II. Einzelne Historiker.

In einem Exemplar des Erstdrucks der secunda pars Chronici Carionis ab Augusto Caesare usque ad Carolum Magnum exposita et


S.120

aucta a Philippo Melanchthone (Wittenberg 1560), das sich in der Universitätsbibliothek zu Bonn befindet, hat E. C. Scherer ( 93) Eintragungen eines Hörers vom Herbst 1558 bis Frühjahr 1560 gefunden, die nach der Übereinstimmung mit einem Kollegheft, über das S. Berger 1897 in den Theol. Studien und Kritiken Mitteilung gemacht hatte, als Diktate Melanchthons von ihm angesprochen werden.

Nicht als Historiker, sondern von literarisch-geistesgeschichtlichen Gesichtspunkten aus versucht Georg Stefansky ( 96) Justus Mösers Geschichtsauffassung in den Zusammenhang der deutschen Literatur des 18. Jhd. einzugliedern. Für Möser, der von der Aufklärung ausgegangen sei, aber sie überwunden habe, sei die Geschichte das Mittel, die Struktur des Staats aus historischer Erfahrung zu erklären; die rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen Zustände sind für ihn historisches Recht, nicht, wie für Rousseau, ideale Forderung. Aber trotz Ansätzen in seiner Intuition finde Möser nicht den Weg zum Irrationalen. So geht die Romantik über ihn hinweg, damit aber geht ein großer Gewinn Mösers, die politische Färbung der Historie, verloren. Wohl ist bei Möser die feinere Differenzierung von Staats- und Kulturnation bereits angedeutet, aber erst auf Umwegen wird im 19. Jhd. jene politische Auffassung wieder gewonnen. Sein periodischer Pragmatismus, meint Stefansky, werde in der Geschichte Rankes wieder lebendig; Schmoller habe Roscher den echten Nachfolger Mösers genannt und eine Zeit, in der die Naturwissenschaften eine immer größere Bedeutung gewönnen, habe zu Möser zurückgeführt.

Von Johannes von Müller betont Paul Requardt ( 97), daß ihm noch 1781 in seinen essais historiques das Mittelalter die dunkle barbarische Zeit sei, daß dann unter der Einwirkung Herderscher Schriften darin eine Wandlung eintrat, die M. auch zur Bewunderung heroischer Menschen führte. In der Casseler Zeit habe der hessische General und Staatsmann Graf Martin Ernst von Schlieffen auf ihn gewirkt, deutsche Poesie des Mittelalters mit ihm getrieben. Seine Anschauung des Mittelalters sei jedoch begrenzt geblieben durch die partikulare Geschichtsdarstellung seines Heimatlandes und die Verurteilung des eigenen Zeitalters.

In der wissenschaftlichen Historiographie und ihrer Entwicklung ist doch für E. M. Arndt kein Platz. Nur um der Persönlichkeit willen, die mit der Zeit der Erhebung und weiterhin mit der nationalen Bewegung in so engen Beziehungen steht, mit Rücksicht auf seine populäre Wirksamkeit und unter biographischen Gesichtspunkten rechtfertigt sich seine Behandlung als Geschichtschreiber. Dem hat Emmy Cremer ( 98) doch nicht genügend Rechnung getragen und das Bild, das sie von seiner Auffassung von Altertum, Mittelalter und Neuzeit entwirft, hält wohl in der Wertung seiner Geschichtschreibung kaum das richtige Maß.

Von unsern Geschichtschreibern des 19. Jhds. sind es wieder Ranke und Treitschke, die in erster Linie unter historiographischen Gesichtspunkten Beachtung gefunden haben. Bei Ranke gilt dies Interesse einmal seinen historischen Entwicklungsjahren, wie sie durch neue Nachlaßfunde bereichert werden. Nachdem Elisabeth Schweitzer das Lutherfragment und eine Rede über die Vorstellungen der Griechen und Römer vom Ideal der Erziehung herausgegeben hatte, bringt nun Kurt Borries zwei weitere Festreden aus der Frankfurter Zeit zum Abdruck ( 101). Er hat der ersten den Titel »über Helden


