IV. Niedergang und Wiederaufbau des Staates 1786--1840.

Aus dem Nachlaß der Königin Elisabeth von Preußen veröffentlicht U. von Pfuel ( 877) die Aufzeichnungen der Gräfin Rheede-Ginkel geb. v. Krusemarck, der langjährigen Oberhofmeisterin der Königin (1765--1843). Sie bringen eine Reihe belebender Einzelheiten zur Geschichte des preußischen Hoflebens zu Ausgang des 18. Jhds. und bestätigen u. a. die Tradition von der kirchlichen Einsegnung der Verbindung zwischen Friedrich Wilhelm II. und dem Fräulein v. Voß. -- Diese Tradition hat neuerdings Fr. von Oppeln-Bronikowski als frommen Betrug hingestellt, und zwar sowohl in seinem Buche »Abenteurer am Preußischen Hofe«, wie auch in einer besonderen Untersuchung ( 937), die aus den Tagebüchern der Gräfin Voß alle auf das Verhältnis des Königs zu Julie v. Voß bezüglichen Aufzeichnungen zusammenstellt und dadurch die Unzuverlässigkeit des Buches »Neunundsechzig Jahre am Preußischen


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Hofe« nachweist. An der kirchlichen Trauung mit Friedrich Wilhelm kann trotzdem kein Zweifel sein, wie J. Schultze (Dtsche. Rdsch. Bd. CCXV, S. 80 f.) ausgeführt hat.

Als Beiträge zur Geschichte Preußens in der Zeit der Befreiungskriege teilt F. Hadamowsky ( 924) einige Aufsätze Karl v. Woltmanns mit, der, ursprünglich Professor der Geschichte in Jena, als diplomatischer Vertreter der drei Hansestädte in Berlin die preußischen Verhältnisse kennen lernte und dann 1815 seine Feder dem österreichischen Kaiserhause zur Verfügung stellte, in dessen Interesse er die öffentliche Meinung in Deutschland beeinflussen sollte. Die zur Information für die Wiener Geh. Staatskanzlei gelieferten Aufsätze: »Über den Tugendbund« und »Preußische Charactere« enthalten neben allerlei Klatsch doch eine Reihe treffender Beobachtungen über die Zustände und die maßgebenden Männer in Preußen. -- Die Frage nach dem geistigen Mutterboden der Steinschen Reformen, die seit Max Lehmanns großer Biographie noch nicht zur Ruhe gekommen ist, will E. Botzenhart ( 918) in umfassender Weise lösen. Er legt unter dem Sondertitel: »Die geistigen Grundlagen« den ersten Teil eines Werkes vor, dessen zweiter die Durchführung der Reform im Zusammenhang mit den analogen Maßnahmen anderer Staaten behandeln soll. Ein dritter wird sich mit den wirtschaftspolitischen Ideen Steins und ihrer Verwirklichung beschäftigen. B. hat bereits früher in seinem Buche über die Staatsgedanken Steins jene Auffassung, die die Reformideen auf französische Einflüsse zurückzuführen suchte, abgelehnt und sein Denken vom Staate abschließend als »durch und durch feudal« bezeichnet. Von dieser Verallgemeinerung zweifellos vorhandener Gedankenelemente hält sich B.s neuere Untersuchung zurück. Sie konfrontiert zunächst Steins Staatsauffassung mit der der französischen Aufklärung und der Revolution, um »unüberbrückbare Gegensätze«, jedoch weitgehende Abhängigkeit von Montesquieu festzustellen. Positiv wird dann weiter die Anschauung Steins herausgearbeitet, indem Brandes und Rehberg als Interpreten seiner Ideen verwertet werden. Die sich ergebende Übereinstimmung bedeutet jedoch keine Abhängigkeit von den Göttinger Freunden, sondern sie erklärt sich durch das allen gemeinsame Zurückgehen auf Montesquieu, Burke und Moser. Man wird diesen neuen Versuch B.s, Steins Denken über den Staat ideengeschichtlich enger einzukreisen, trotz erheblicher Breiten und Wiederholungen mit Dank begrüßen, wird aber freilich ein Urteil über den Wert seiner Leistung noch suspendieren müssen, bis die späteren Teile der Arbeit vorliegen. -- G. Winter ( 1365) zeigt in einer quellenkritischen Untersuchung, daß auch auf einem so intensiv beackerten Gebiete, wie es die Entstehungsgeschichte des Oktoberedikts ist, durch schärfste Interpretation des Aktenstoffes noch überraschend reiche Ergebnisse erzielt werden können. Seine Arbeit, die sich auf die entscheidende Frage der Behandlung des bäuerlichen Besitzes konzentriert, wählt zum Ausgangspunkt die Altensteinsche Denkschrift und verfolgt von da aus die Bemühungen um die Lösung des Agrarproblems bis zur Verordnung vom 14. Februar 1808. Als gesichertes Resultat bleibt, daß die Ausdehnung des Oktoberedikts über die ganze Monarchie auf Rechnung Steins zu setzen ist, daß aber in der Regelung des Bauernschutzes Stein entgegen der Ansicht des federführenden Departements sich durchaus Th. v. Schön angeschlossen hat.

