartes. In ihnen, den führenden Denkern des 17. Jhds., die Krönung der Renss.-Philosophie zu sehen, wie C. es tut, bedeutet aber eine Verwischung statt einer Lösung des Problems. Jedenfalls muß der Historiker Einspruch gegen den Versuch erheben, die Gedankenwelt der Renss. aus den Ideen dreier Persönlichkeiten aufzubauen, von denen die erste (Cusanus) vielleicht noch nicht ganz, die letzte (Galilei) schon bestimmt nicht mehr zur Renss. im kulturellen Sinne gehörte, und die dritte (Leonardo) die Ideen, in denen C. den Kern der Renss.- Philosophie sucht, zwar aphoristisch im Zusammenhang mit einer selbständig erwachsenen Kunsttheorie gelegentlich berührte, aber ohne sie je für das Ganze der Philosophie oder Weltanschauung fruchtbar zu machen.

Ebensowenig geglückt scheint mir C.s Nachweis einer Überwindung der Astrologie durch die Renss.-Ethik der sittlichen Autonomie des Individuums. Zu dieser Frage sind gleichzeitig noch einige andere Arbeiten erschienen, die C. widerlegen. Wir hören von ihm, daß, während Ficino über »eine bloße Scheinlösung und ein Kompromiß« nicht hinauskam, Pico zu einer vollständigen Widerlegung der Astrologie gelangte, weil er »in der Ethik zu einem der ersten Bahnbrecher des echten Renss.-Geistes« wurde und in dieser Renss.-Ethik das »Fundament« zur Überwindung der Astrologie fand. Tatsächlich ist aber Picos Schrift als Teil eines geplanten großen Werkes zur Verteidigung der Kirche und ihrer Glaubenssätze entstanden, zu einer Zeit ( 1494), als er unter dem Eindruck Savonarolas sein Jugendideal der »Würde des Menschen« längst mit einer halb mönchischen Lebensführung vertauscht hatte. Daß Picos Gedankenwelt damals, so weit sie nicht bereits ausgesprochen asketischen Charakter trug, der reformatorischen Welt der nördlichen Länder näher stand als der Renss.-Welt eines Ficino, darüber kann man sich aus den Studien unterrichten, die J. Pusino seit einigen Jahren der Persönlichkeit Picos widmet. Auf den ersten Aufsatz, der Pico und Ficino als religiöse Denker grundsätzlich von einander schied, ist jetzt ein zweiter gefolgt, der den Einfluß Picos auf den in mancher Hinsicht verwandten Erasmus untersucht ( 1988 b). Umgekehrt bietet Ficino ein Beispiel dafür, daß das Denken eines ausgesprochenen Renss.-Philosophen am Ende des 15. Jhds. bei ungestörter Entfaltung nicht zur »Überwindung«, sondern zur Wiederaufrichtung und wissenschaftlichen Fortbildung der Astrologie führte. Ich kann dafür auf einen Aufsatz von mir über »Willensfreiheit


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und Astrologie bei Marsilio Ficino und Pico della Mirandola« (»Kultur- u. Universalgeschichte«, Festschrift für Walter Goetz, Leipz. 1927, 145 ff.) verweisen, in dem ich auf Grund eines Florentiner Autographs Mitteilungen über eine bisher als verloren geltende Jugendschrift Ficinos »Gegen die Astrologen« mache. Ficino verteidigt darin die sittliche Freiheit des Menschen mit nicht geringerer Leidenschaft gegen das astrologische Fatum als später Pico, nur mit dem Unterschiede, daß seine Schrift am Ende unvollendet blieb, weil er gleich Pontano, Pomponazzi und den meisten seiner italienischen Zeitgenossen in den Gestirnseinflüssen im Sinne der Zeit natürliche Gesetze erkennen lernte. Zum Wesen der Renss.-Philosophie um 1500 gehörte eben, darf man im geraden Gegensatz zu Cassirer behaupten, die Neubegründung der Astrologie als einer scheinbar exakten Naturwissenschaft.

Zu einem andern Ausgangspunkt von Renss. und Hum. führt Davidsohn zurück ( 1979 a). Für eine eingehende Würdigung dieses wichtigen Werkes ist hier freilich nicht der Ort. (Ich verweise dafür auf die ausführliche Besprechung, die ich gleichzeitig in einem Literaturbericht über »Renss. in Italien« im Archiv f. Kulturgesch. gebe.) Es ist hier nur kurz noch einmal auf das Problem hinzuweisen, das schon Joachimsen in unserm vorletzten Berichte (1925) berührte. D. äußerte in einer Vorbemerkung zum ersten Teile des vierten Bandes die Ansicht, die Florentiner und die italienische Renss. überhaupt sei aus der staufisch-ghibellinischen Kultur Unteritaliens im Zeitalter Friedrichs II. unmittelbar hervorgewachsen und habe von dieser als ihr Erbteil einen unreligiösen Zug, Skepsis gegen die kirchliche Doktrin und eine Tendenz zu verstandesmäßiger Aufklärung übernommen. Der neue dritte Teil hätte die Beweise für diese Behauptungen bringen müssen. An grundsätzlichen Äußerungen fehlt es in ihm so gut wie ganz bis auf eine einführende Bemerkung am Anfang. Erstaunlicherweise hört sich diese wie eine Selbstwiderlegung des früher Behaupteten an. »Nirgends zeigt sich die Verwurzelung des Glaubens im Volkstum so deutlich wie in Florenz«, heißt es jetzt. »Dem Rationalismus der Zeit Friedrichs II. und Manfreds wäre wohl auch ohne den Umschwung der Geschicke keine sehr lange Herrschaft über die Geister beschieden gewesen. Zu stark wandte er sich an die Vornehmen, die Gebildeten, die Selbstdenkenden, es wohnte ihm zu viel orientalisch verneinende Nüchternheit inne, als daß er das italienische, zumal das toskanische Volk mit seinen Bedürfnissen der Phantasie, seiner Neigung zur Phantastik, dauernd hätte befriedigen können. Unendlich besser entsprach seinem Empfinden ein robuster Glaube, der das Leben bejahte, die Jenseitshoffnungen stärkte.« Das sind genau die Argumente, die gegen D.s frühere Behauptungen einzuwenden sind, und das gesamte Material des neuen Bandes trägt nur zu ihrer weiteren Widerlegung bei, obwohl D. sich ständig bemüht, die starke religiöse Bewegung des guelfischen Florenz als eine in der Hauptsache durch äußerliche Diplomatie des Klerus erzwungene Gegenreformation darzustellen, und davor warnt, dieser Reaktion eine irgendwie entscheidende Änderung der skeptischen »Florentiner Psyche« zuzutrauen. Im Hinblick auf die spätere Entwicklung des Hum. in Florenz darf man jetzt gerade als Ergebnis von D.s Darstellung folgendes feststellen. Im Mittelpunkt der literarischen Interessen der Bürger standen von vornherein Comune, Politik und historische Vergangenheit der Stadt; nicht Fragen der Naturwissenschaft, Philosophie und religiösen Kritik, sondern das Verhältnis von Stadt und Landschaft zur antiken


