VIII. Kultur- und Bildungsgeschichte.

Die unter dieses Kapitel fallenden Arbeiten sind dank der Vierhundertjahrfeier der Marburger Universität 1927 besonders zahlreich. Es war ein glücklicher Gedanke Heldmanns ( 2069), diese Gelegenheit zu benutzen, um die Bedeutung des kirchlichen Mittelpunkts in Niederhessen, des Petersstifts in Fritzlar, auch als des eigentlich geistigen Zentrums Althessens in das wahre Licht zu stellen. Es galt mit dem falschen Urteil aufzuräumen, das sich durch Falkenheiners (s. Jahresberichte 1925, 298) Ansicht über den Verfall der Stiftsschule gegenüber der ehedem berühmten Klosterschule in der Literatur festgesetzt hatte. Heldmann gelingt das durch ein bei dem Stande der wissenschaftlichen Bearbeitung des Fritzlarer archivalischen Materials doppelt mühsames Zusammentragen von Zeugnissen über Scholaster und Scholaren der Stiftsschule selbst, sowie durch die mit erstaunlichem Fleiß gesammelten, auch über den Zweck der vorliegenden Arbeit hinaus wertvollen Nachrichten über die aus Fritzlar stammenden Studierenden und die akademischen Graduierten des Stifts und der Bürgerschaft, deren Zahl die bisher bekannte bedeutend übertrifft, und unter denen Namen von wissenschaftlichem Klang weit über die hessische Heimat hinaus genannt werden können.

Die Gelehrtengeschichte der Alma mater Philippina hat in der von der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck dargebrachten Festgabe ihr festes Gerüst erhalten. Das von Franz Gundlach ( 2059) bearbeitete Verzeichnis bringt in der Anordnung nach Fakultäten Angaben über Leben, Wirksamkeit und literarisches Schaffen aller an der Universität Marburg von 1527 bis 1910 Lehrenden, lexikographische Vollständigkeit der Personen ebenso erstrebend wie im übrigen sich auf das Wesentliche beschränkend. Entscheidende Bedeutung hat die Veröffentlichung bereits für das Zustandekommen der Universitätsfestschrift ( 2058) gehabt. In die Abfassung dieses nach Umfang und Inhalt bedeutenden Werkes haben sich G. Hermelink und S. A. Kähler geteilt. Entsprechend ihren Arbeitsgebieten übernahm Hermelink die beiden ersten Kapitel: Gründung und Ausbau unter Landgraf Philipp und das Zeitalter der Orthodoxie, Kähler die Zeit von der Restauration ( 1653) der Universität bis zum Ende der kurhessischen Herrschaft ( 1866). Für die neueste Zeit hat man nach bewährtem Vorbild den Weg der Einzeldarstellungen durch Fachvertreter gewählt. Den Verfassern des Hauptteils kann man nachrühmen, daß sie ihre Aufgabe, »in die Hauptlinien einer Geschichte der Anstalt soviel Gelehrten- und Wissenschaftsgeschichte einzugliedern, daß die überterritoriale Bedeutung dieser im wesentlichen in territorialen Grenzen verlaufenden Universitätsentwicklung heraustrete«, voll erfüllt haben. Die Darstellung der Gründung der Universität läßt sie in viel schärferer Beleuchtung als eine Stiftung aus landesherrlicher Machtvollkommenheit erscheinen, als eine Schöpfung humanistischen Charakters, verbunden mit dem auch für die wissenschaftliche Tätigkeit richtunggebenden reformatorischen Gedanken des »gemeinen Nutzes«. Nach dem Tode des Landgrafen Philipp wurde der an der jetzt zur Samtuniversität