S. Kaehlers Buch über Wilhelm v. Humboldt und den Staat ( 920) wird


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stets zu den bedeutsamen und eigenwüchsigen Leistungen der deutschen Geschichtswissenschaft gezählt werden. Entstanden aus jahrelanger Beschäftigung mit den Quellen zur inneren Geschichte Humboldts, weiß es bis zu den verborgensten Wurzeln seines Wesens vorzudringen, alle Wandlungen und Schwankungen dieser proteischen Natur ahnend und mitfühlend, ihre Grenzen klar und kühl erkennend; das Werk eines Mannes, dessen Blickrichtung durch das Erlebnis des Krieges entscheidend beeinflußt worden ist, und so wissenschaftliche Leistung und Zeitdokument zugleich! Die Eigenart des neu erschlossenen Quellenstoffes, vor allem der Briefe und Tagebücher, war es, die es K. nahelegte, ja erst ermöglichte, das Verhältnis Humboldts zum Staate in seinem Ablauf zwischen Abstoßung und Anziehung zu untersuchen. Denn gerade an diesem entscheidenden Problem seiner Entwicklung war Gebhardts Buch über Humboldt als Staatsmann vorbeigegangen, so verdienstlich es Humboldts positiven Anteil an der inneren und äußeren Politik Preußens dargestellt hatte. Wie ist dieser typische Vertreter deutscher Geistigkeit um die Wende zweier Jahrhunderte zum Staate gekommen, wie dieser Mann der Konzentration auf das eigene Ich, der den Gedanken über die Tat stellt, zur Wirkung nach außen berufen gewesen? K. setzt seine Wendung zum Staate völlig überzeugend in das Jahr 1808, da die Zeitereignisse Humboldts Rückkehr nach Deutschland und seinen Eintritt in die vita activa erzwingen. Noch immer bleibt sie ihm freilich Opfer, Verzicht auf die erwünscht und adäquat erscheinende Form der Lebensführung, und doch führt sie ihn in den Jahren 1813--1815 auf die Höhe politischer Wirksamkeit ins Große, die als Phänomen in ihren letzten inneren Gründen unerklärbar bleibt. Mit einem »individuum est ineffabile« muß hier auch K. die Grenzen seiner analysierenden Kunst zugestehen. Die Auseinandersetzung mit Hardenberg, der Kampf um das Ministerium zeigen dann schließlich in ihrer fast hilfslosen Verkennung der Menschen und Situationen ein Absinken der politischen Instinkte Humboldts, als wenn die Elemente seiner Persönlichkeit, durch das große Weltgeschehen nur zeitweise aufgerüttelt, in ihre ursprüngliche Lagerung zurückkehren. -- Carl Christian Friedr. v. Brockhausen, dessen Leben sein Nachfahr H. J. v. Brockhusen in einer gründlichen Dissertation geschildert hat ( 926), gehört zu jenen handwerklich tüchtigen, geistig engen Diplomatennaturen, die in der auswärtigen Politik Preußens um 1800 zahlreich vertreten waren. Eine Durchschnittskarriere führte ihn aus Stockholm auf den Dresdener Gesandtenposten. Da er nicht auf eine ausgesprochen antifranzösische Politik festgelegt war, übertrug man ihm nach dem Tilsiter Frieden die eben wieder errichtete Gesandtschaft in Paris. Dort in der Frage der Kriegskontributionen wirkliche Resultate zu erzielen, war ihm nicht beschieden, und die Mission des Prinzen Wilhelm, die Brockhausen als Zurücksetzung empfinden zu müssen glaubte, drängte ihn in die Position eines Ratgebers zurück. Daß er die Vorbereitungen für die Reise des Prinzen nur lasch betrieben hatte, wurde ihm erheblich verübelt, und so rief ihn der preußische Hof bereitwilligst ab, als Napoleon das verlangte. -- Eben diese Mission des Prinzen Wilhelm von Preußen wird von Fürst O. v. Bismarck behandelt ( 912) unter ausdrücklichem Hinweis auf die innere Verwandtschaft der damaligen preußischen Befreiungspolitik mit der der Gegenwart. Das im ganzen feststehende Bild dieser von keinem Erfolg begleiteten Verzweiflungsaktion ist vertieft durch die Kenntnis einiger bisher verborgen gebliebener Aktenstücke,