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Vergangenheit. Gerade dies bezeichnet den Wandel der geistigen Lage gegenüber der Welt des sizilianischen Hofes und erklärt den tiefen geistigen Unterschied des Humanismus, der sich hundert Jahre später in dieser Umwelt entwickelte, von der Aufklärung der staufisch-ghibellinischen Epoche.

Für den italienischen Hum. selber sind nur einige Einzelarbeiten zu nennen, in denen A. v. Martin und W. Rehm die Religiosität Petrarcas behandeln. Für ihre nähere Besprechung fehlt es hier an Raum. Ich verweise wiederum auf mein Renss.-Referat im Arch. f. Kulturgesch.

Über den Hum. in Deutschland liegt auch diesmal wieder eine Gesamtdarstellung vor. W. Stammler gibt in einem Kapitel von 170 Seiten, das von einem ergiebigen bibliographischen Anhang begleitet wird, einen Überblick über den deutschen Hum. von seinen Anfängen bis zum Ausklang im Zeitalter der Reformation ( 2005). Da wir seit dem Buche von Geiger erst eine einzige neuere Zusammenfassung erhalten haben, die im vorigen Berichte von Joachimsen angezeigte Übersicht von Ellinger, so besteht heute ein Bedürfnis nach derartigen Darstellungen. St.s Arbeit erscheint noch dazu im Rahmen eines vielgelesenen literaturgeschichtlichen Handbuchs. Es wird daher sicher nicht folgenlos sein, daß sie im wesentlichen Geigers Beurteilungsmaßstäben treu bleibt. Gewiß ist es ein geläuterter Geiger, die sittlichen und religiösen Tendenzen des Hum. werden in ganz anderer Weise anschaulich gemacht als in dem älteren Buch, aber in der allgemeinen historischen Bewertung der Tatsachen erweist sich St. überraschenderweise durchaus als ein Anhänger der alten liberalen, von Strauß inaugurierten Auffassung, für die der Kampf des Hum. gegen Scholastik und Luthertum ein bewußter Kampf für die Freiheit der Wissenschaft gegen theologische Unterdrückung war. Zwar hat Huttens Persönlichkeit, wie es scheint, von ihrem Nimbus viel eingebüßt (er wird nur als Schriftsteller, als Schöpfer von Dialogen und Epigrammen, gewürdigt), aber der Reuchlinsche Streit erscheint unverändert als ein Kampf gegen die »Knebelung der freien Forschung«, durch Erasmus' und Reuchlins Wirksamkeit wird erst »der Forscher und Denker im Deutschen geboren«, für den »nicht mehr die Rede von Autorität und Schule« ist, der nur noch »freie Forschung, unvoreingenommene Kritik, feste Methoden« zum Ziele hat, der Hum. erstrebt zum ersten Male eine Naturwissenschaft »auf Grund der Erfahrung« und ist überall der Vorkämpfer einer freien überkonfessionellen Religiosität gegen die dogmatische Enge des Luthertums, auf das die dunkelsten Schatten fallen. Spürbaren Einfluß der neueren Forschung bemerkt man nur in einem einzigen Punkte, in der Berücksichtigung Burdachs, aber auch von diesem wird nicht die neue Fragestellung, sondern nur das positive Ergebnis übernommen, so weit es sich auf die Würdigung der humanistischen Frühkultur Böhmens bezieht. Die Wiederentdeckung des »Ackermanns aus Böhmen« bedeutet für die deutsche Literaturgeschichte eben einen positiven Gewinn, über dessen Wert kein Streit mehr ist. Die Darstellung der Anfänge des Hum. in Süddeutschland ist überhaupt der stärkste Teil des Buches. Dagegen ist die Blütezeit nach 1500 schon räumlich viel stiefmütterlicher bedacht. Wichtige Persönlichkeiten fehlen ganz oder werden nur flüchtig gestreift, auch die tatsächlichen Angaben sind hier trotz ihrer Spärlichkeit nicht immer zuverlässig. Eine Ausnahme bildet die Darstellung der lateinischen Dichtung. Diese steht für das literaturgeschichtliche Werk im Vordergrunde und wird genau und anregend behandelt. -- Einen


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Überblick über dieses Spezialgebiet liefert gleichzeitig auch Ellinger ( 1981). Freilich wird die Zeit des eigentlichen Hum. von ihm nur eben noch gestreift. Die neulateinische Dichtung, die er schildert, ist nach seiner eigenen Definition »die Poesie, die dem nachhumanistischen Gelehrtentum parallel geht, bzw. die von den nachhumanistischen Gelehrten und Schulmännern ausgeübt wird«.