S.121

und Heldenverehrung« gegeben, wohl nicht ganz mit Recht, da doch der Greis und der Jüngling, die Träger des Dialogs in diesem mystischen Phantasiegemälde in der Halle des Heiligtums nicht zum Altar der Helden, sondern zu dem Altar der Verdienten schreiten, »da die Gründer der Verfassungen der Kirchen, die Lehrer der Völker eine Stelle gefunden«. Die zweite Rede »über die Wechselwirkung zwischen Staat, Publikum, Lehrern und Schülern in bezug auf das Gymnasium« hebt hervor, daß anders als man erwarte, der Staat die allgemeine, das Publikum mehr die spezielle Berufsausbildung wünsche. -- Borries hat in einführenden Bemerkungen und in einem besonderen Aufsatz ( 100) sich bemüht, aufzuzeigen, wie weit die Bildungsmächte der Zeit, Rationalismus, philosophischer Idealismus, Klassik und Romantik in diesen Jugendreden am Werden und Wachsen von Rankes Weltanschauung beteiligt erscheinen. -- Es erscheint bemerkenswert, eine wie verschiedene Beurteilung das Buch von G. Masur über Rankes Weltgeschichtsbegriff (s. JB 1925) gefunden hat ( 996). Die Besprechung von P. Sattler erhebt zwar auch kritische Einwendungen: Rankes »Betrachtung« der Weltgeschichte komme zu kurz, eine Folge der geschichtsphilosophischen Betrachtung, die auch an Ranke Begriffe herangetragen habe, unter denen er nicht betrachtet werden dürfe; kritische Bedenken auch gegen Masurs Stellung zu dem Problem universaler und partikularer Betrachtungsweise und dem damit zusammenhängenden Begriff der historischen Individualität. Ein besonderes Verdienst Masurs sieht Sattler andererseits in der Analyse der Elemente, die als Inhalt der Rankeschen Weltgeschichte die Kultur ausmachen. Auch O. Westphal findet Masurs Buch -- wenn auch einseitig -- eindringend, an feinsinnigen Erkenntnissen und selbst einzelnen glänzenden Wendungen reich; auch nach seiner Meinung ist es mehr geschichtsphilosophisch als historiographisch; im ganzen aber stoße das Buch offene Türen ein, sei eine ergebnisarme, negative Leistung; die eigentlichen Probleme des Universalismus bei Ranke habe Masur gar nicht gesehen. Denn es handle sich nicht um die Auslese des Partikularen, sondern um seine universale Graduierung, und zwar vermöge des Begriffs der Macht. Es gelte, der logischen Form des Machtbegriffs nachzugehen. Und es entgehe Masur, daß sich die abendländische Komponente der Rankeschen Weltgeschichtsschreibung sehr wohl auf die heute interessierende »planetarische Stofflichkeit« erweitern lasse.

In den Bemerkungen, mit denen Jul. Kaerst ( 101a) eine Neuausgabe von Rankes »politischem Gespräch« anzeigt, weist er mit Nachruck hin auf die Bedeutung von Rankes Kampf gegen Rationalismus und Aufklärung und auf die Stärke seines Gegensatzes zur rein gesellschaftlichen Auffassung vom Staate, die in der Aufklärung vorherrschte, der gegenüber der Charakter der Macht als geistiges Wesen steht.

Daß auch Droysen den Machtcharakter des Staats sehr stark zur Geltung bringe und dabei den sittlichen Charakter des geschichtlichen Lebens stark betone, daß Droysen zudem das besondere Verdienst zukomme, alle Zeit gegen die naturalistische Auffassung der Geschichte auf der Wacht gestanden zu haben, hebt ebenfalls Kaerst in der Anzeige einer Neuausgabe des Grundrisses der Historik hervor.

K. A. v. Müller ( 103) hat -- aufmerksam geworden durch eine Briefstelle [an Bachmann 24. XII. 1860] und durch Vergleichung mit vielfachen Anklängen