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unter ihnen der wichtigen Antwort Steins auf die Fragepunkte, die der Prinz ihm vor der Abreise vorlegte. Abschließend erklärt der Verfasser den Grundgedanken der Mission des Prinzen für richtig; denn nur auf dem Wege über den zeitweiligen Anschluß an Frankreich sei für Preußen eine Erleichterung seiner Lage zu erhoffen gewesen. -- Die von H. Kretzschmar mitgeteilten Briefe Chr. W. Dohms ( 923) an den Grafen v. d. Schulenburg, Präfekten des Elbdepartements, aus dem Frühajhr 1809, zeigen, in wie hohem Grade sich der frühere preußische Kammerpräsident dem Staate Jeromes innerlich verbunden fühlte, und dürfen so auch außerhalb des Zusammenhangs einer grösseren Korrespondenz Beachtung beanspruchen. -- Von dem sehr charakteristischen Verhalten des Kabinettsrats Lombard unmittelbar nach der Schlacht bei Auerstädt berichtet W. Müller ( 910). Obgleich ihm der Naumburger Postmeister auf seiner Rückreise von der Armee das Nahen der Franzosen meldet, warnt er die Königin, die den gleichen Weg nehmen soll, nicht, sondern überläßt das dem Postmeister.

H. Haberkant faßt den Inhalt früherer, in medizinischen Fachzeitschriften erschienener Untersuchungen über Blüchers Hypochondrie sehr instruktiv zusammen ( 922). Danach handelt es sich bei Blücher um das Krankheitsbild der manisch-depressiven Konstitution in der abgeschwächten Form der Zyklothymie, bei der sich aus einem normalen psychischen Grundzustand manisch-depressive Zustände herausheben. -- An Delbrücks große Biographie sich anlehnend, schildert K. Mayr ( 921) die Persönlichkeit Gneisenaus in knappem Umriß und mit frischem Ton, wobei nur die übermäßig scharfe Verurteilung Friedrich Wilhelms III. über das Ziel hinausschießt. Merkwürdigerweise wird die von H. Aubin mit Recht betonte Tragik im Leben Gneisenaus, stets nur Berater und nie Feldherr zu sein, nicht erkannt oder doch kaum gestreift. -- Einige von U. v. Hassell ( 955) publizierte Briefe zeigen Gneisenau im Rheinland und zeugen von seiner Sympathie für diese neue Provinz Preussens und für ihre Bewohner. -- K. Haenchen ( 956) hat die Dokumente über den Tod Gneisenaus zusammengestellt. Sie sprechen ergreifend von dem ungeheueren Eindruck, den das Hinscheiden des Mannes auf seine Umgebung und seine Mitwelt gemacht hat. Drei abschließende Briefe behandeln das Eingreifen Clausewitzs zugunsten der in schwieriger Lage zurückbleibenden Gneisenauschen Erben, das beim Könige zum Erfolg führte.

X. Léon ( 1998 a) legt von einem umfangreichen Werk über Fichte und seine Zeit einen weiteren Band vor, der F.s Anteil am Befreiungskampfe schildern soll, im Grunde aber über eine gewissenhafte und sehr ausführliche Interpretation der Fichteschen Reden und Schriften kaum hinausführt. -- Daß die Reden an die deutsche Nation nur spärlichen Widerhall gefunden und so zur Befreiung Preußens wenig beigetragen haben, sucht R. Körner ( 913) zu erweisen. Er stellt fest, daß ihnen überwiegend Nichtbeachtung, ja Ablehnung entgegengebracht wurde, und fragt dann weiter, wie sie zu einem unberechtigten Ruhm gelangen konnten. »Spekulativ gerichtete Gelehrte und Jugenderzieher« waren es, die den Sturz des napoleonischen Weltreiches auf die Macht der Ideen zurückführen wollten und deshalb das übertriebene Bild von der Wirkung Fichtes in Umlauf setzten, das von der liberalen Geschichtsschreibung weiter propagiert wurde.


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