Gelegenheit zu Querschnitten durch die Geschichte des Hum. bietet immer wieder die Geschichte der Universitäten und des öffentlichen Unterrichts. Einen solchen findet man in dem materialreichen Buche von E. Cl. Scherer ( 90), das in den einleitenden Kapiteln auch die Zeit des Hum. behandelt. Es ist ein erster Versuch, unsere Kenntnis über die Entwicklung des geschichtlichen Unterrichts an den deutschen Universitäten des 15. und 16. Jhds. zusammenzufassen, z. T. aus den Quellen neu zu begründen. Zwar hat Sch. in erster Linie die Kirchengeschichte im Auge, aber da in humanistischer Zeit von einer selbständigen kirchengeschichtlichen Disziplin noch nicht die Rede ist, so fällt die Kirchengeschichte in diesen Partien mit der allgemeinen Geschichte zusammen, und wir erhalten ein Bild von der Entwicklung des humanistischen Geschichtsunterrichts überhaupt. Wie Sch. selber im Vorwort erklärt, will er weniger einige große Linien herausheben als das Material erst einmal mit möglichst zahlreichen Einzelheiten ausbreiten. Für die Periode bis 1560 war dies vielleicht wirklich der beste Weg, denn von einem geradlinigen, leicht übersehbaren Fortschritt ist hier noch nichts zu finden. Übersieht man jetzt das Ganze, so ist es bemerkenswert, wie wenig von der Neubegründung der historischen Wissenschaft und der Umformung des Vergangenheitsbildes durch den Hum. dem Universitätsbetrieb ein ganzes Jahrhundert lang zugute kam. Wie »Poesie« im humanistischen Unterrichtsbetriebe die Interpretation antiker Dichter bedeutete, so wurde auch unter »Geschichte« im allgemeinen nicht Belehrung über den Entwicklungsgang des historischen Geschehens, sondern Lektüre und philologische Erklärung der antiken Historiker verstanden. Die Historie blieb daher in der Regel als ein Teil der Philologie mit Poesie und Eloquenz in Personalunion verbunden, und Interpretationen des Livius, Cäsar, Valerius Maximus und Sallust galten als historische Kurse. Erst nach 1550 hat die Geschichte im eigentlichen Sinne ihren Einzug in den Lehrplan gehalten. Sleidans »Vier Monarchien« und Carions »Chronik« in Melanchthons Bearbeitung boten die ersten Handbücher für einen geregelten Unterricht. -- Die Quellenbibliographie am Schlusse des Bandes enthält eine systematische Zusammenstellung aller bekannten Lehrbücher der Geschichte und Kirchengeschichte seit dem Hum.

Anregung zu größeren Arbeiten über den Hum. bot das 450 jährige Jubiläum der 1477 begründeten Universität Tübingen. Eine empfindliche Lücke in unserer Kenntnis der Universitätsgeschichte schließt das Buch von Johannes Haller ( 2050), das die Schicksale der Tübinger Hochschule durch die ganze humanistische Epoche hindurch verfolgt. Haller weiß den z. T. doch spröden Stoff, den die Geschichte der Gelehrten, des studentischen Lebens und der finanziellen Alltagssorgen einer kleinen Landesuniversität bietet, mit großer Wärme und Anschaulichkeit darzustellen. Wir besitzen keine zweite Universitätsgeschichte, die man als Einführung in das akademische Leben der Zeit so sehr empfehlen könnte. Dabei liegen die Verhältnisse für Tübingen insofern besonders ungünstig, als die Verwaltungsakten bis 1524, also fast für die ganze von Haller behandelte Zeit, zugrunde gegangen sind, und die Rolle der Universität


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in den geistigen Bewegungen der Zeit kaum hinreicht, um diesen Mangel wettzumachen. Man glaubt der Darstellung die Freude anzumerken, daß es ihr trotzdem gelingt, ein Bild von vollkommener Anschaulichkeit zu entwerfen. Auf die Schilderung der Gründer, des Grafen Eberhard d. Ä. und seines humanistischen Beraters Vergenhans (Nauclerus), und die Erzählung der Begründung und materiellen Fundierung folgt ein Einblick in das äußere Leben und Treiben der Hochschule, dann die Geschichte der geistigen Leistungen, und den Schluß bildet ein Kapitel über die Zeit des Niedergangs und der Krisen, die 1496 mit dem Tode Graf Eberhards einsetzten und erst mit der protestantisch-humanistischen Neuordnung von 1537 bis 1538 ihr definitives Ende fanden. Man wird freilich darüber streiten können, ob es richtig war, die Diskussion der heute die Forschung beschäftigenden Probleme und Vergleiche der Tübinger Verhältnisse mit der geistigen Lage anderer Universitäten so stark hinter der einfachen deskriptiven Darstellung zurücktreten zu lassen, wie H. es tut. Was die Universität Tübingen für die Wissenschaft und für die Verbreitung von Kenntnissen und Bildung bedeutete, das sei, erklärt H. (S. 125), »beides in erster Linie eine Geschichte ihrer Lehrer«, und dementsprechend ist seine Schilderung in der Hauptsache nichts als eine Reihe von Gelehrtenbiographien, die freilich jede für sich ausgezeichnet sind. Man lernt zuerst Juristen und Scholastiker (Biel, Summenhart, Steinbach, Lemp) kennen, dann kommen die Humanisten an die Reihe oder richtiger Heinrich Bebel, denn dieser ist jahrzehntelang die einzig bedeutende Persönlichkeit, die in Tübingen den Hum. vertritt. H. schwebt dabei der Gedanke vor, daß Tübingen, wo »Scholastik und Hum. beide eine so ansehnliche Vertretung fanden ... wie an keinem zweiten Orte«, wie ein Mikrokosmos das gesamte geistige Leben Deutschlands widerspiegelt und darum nur aus sich selber heraus geschildert zu werden braucht. Der Eindruck, den der Leser dadurch von den geistigen Bewegungen der Zeit und von Tübingens Bedeutung empfängt, ist aber zum mindesten für den Hum. irreführend. Es hätte hervorgehoben werden müssen, daß Bebel und seine Tübinger Schule im Grunde nur ein vorgeschobener Posten des Celtisschen Kreises waren, während der spätere, von religiösen Reformideen erfüllte Hum., der seit der Jahrhundertwende von den Niederlanden her vordrang und in ganz anderer Weise eine Umgestaltung des geistigen Lebens bedeutete als die Philologie und Verskunst Bebels, in Tübingen keine Stätte fand. Dagegen hatte Tübingen für die Geschichte des Frühhum. wohl eine noch größere Bedeutung, als Hallers Betonung der paritätischen Behandlung von Scholastik und Hum. vermuten läßt. Tatsächlich war die Gründung der Universität selber eine Frucht des durch den Hum. entfachten Bildungseifers. Schon Paulsen, Hermelink (dieser freilich mit Vorbehalten) u. a. haben den humanistischen Geist des Gründungsbriefs vom Juli 1477 charakterisiert, in dem Graf Eberhard erklärte, lieber eine Schule als Kirchen bauen zu wollen, weil ein reines und keusches Gemüt »auf keine Weise besser und auf keinem Wege kürzer erworben werden kann als durch wissenschaftliche Bildung«. H. hat diese Sätze nur für die Biographie des Vergenhans verwertet (S. 19); daß hum. Geist den Anstoß gab, dem die Tübinger Hochschule ihr Dasein verdankt, lernt der Leser daraus nicht. Auch daß auf Hermelinks bekannte Thesen über das Verhältnis von »via antiqua« und Hum., die gerade am Beispiel Tübingens entwickelt wurden, weder zustimmend noch ablehnend eingegangen wird, scheint mir ein Mangel des schönen Buches.