S.122

in den Briefen und in der deutschen Geschichte, die oft wörtlich dieselben Urteile und Wendungen zeigen -- festgestellt, daß 12 Artikel aus den Jahren 1860/61 in der Süddeutschen Zeitung über sächsische Zustände von Treitschke herrühren und diese Artikel abgedruckt. Eine Nachlese zu Cornicelius' Sammlung bieten die von Hans Schulz ( 105) veröffentlichten Briefe an Rudolf Haym aus den Jahren 1861--1880 (einer noch von 1890). Es handelt sich in der Hauptsache -- besonders in den zahlreichsten Briefen aus den 60er Jahren -- um die Preußischen Jahrbücher; der unmittelbar historiographisch wichtige Gehalt ist daher nicht besonders groß; doch spricht Tr. 1878 von den »lackirten und verlogenen neuesten Büchern« von Ranke. -- Aus Schaumkells Aufsatz ( 102) über Treitschkes religiöse Entwicklung und Weltanschauung wäre etwa hervorzuheben der Hinweis auf die religiöse Krisis in der Mitte der fünfziger Jahre mit seiner Abwendung von den überlieferten Glaubensvorstellungen und die erneute Wandlung zu vertiefter Religiosität seit den 70er Jahren; die Betonung des Satzes, daß der Wille die Kraft der historischen Welt sei; daß man aber nicht sagen dürfe, daß sein Patriotismus seine -- im deutschen Idealismus wurzelnde -- Weltanschauung gewesen sei; das sei zu eng und zu äußerlich: der Patriotismus ist vielmehr eine Provinz seiner Weltanschauung; schließlich: daß Treitschke -- in der bekannten großen Kontroverse über den Sozialismus -- dem Schmollerschen Optimismus gegenüber tiefer gesehen habe, darüber könne heute kein Zweifel sein; er hielt an der aristokratischen Gliederung der menschlichen Gesellschaft fest. -- In ihrer Dissertation über »Geschichtsphilosophische Gedanken bei Heinrich von Treitschke« will Hedwig Rau ( 104) feststellen, »inwieweit Treitschke über das Empirische hinaus liegenden Anschauungen Einfluß auf die geschichtliche Darstellung gewährt hat« und »die Äußerungen herausstellen, die sich in seinen Werken über geschichtsphilosophische Fragen in genanntem Sinne finden«. Demgemäß beschäftigt sich das 1. Kapitel mit »dem Wesen der Geschichte und der Aufgabe der Geschichtschreibung«, wobei vor allem die Entwicklung von Treitschkes Staatsbegriff zum Machtstaat, der durch sittliche Zwecke gerechtfertigt ist, und zum Nationalstaat betont wird; die Ablehnung blutloser Objektivität, die Forderung relativer Wertmaßstäbe; aber (fügt H. Rau hinzu) er verstehe nicht, die sittliche Beurteilung von der Wertung der Persönlichkeit als solcher zu trennen und komme daher doch wieder zu absoluten Urteilen. Im 2. Kapitel über »die Dialektik der Geschichte« wird bei der Frage des Fortschritts betont, daß Treitschke hier eine Wandlung durchgemacht habe, freilich von ursprünglichem Glauben an den Fortschritt sich frühzeitig abgewendet habe: in kultureller Hinsicht sei jedem Volke nur ein gewisses Höchstmaß erreichbar; noch bedingter aber sei der Fortschritt durch die Kultur in geistig-sittlicher Hinsicht. Im 3. Kapitel (Die Faktoren des historischen Werdens) wird natürlich der Satz, daß Männer die Geschichte machen, an die Spitze gestellt, aber hinzugefügt: daß erst durch die Macht des Willens die Gunst der Weltlage wirksam werde; es wird weiter hinzugefügt, daß Treitschke nicht von Anfang an der große Verkünder der historischen Helden gewesen sei, daß erst durch das Erlebnis -- Bismarck -- die Wandlung eingetreten sei. Doch setzt die durch die Tradition gezogene Bahn dem Handeln auch des Helden eine Schranke; erkennt der führende Mann die angebahnte Entwicklung nicht, so wird sich das Notwendige auch gegen ihn durchsetzen. Dabei kann von einer Notwendigkeit

S.123

in kausalem Sinne so wenig wie von Gesetz in naturwissenschaftlichem Sinne die Rede sein. Treitschke glaubt an die Sinnhaftigkeit und Vernünftigkeit des historischen Geschehens und dies Vernünftige ist zugleich eine Manifestation des Göttlichen. Eine philosophische Geschichtsbetrachtung lehnt Tr. ab, immer stärker wird der Glaube an einen persönlichen Gott. Das Wie des Wirkens der Vorsehung läßt sich nicht ergründen, nur ahnen. Zeigt ihm nun die Geschichte die Verwirklichung einiger absolut sittlicher Ideen, so ist ihm in diesem Sinne (Kap. 4) »die Weltgeschichte das Weltgericht«, wenn auch der Vollstrecker des gerechten Gerichts selbst Partei, selbst schuldbeladen ist. Im ganzen, so urteilt H. Rau zum Schluß, zeige sich in Treitschkes Äußerungen eine starke Befangenheit in der eigenen Zeit.