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-- Eine Ergänzung von H.s Gelehrtenbiographien bietet das Büchlein von Bebermeyer ( 1990). Für Bebel findet man auch hier eine ausführliche Darstellung, vor allem wird er als lateinischer Dichter gewürdigt. Eine lehrreiche Auswahl von Textproben seiner Dichtungen ist beigegeben. An Bebel reiht B. Frischlin (1547--1590) und Flayder (1596--1640), die den Tübinger Hum. auf einer späteren Stufe repräsentieren. Sie sind ebenfalls hauptsächlich als Dichter gewürdigt und mit zahlreichen Proben ihrer Dichtung vertreten.

Auch die Marburger Universität konnte 1927 ein Jubiläum begehen. 1527 als erste protestantische Landesuniversität gegründet, streift ihre Geschichte freilich nur noch gerade die Epoche des Hum. Immerhin hat Marburg in den ersten 15 Jahren seines Bestehens noch so berühmte humanistische Anreger wie Hermann Buschius und Eobanus Hessus unter seinen Lehrern gesehen, und vor allem spielt die Unterrichtsordnung von 1527, die die Scholastik weitgehend durch humanistische Methoden in Melanchthons Sinne ersetzte, auch in der Geschichte des Hum. eine wichtige Rolle. Es sei daher wenigstens kurz darauf hingewiesen, daß wir jetzt für Marburg eine Universitätsgeschichte von Hermelink erhalten haben ( 2058), die auch die Rolle des Hum. bei der Ordnung des Lehrgangs eingehend würdigt. -- Die äußeren Lebensdaten der Marburger Dozenten wurden gleichzeitig von Gundlach in einem besonderen Werke gesammelt ( 2095). Es stellt ein Gelehrtenhandbuch nach Art des »Kürschner« dar, das sich auf die Angehörigen einer einzigen Universität beschränkt und sie von 1527 an unter Beigabe bibliographischer Hinweise auf ihre literarische Tätigkeit in chronologischer Reihenfolge verzeichnet.

Wenden wir uns der zeitlichen Entwicklung des Hum. in Deutschland zu, so ist gleich die Geschichte der Frühzeit durch mehrere wichtige Beiträge vertreten. Daß der süddeutsche Hum. sich um die Mitte des 15. Jhds. in stärkster Abhängigkeit von Italien entwickelte, darf als feststehend gelten, fraglich bleibt aber, ob der reife deutsche Hum. späterer Zeit eine direkte Fortsetzung dieses süddeutschen Früh-Hum. bildete, oder ob er seine Hauptgedanken überwiegend aus anderen Quellen schöpfte. Einen Beitrag zur Klärung dieser Frage bieten die Studien über die Entwicklung der frühhumanistischen Komödie von E. Beutler ( 1985). Im Mittelpunkt von B.s Untersuchungen steht eine noch fast unbekannte (jetzt erstmalig gedruckte) Komödie des italienischen Quattrocento, die sog. »Cauteriaria«. Man hatte sich um ihren Verfasser und Ursprungsort bisher wenig gekümmert, weil das Werk in seiner italienischen Heimat kein Ansehen gewann, sondern nur in Deutschland Leser fand, und auch diese nur in einem räumlich beschränkten Kreise und nur für wenige Jahrzehnte. B. zeigt zunächst, daß die Komödie mit allergrößter Wahrscheinlichkeit den Antonio Barzizza, einen Neffen und Schüler des berühmten Gasparino Barzizza, zum Verfasser hat und zwischen 1420 und 1425 in Padua entstanden ist. An Lebendigkeit und Gewandtheit des Aufbaus den berühmt gewordenen Schwesterstücken von L. Bruni, P. P. Vergerio und L. B. Alberti vielfach überlegen, überbietet es sie alle ebenso durch Laszivität und Rohheit des Inhalts, wie schon der Titel »Glüheisenkomödie« andeutet, der auf die Strafmethode hinweist, mit der hier ehebrecherische Buhlschaft fast auf der Bühne bestraft und dadurch für ein zweites Mal körperlich unmöglich gemacht wird. In welchen Kreisen des deutschen Hum. konnte ein solches Stück Anklang finden? Durch eine musterhafte Analyse der vorhandenen 11 Handschriften (es sind alles deutsche)


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gelingt es B., für fast alle diese Kopien Ort und Zeit der Entstehung mit Sicherheit festzustellen. Danach wurde die Komödie Anfang der 60er Jahre in Augsburg von Gossembrot abgeschrieben, verbreitete sich gleichzeitig in Ulm, ist um 1470 auch in Basel bekannt und bleibt dann noch in Heidelberg eine Zeit lang beliebt, ohne außerhalb dieser Kreise irgendwo wieder aufzutauchen. Diese vier Zentren sind aber diejenigen, die zur selben Zeit in gleicher Reihenfolge durch Peter Luder dem Hum. gewonnen wurden. Es war also Luder, der das italienische Werk, das so sehr seinen eigenen Neigungen entsprach, propagierte und zu einem Ansehen brachte, das an seine Person gebunden blieb. »Nur wo Luder wirkte, wurde die Komödie gelesen, und als er verschollen war, geriet auch sie in Vergessenheit« (S. 74). Seit den Wattenbachschen Forschungen haben wir kaum einen zweiten so wichtigen Zuwachs unserer Kenntnis über den Interessenkreis des frühsten deutschen Vaganten-Humanismus erhalten, und vor allem keinen, der seine ephemere Sonderstellung in der Geschichte des deutschen Hum. so deutlich beleuchtete.

Die Frage, ob der spätere deutsche Hum. seine sittliche und religiöse Gedankenwelt in der Hauptsache aus andern Quellen bezog als von diesen süddeutschen Vorläufern oder durch direkte Rezeption aus Italien, wird jetzt durch Gerhard Ritter von einer andern Seite her ihrer Lösung ein gutes Stück näher geführt ( 1816). Freilich gibt R. vorläufig mehr nur ein andeutendes und anregendes Programm als einen quellengestützten endgültigen Beweis. Das erschwert die Aufgabe, dem reichen Inhalt in wenigen Sätzen Rechnung zu tragen. Bei einem Überblick über die religiösen und theologischen Bestrebungen Deutschlands in der 2. Hälfte des 15. Jhds. stellt Ritter allein in der der »Devotio moderna« nahestehenden, früher oft als »Vorreformatoren« bezeichneten Gruppe der Wessel Gansfort, Pupper v. Goch und Johann v. Wesel das Vorhandensein einer revolutionären geistigen Kraft fest, die zu neuen Formen der Frömmigkeit und theologischen Doktrin hindrängt. Freilich atmen die Forderungen, die in diesem Kreise laut werden, einen ganz anderen Geist als die später von Luther erhobenen. Man hat hier in den Niederlanden eine selbständige »zweite originale Form deutscher Frömmigkeit« vor sich. Ihren Kern bildet eine weitgehende »spiritualistische Umdeutung mirakelhafter alter Dogmen«, die innere Frömmigkeit wird faktisch diesem Kreise wichtiger als die äußere Kultusfunktion des Priesters, die Jenseitsstrafe des Fegefeuers empfängt eine rein geistige Deutung und ebenso die Transsubstantiation im Abendmahl. Nicht nur in dieser Abendmahlsauffassung besteht ein tiefgreifender Unterschied gegen Luther, auch der Augustinische Erbsündengedanke, der für Luther entscheidend ist, wird bei den Niederländern bis zur Leugnung verflüchtigt. »Nicht Erlösung des in die Knechtschaft der Sünde verfallenen Willens ... ist ihr eigentlicher Kern, sondern Vollendung des menschlichen Vollkommenheitsstrebens durch göttliche Gnade und durch das Vorbild Christi« (S. 366). Die Bezeichnung »Vorreformatoren« trifft also nicht den Kern der Sache. Luther setzt die Ideen dieser Niederdeutschen nicht fort, sondern drängt sie zurück und überbietet sie von einem andern Ausgangspunkte her. Dagegen haben sie in einem andern Lager ihre Fortsetzer gefunden: Sie haben »auf die religiöse Haltung des deutschen Hum. unmittelbar und mittelbar einen höchst bedeutenden Einfluß geübt« (S. 377). Auch wenn man nicht mit R. annimmt, daß es gerade die Theologie Wessel Gansforts war, die das Mittelglied bildete


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zwischen der »neuen Frömmigkeit« der Niederländer und dem religiösen Führer des reifen deutschen Hum., Erasmus, sondern die Möglichkeit offen läßt, daß die »Devotio moderna« durch heute noch unbekannte Kanäle, möglicherweise auf einem Umweg über Colet, auf Erasmus einwirkte, so kann man R.s Thesen doch als eine erste gelungene Formulierung von Erkenntnissen ansehen, die sich aus der Forschung der letzten Jahre immer deutlicher ergeben. Die religiös-sittliche Selbständigkeit des deutschen Hum. gegenüber Italien und später gegenüber der Reformation wird erst durch diese Entstehungsgeschichte völlig verständlich.

Die überragende Stellung des Erasmus in der Geschichte des späteren deutschen Hum. erklärt es, daß auch diesmal wieder ein verhältnismäßig großer Teil der Arbeit seiner Person oder seinem Werke gegolten hat. Wieder ist eine große Biographie in englischer Sprache zu nennen, das zweibändige Buch von I. I. Mangan ( 1987). Leider wird trotz solider Fundierung der Arbeit durch ausgedehnte Vorstudien keine der geistesgeschichtlich wichtigen Fragen, die die moderne Erasmus-Forschung aufgeworfen hat, von M. nennenswert gefördert. Trotzdem wäre es wünschenswert, daß die deutsche Erasmus-Forschung an dieser Neuerscheinung nicht gleichgültig vorüberginge. Es handelt sich um die Arbeit eines katholischen Amerikaners, der Erasmus wegen seiner religiösen Bestrebungen (auch wegen des Sarkasmus, mit dem er korrupte Zustände im Mönchtum seiner Zeit geißelte und wegen der »Lascivität« mancher seiner Werke) ebensosehr zürnt wie dankbar bleibt für den Antrieb, den das »New learning« in der ganzen Welt durch ihn erfahren habe. Eine solche Scheidung zwischen Religiosität und Philologie des Erasmus wäre unmöglich, wenn seine Gedankenwelt, wie dies heute längst Gemeingut der Forschung ist, als eine Einheit betrachtet würde, in der dieselbe Liebe zum Altertum, die ihn zum großen Philologen machte, ihn auch dazu führte, die christliche Antike als kritische Norm für die Gegenwart aufzustellen. Von einer eigenen und bewußten Weltanschauung des Erasmus ist daher bei M. fast nirgends die Rede. Erasmus ist für ihn ein großer Schriftsteller, ein führender Kopf in der Philologie, ein scharf blickender Verstand, der in Einzelfragen wie in der Vorausnahme des Pazifismus seiner Zeit vorauseilte (vol. I, p. XI), aber außerhalb der Wissenschaft ist er ohne menschliche Autorität, ein Mensch wie die andern, dazu ein kleiner Charakter. Der Leser soll erkennen, »that this charming person was no more august or perfect than the rest of us« (p. VIII). Denn ist erst der »demigod« gestürzt, so braucht man ihn nicht mehr als Verführer zu fürchten, man kann mit dem kleinen Philologen, der »with kindling zeal and stimulating enthusiasm« ein goldenes Zeitalter der Studien wieder heraufführt, herzlich sympathisieren (p. VIII) und ihn im übrigen nach eigener Meinung loben oder tadeln. Das methodische Mittel dabei ist, daß Erasmus als psychisch nicht ganz vollwertig erklärt wird, -- dann sind seine extravaganten Ideen vor dem Forum des gesunden Menschenverstands von vornherein gerichtet. Man kennt diese gefährliche Methode aus Beispielen aus der reformationsgeschichtlichen Literatur, und M. hat wohl selber derartige Vorbilder im Auge, denn als Fazit seiner Untersuchung hören wir: »Our study of Erasmus has led us to decide definitely, that he was a neurasthenic, ... our study of Luther has convinced us, that he was a psychopath« (vol. II, p. 87). Man darf es nicht leichtnehmen, wenn solche Meinungen in der umfangreichsten und als populäres