Eva Scholtz beschäftigt sich in ihren »Untersuchungen über Heinrich von Treitschkes Essay ( 106): Frankreichs Staatsleben und der Bonapartismus« in der Hauptsache nur mit dem 2. Teile, der das 2. Kaiserreich behandelt. Sie stellt nach Möglichkeit die Quellen fest, die Treitschke benutzt hat: neben eigenen Reiseeindrücken offizielle Publikationen, Zeitungen und Flugschriften, französische zeitgenössische historische Literatur -- vor allem Tocqueville (in ideengeschichtlicher Hinsicht), L. de Lavergne, d'Esterno, Prevost Paradol --, dazu deutsche Bücher (Kreyssig, Geyer, Horn), die Korrespondenzen und Artikel (Wehrenpfennig) der Preußischen Jahrbücher. Er benutzt sie in peinlicher Treue im Detail und mit souveräner Beherrschung des Stoffs, nicht immer wählerisch in der Auslese, als Belege für die Ideen, die ihm aus Beobachtung und Quellenmaterial erwachsen. Er verurteilt den Bonapartismus von ästhetischen und ethischen Ideen aus, aber dieser demokratische Despotismus erscheint ihm vom französischen Standpunkt aus konsequent, notwendig, national. Das 2. Kaiserreich hat den Verfall Frankreichs nicht verschuldet: es hat ihn zwei Jahrzehnte aufgehalten. Tr.'s Urteil wird durch die Beziehungen zu Deutschland bestimmt. Auch als wissenschaftlicher Historiker steht er dem französischen Volke ablehnend, ja feindlich gegenüber. Die Änderungen der zweiten Auflage (nach 1870) zeigen, daß die Arbeit über den Bonapartismus die letzte literarische Etappe Treitschkes auf dem langen Wege der Loslösung vom Liberalismus ist.

Unter den Nekrologen auf Historiker der letzten Generation verdienen die Bemerkungen von S. Kaehler ( 107b) zu Alfr. Doves Aufsätzen und Briefen Beachtung, wohl eine der feinsten Würdigungen der Sammlung und der Persönlichkeit, zugleich mit der Betonung ihrer Grenze: »Der Individualist reinster Prägung läßt das rechte Augenmaß vermissen für die kollektiven Lebensformen der sich im Rahmen des Staats umbildenden Gesellschaft.« -- Der Nachruf von Hans Planitz ( 107) auf Otto Gierke berührt auch die Bedeutung, die dem gefeierten Juristen, dem Verfasser des Genossenschaftsrechts und des Althusius in der Historiographie zukommt. -- Aus der Gedächtnisrede von Hans Lietzmann ( 110) auf Karl Holl sei an dieser Stelle hervorgehoben der Hinweis, wie sehr Holls Lutherbild in schärfsten Gegensatz zu dem im Beginn unsers Jahrhunderts herrschenden (speziell dem von Troeltsch) trat und wie Calvin als der einzige wirklich kongeniale Schüler bezeichnet wird, den Luther gefunden habe. -- Unter den vielen Nachrufen auf Harry Breßlau ( 109) hebt der von dem inzwischen auch verstorbenen H. Reincke-Bloch die Bedeutung hervor, die Breßlau als Bildner einer inzwischen auch in die Jahre der Reife


S.124

gekommenen Generation akademischer Lehrer gehabt hat. Den umfassendsten, eindringendsten Nachruf hat P. Kehr in der Zeitschrift veröffentlicht, die ja in besonderem Maße mit Breßlaus Lebensarbeit verwachsen ist. Mit Recht rühmt Kehr den Meister der Methode, der Edition, der Diplomatik. Er sieht in ihm nicht einen Forscher eigentümlicher Originalität. »Seine Stärke war neben ausdauerndem und unermüdlichem Fleiß und sorgfältiger und genauer Methode ein seltenes Maß virtuoser Applikation.«

Die Kontroverse zwischen Ulrich Stutz und Alfons Dopsch ( 115), die durch eine außerordentlich scharfe Polemik von Stutz gegen die beiden großen, zugleich untersuchenden und darstellenden Werke von Dopsch hervorgerufen wurde, gehört nicht hierher, soweit es sich um die Auseinandersetzungen über rechtshistorische Probleme im einzelnen handelt. Die von Stutz begonnene Auseinandersetzung bedeutet aber mehr: eine Verwahrung gegen die Erörterung von Problemen allgemeiner kulturgeschichtlicher Tendenzen, die von historischer Seite unter evolutionistischen Gesichtspunkten Dopsch versucht habe. Es ist doch letzlich der Versuch gewisse Probleme, die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung betreffen, von Stutz' Seite als Domäne der Rechtshistorie abzugrenzen. Und wenn Stutz damit auch nur »Warnungstafeln« aufgerichtet haben will, so kann man Dopsch nicht unrecht geben, wenn er trotz aller von Stutz eingestreuten Anerkennungen für seine Arbeiten in letzter Linie darin, wie Dopsch es ausdrückt, einen »Ketzerbrief« erblicken mag, ein Verdikt, gegen das sich der so Angegriffene mit Recht wehrt.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)