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Lesebuch geeignetsten Erasmus-Biographie vorgetragen werden, die wir besitzen. Wie der Verlag mitteilte, ist die erste Auflage bei ihm bereits vergriffen. Es wäre sehr betrüblich, wenn derartige Verzeichnungen sich in der populären katholischen Literatur Nordamerikas auf die Dauer einnisten sollten. Die Forderung, lesbare Darstellungen zu schaffen, die die modernen Forschungsprobleme, die sich an Erasmus knüpfen, einheitlich zusammenfassen und beantworten, erscheint dadurch noch dringender. Wie weit die 1928 erschienene Erasmus-Biographie von Huizinga diese Forderung bereits erfüllt, ist in unserem nächsten Bericht zu prüfen.

Eine besondere Bedeutung für Erasmus' Biographie besitzen seine »Colloquia familiaria«, einmal weil die ständigen Änderungen und Erweiterungen dieses Buches einen Anhalt für die Entwicklung seines Denkens bieten, und zweitens, weil viele der in den Dialogen geschilderten Situationen und Personen wirkliche Vorkommnisse und Zeitgenossen des Erasmus verbergen. Preserved Smith ( 1988), der uns jetzt als Nachtrag zu seiner vor 3 Jahren erschienenen Erasmus-Biographie (vgl. über diese meine Anzeige in H. Z. 139, 362) einen Vergleich der verschiedenen Ausgaben der »Colloquia« vorlegt, will das Buch an biographischem Wert sogar geradezu mit Luthers Tischgesprächen oder Eckermanns Gesprächen mit Goethe vergleichen. Wirklich gelingen S. für viele Figuren der Dialoge glückliche Identifikationen mit Zeitgenossen, so mit Luther, Zwingli, Oecolampad, Morus u. a. Für das Verständnis der inneren Entwicklung des Erasmus hat S. die Veränderungen der verschiedenen Auflagen leider nicht ausgenutzt. -- Eine Spezialfrage der »Colloquia«, ihr Verhältnis zu Lucian, behandelt eine Studie von Martha Heep ( 1988 a). Danach darf Erasmus' Abhängigkeit von der Skepsis des hellenistischen Literaten nicht überschätzt werden. Nur Situationen und stilistische Form hat er ihm bisweilen entnommen, aber alle Entlehnungen werden von dem hum. Pädagogen sogleich sittlichen und religiösen Zwecken dienstbar gemacht, die dem antiken Schriftsteller fremd waren.

Bemerkenswerte Anregungen für die Beurteilung von Erasmus' Schrift »De libero arbitrio« bietet die theologische Dissertation von H. Jedin über die gleichnamige Streitschrift des Johannes Cochlaeus ( 1743). J. gibt u. a. eine Übersicht über »Ansichten katholischer Theologen aus den Jahren 1521--25«, »um zu zeigen, daß Erasmus' Diatribe [gegen Luthers Lehre von der Unfreiheit des Willens] eine unter vielen ist, und daß sie den Abschluß einer Entwicklungslinie darstellt«. Neben einer Reihe von Scholastikern gehören zu dieser John Fisher, Bischof von Rochester, der Freund des Thomas Morus, der Ostdeutsche Bartholomaeus Giese, ein Freund des Kopernikus, und schließlich Cochlaeus selber, der bis zu Luthers Auftreten in einer ausgesprochen hum. Interessenwelt lebte und Pirckheimer nahe stand. Der Vergleich dieser verschiedenen Streitschriften zeigt, daß die des Erasmus sich keineswegs durch Betonung hum. Motive vor den übrigen auszeichnete. Erasmus beschränkte sich auf den Nachweis, daß Luthers Lehre die Rechtfertigung oder Verwerfung des Menschen zu einer Willkürhandlung Gottes mache und darum zu einer Gottesvorstellung führe, die mit dem Gott der Bibel und dem Gott unseres sittlichen Bewußtseins nicht in Einklang zu bringen ist. Luthers Betonung der Sündhaftigkeit der Menschennatur behandelte er als Folge dieses falschen Gottesbegriffs (S. 38) und verzichtete also auf eine Widerlegung Luthers vom Standpunkt der optimistischen


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Wertung der menschlichen Willenskraft im Hum. Dagegen hatte, wie J. zeigt, ein halber Humanist wie Cochlaeus, der theologisch stets Anhänger der »via antiqua« blieb, in seiner wenig bekannt gewordenen Schrift für alle die hum. Motive Raum, die man bei Erasmus vergeblich sucht. Cochlaeus verteidigt Vernunft und sittliche Freiheit als eine unentreißbare, natürliche Ausstattung des Menschen; er verweist auf die heidnischen Dichter und Philosophen, die in der Bändigung des Affektlebens durch die sittliche Freiheit schon die edelste Gabe des Menschen erkannten; er widmet der »Würde des Menschen« einen eigenen Exkurs und beruft sich auf Macrobius' Lehre von dem göttlichen Charakter der Menschenseele im »Somnium Scipionis«. Ich kann hier nicht ausführen, worin nach meiner Meinung die Erklärung für dieses zunächst seltsam berührende Ergebnis zu suchen ist. Der Hinweis muß hier genügen, daß J.s Buch eine Mahnung ist, unsere heutige Kenntnis der Motive von Erasmus' Kampf gegen Luthers religiösen Determinismus nicht für erschöpfend zu halten.

In erster Linie als Beitrag zur Erasmus-Forschung darf auch Kalkoffs Überblick über »Die Stellung der deutschen Humanisten zur Reformation« ( 1816) gewürdigt werden. Alle die bekannten Thesen K.s über Erasmus' persönliches Verhältnis zu Luther und über die Fruchtbarkeit des Bündnisses zwischen Erasmischem Hum. und Lutherischer Reformation findet man hier vereinigt. Das Bild erfährt jetzt dadurch noch eine Abrundung, daß Erasmus noch mehr als in K.s früheren Arbeiten als persönlicher Freund der lutherischen Sache auch noch zur Zeit seiner äußeren Absage an die Reformation geschildert wird. Dies soll ausschließlich ein von dritter Seite, von der Kirche, »erzwungener Rückzug« gewesen sein. Wenn auch diese ganze Fragestellung, die die inneren geistigen Verschiedenheiten zwischen Erasmus und Luther überhaupt nicht ins Auge faßt, methodisch verfehlt ist, so steckt doch in K.s gegen König nochmals betontem Hinweis, man dürfe die unmittelbare Bedrohung des Erasmus und seines Freundeskreises in den Niederlanden durch die energische antilutheranische Politik Aleanders bei der Beurteilung von Erasmus' Haltung 1521 nicht übersehen, sicherlich ein richtiger Kern. Die Hauptbedeutung von K.s neuem Aufsatz liegt aber darin, daß die Würdigung des Erasmus diesmal vor dem Hintergrunde eines Gesamtbildes der Beziehungen des deutschen Hum. zur Reformation erfolgt. Die Arbeit faßt zu diesem Zweck die Thesen und Ergebnisse von K.s Hum.-Forschung abschließend zusammen und stellt, kurz vor dem Tode des Verfassers geschrieben, gewissermaßen sein Vermächtnis auf diesem Gebiete dar. Man würde den Aufsatz daher künftig gern als die beste Einführung in seine Hum.-Arbeiten empfehlen. Leider verbietet dies die äußere Form. Alle die zahlreichen Thesen und Behauptungen, mit denen K. im Lauf der Jahre auf den Plan getreten ist, werden dem Leser hier nicht als umstrittene annahmen des Verfassers vorgeführt, die zum mindesten von der Mehrzahl der Forscher nicht geteilt oder als falsch betrachtet werden, sondern im Tone von feststehenden Tatsachen vorgetragen, aus denen der Leser unbedenklich seine Schlüsse ziehen darf. Da heißt es z. B., Luther habe mit den Worten: ein »stolzer, frecher, frevler Mensch« Hutten bezeichnet (S. 169), Erasmus' Schreiben an den Kurfürsten von Sachsen 1519 sei von ihm ausdrücklich für die Veröffentlichung bestimmt gewesen (S. 170), der »schwungvolle Triumphus veritatis« stamme gleich den andern Spengler zugewiesenen Dialogen bestimmt von dem Nürnberger Ratsschreiber (S. 176), das Mäzenatentum Erzbischofs


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Albrechts von Mainz wird eine Huttensche Legende genannt (S. 177), besonders seine angebliche Fürsorge für die Universität Mainz (S. 197), Jonas soll in Erfurt bereits als überzeugter Jünger der Wittenberger Reformation erschienen sein (S. 185) und gilt ohne die allermindeste Andeutung eines Zweifels als Autor der »Intimatio Erfurdiana« (S. 192), -- so geht es in einem wahren Rattenkönig von Behauptungen fort, von denen die eine immer die andere voraussetzt, ohne daß irgendwo auch nur mit einem Worte angedeutet würde, daß alle diese angeblichen »Tatsachen« von keinem gewissenhaften Forscher heute anders denn als Thesen bezeichnet werden können. Trotzdem behält der Aufsatz als letzte authentische Zusammenfassung von K.s fast unübersehbarer, weit zerstreuter Einzelforschung seinen Wert, aber nützlich wird er zweifellos nur für Leser sein, die mit K.s Arbeiten und vor allem mit den Kritiken und Widerlegungen, die sie fanden, bereits hinreichend vertraut sind. Nicht-Sachkundige, besonders Studenten, sollte man nachdrücklich warnen, ihre erste Orientierung über das Verhältnis von Humanismus und Reformation in dieser Arbeit zu suchen.

An einem andern Punkte und mit ganz andern Mitteln beleuchtet der Aufsatz von B. Sartorius v. Waltershausen ( 1834 a) die Bedeutung der Reformation für den Hum. Seit Dilthey gilt es als feststehend, daß die neue Wissenschaft und Theologie, die Melanchthon für den Protestantismus schuf, ihre Erkenntnisgrundlage aus der stoischen Lehre vom natürlichen Licht und von den eingeborenen sittlichen Ideen des Menschen gewannen, also mit Hilfe einer typisch hum. Erkenntnisfundierung. Dagegen vermögen wir noch immer nicht mit hinreichender Klarheit zu übersehen, ob der auf diese Weise übernommene hum. Ideenkreis bei Melanchthon relativ äußerlich an die Stelle der aus religiösen Gründen aufgegebenen Scholastik trat, oder ob Melanchthons theologischer Kampf gegen die Scholastik aus ähnlichen Motiven erfolgte wie der humanistische, und der Hum. daher von seiner Theologie als ein innerlich verwandter Bundesgenosse betrachtet werden konnte. Einen Schritt zum Nachweis eines solchen Zusammenhangs tat vor Jahresfrist bereits die (Jhg. II, S. 502 genannte) Untersuchung von Joachimsen über Melanchthons »loci communes«. Jetzt führt v. W. den Nachweis, daß Melanchthons Widerstand gegen jede Art von metaphysischer Spekulation zunächst als unmittelbare Folge der Lutherischen Glaubensidee verstanden werden kann. Indem diese nämlich durch ihre schroff dualistische Trennung von irdischen Kräften und Gottesreich den Menschen allein auf den Glauben und die sittliche Bewährung im Berufe verwies, machte sie nicht nur alle Versuche, durch intellektuelle Kontemplation der Gottheit sich schon im Diesseits zu nähern, verdächtig, sondern brandmarkte jede metaphysische Spekulation als müßige Spielerei und Überhebung des Intellekts. Es gab also bei Melanchthon bereits rein religiöse Motive, die ihn zur Überordnung der praktischen über die theoretische Vernunft und zur Skepsis gegen die ganze scholastisch-aristotelische Metaphysik führten und Raum schufen für die Rezeption der stoischen Lebensbegriffe. Wie verwandt diese Stellung zur Wissenschaft derjenigen des Hum. war, braucht nicht erst betont zu werden. Mir scheint, daß durch Weiterverfolgung dieses Gesichtspunktes die innerliche Verbindung reformatorischer und hum. Gedanken, zu der es bei Melanchthon kam, am besten verstanden werden kann.

Die letzte Gruppe der vorliegenden Arbeiten betrifft die Fortwirkung der


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hum. Theologie des Erasmus im Zeitalter der Gegenreformation. Im allgemeinen darf dafür noch immer das Bild als gültig gelten, das Dilthey und später Troeltsch von einer Strömung entwarfen, die von Erasmus ihren Ausgang nahm und über die Sozzinianer, Ochino, den Niederländer Coornhert u. a. schließlich in die natürliche Theologie und Moral der Aufklärung einmündete. Zu dieser Reihe ist durch die Forschungen der letzten 15 Jahre eine wichtige Persönlichkeit hinzugetreten, die bei Dilthey und Troeltsch noch fehlte: der Trientiner Jacobus Acontius. Gleich den Sozzini und Ochino seiner lutherischen Neigungen wegen aus Italien flüchtig, hielt er sich 1557/58 in Basel, wo die Erasmischen Ideen noch fortwirkten, im Kreise der Castellio und P. P. Vergerio auf und fand seit 1559 in England ein dauerndes Asyl. Auch der Protestantismus wurde aber dem Flüchtling nicht zur neuen Heimat, er fühlte sich zwischen den Konfessionen und entwickelte so als einer der ersten die Idee einer die Glaubensunterschiede überbrückenden Normalreligion, die nur ein Minimum an Dogmen bestehen läßt, das allen Parteien annehmbar ist. Freilich war diese Normalregion nicht die »natürliche Religion«, deren sich die meisten der von Dilthey und Troeltsch berücksichtigten Denker in gleicher Absicht bedienten. Acontius gehört m. E. noch einer früheren Stufe, vielleicht einem anderen Typus an. Von Hause aus Mathematiker und Ingenieur, setzte er ein grenzenloses Vertrauen auf die Überzeugungskraft der neuen analytischen Methoden der Naturwissenschaft und hoffte, durch Analyse des Dogmenbestandes beider Religionsparteien mit gleicher mathematischer Sicherheit den allein wesentlichen Kern des Christentums herausschälen zu können. Spekulationen, die über diesen Kern hinausgehen, sind bloße Schlingen, die der Teufel dem menschlichen Intellekt legt, um die Konfessionen zu entzweien und die echte Frömmigkeit zu verschütten. Auf diesen Kernpunkt seiner Gedanken spielt der Titel seines Hauptwerkes an, der »Stratagemata Satanae«. Diese sind jetzt von W. Köhler, zusammen mit mehreren kleineren Schriften des Acontius, zum ersten Male kritisch herausgegeben worden. (»Jacobi Acontii Satanae Stratagematum libri VIII. Ed. critica curav. Gualt. Koehler. Monaci ap. Ern. Reinhardt, 1927, 262 pp.) Der Neudruck, der das heute sehr seltene Buch in handlicher und vornehmer Ausstattung zugänglich macht, ist auch im Interesse der Hum.-Forschung sehr zu begrüßen. Erst jetzt wird ein endgültiges Urteil über das Verhältnis von Acontius' irenischer Versöhnungstheologie zu den Nachwirkungen des Erasmischen Hum. möglich. K. legt seinem Text die Basler Erstausgabe von 1565 zugrunde und gibt im kritischen Apparat die teilweise erheblichen Varianten der zweiten Basler Ausgabe von 1565 und eines Amsterdamer Drucks von 1652 wieder. Das Vorwort stellt ein Verzeichnis aller bekannten Ausgaben und Übersetzungen der Schrift zusammen. Es sind deren nicht weniger als 15, darunter Übersetzungen ins Deutsche, Französische, Flämische und Englische -- ein Beweis, welche Bedeutung Acontius' Schrift für das 16. und 17. Jhd. besessen hat. Auch eine Liste seiner übrigen Werke findet sich bei K. Daß diese aber noch um ein sehr wichtiges Stück vermehrt werden muß, zeigt ein Aufsatz von Ed. Ruffini Avondo in der »Rivista storica italiana« (N. S. vol. 6, 1928. p. 113 ss.). Hier wird der Nachweis geliefert, daß ein 1558 in Basel zur Zeit von Acontius' dortigem kurzen Aufenthalt unter dem Pseudonym Giacopo Riccamati Ossanese erschienener satirischer Dialog (»Dialogo, nel qual si scuoprono le astucie dei lutherani« usw.), der inhaltlich eine Vorstufe der

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»Stratagemata« darstellt, als ein Frühwerk des Acontius zu betrachten ist. Damit ist erwiesen, daß die Keime seiner Versöhnungstheologie schon in seiner Basler Zeit liegen, daß also seine religiösen Ideen in einem direkten Zusammenhange stehen mit dem bekannten Kreise um Vergerio und Castellio.


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