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für das geteilte Hessen gewordenen Hochschule einsetzende Kampf um die dogmatische Festsetzung der Lehre, andererseits die Betonung der landesherrlichen Rechte über die Universität bestimmend für die weitere Entwicklung. Als charakteristisch für die wissenschaftliche Arbeit werden der Zug zur Systematisierung, das Disputationswesen und die Anfänge des polyhistorischen Gelehrtentums hingestellt. Die Verbesserungspunkte unter Landgraf Moritz hatten eine reformierte Universität zur Folge, politische Verhältnisse führten zur Begründung einer Hessen-darmstädtischen lutherischen Universität in Gießen und zu der Episode der Kasseler Universität. Das Jahr 1653 brachte die »Restauration« der Marburger Hochschule, beherrscht von Gedanken, die auf einen Konfessionsausgleich gerichtet waren und den toleranten Staat des 18. Jhds. vorbereiteten. Wie im vergangenen Jhd. galten Frömmigkeit und Gelehrsamkeit als Bildungsideal, die Universität aber ist die »weltanschaulich gebundene Lehranstalt«. Christian Wolffs Berufung führt eine neue Zeit mit neuem Geist herauf. Nach seinem Weggang ist der Verfall der Universität nicht aufzuhalten. Die westfälische Zeit befreite endgültig von »den Bindungen von Konfession und Territorium«, sie bahnte die Entwicklung zur modernen Universität an. Verhängnisvoll aber auch für die Hochschule wirkte sich der allgemeine Rückschritt aus, der mit der Wiederkehr des Kurfürstentums einsetzte, an dessen geistiger Reaktion jede grundsätzliche Reform scheitern mußte. Durch finanzielle Hilfe sorgte der Landtag dafür, daß der Niedergang durch allmählichen Ausbau der Lehrmittel, Errichtung von Instituten und Berufung bedeutender Lehrer aufgehalten wurde. Die preußische Regierung schuf dann aus der Philippina die moderne Hochschule.

In der Festschrift konnten die Ergebnisse mehrerer Aufsätze aus dem Festband der Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde Verwendung finden. Küch ( 2063) bringt dort auf Grund unbekannten Materials neue Ergebnisse für die Frühgeschichte der Universität. Sie lassen den Einfluß des Kanzlers Feige, des Humanisten und hervorragenden Verwaltungsbeamten, bei der Gründung der Hochschule erkennen, der das Zurücktreten der rein theologisch-reformatorischen Zwecke zur Folge hatte. Seinem Verdienste ist die Erhaltung der in den ersten Jahren ihres Bestehens mehrfach in ihrem Bestande gefährdeten Universität zu danken. Ein von Küch veröffentlichtes Studentenverzeichnis von 1541 mit eigenhändigen Einträgen der Studenten, angefertigt zur Aufdeckung einer studentischen Demonstration gegen die kurz vorher geschlossene Doppelehe des Landgrafen und schon deshalb von stärkstem Interesse, bietet ein wertvolles Hilfsmittel für die so schwierige Frequenzfeststellung. Die Arbeit von L. Zimmermann ( 2061) zeichnet sich dadurch aus, daß sie über eine Darstellung der äußeren Organisation nach der persönlichen und finanziellen Seite hinaus alle die Fragen mit hineinzieht, die sich aus der Idee der Stipendiatenanstalt allgemein: der Erfassung der begabten Köpfe der Gemeinschaft, ihrer Förderung auf Kosten der Gemeinschaft, und der besonderen für die Durchführung der Reformation wichtigen Aufgabe: dem Lande gelehrte Prediger zu erhalten, ergeben.

Die Förderung der Marburger Universität durch Christian Wolff wird durch einige von W. Dersch ( 2065) veröffentlichte Briefe beleuchtet. -- R. Brieger ( 2067a) weist bei einer eingehenden Würdigung der zu Beginn des 19. Jhds. an der Marburger Universität tätigen Dozenten und der Verfassung


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der Universitätsbibliothek und der Institute nach, daß der Grund für den damals in der Bürgerschaft beklagten Verfall der Universität nicht in der mangelnden »Celebrität« der Professoren, wohl aber neben dem kläglichen Zustand der wissenschaftlichen Hilfsmittel in der allgemeinen Teuerung, dem auch sonst zu beobachtenden Rückgang der Frequenz, in der nur in den beiden Hessen üblichen Studierbeschränkung und in der Knauserigkeit des Landesherrn zu suchen ist.

Als willkommene Ergänzung zu den vorgenannten Arbeiten hat uns Heer ( 2060) neben einer Spezialstudie über die seit der zweiten Hälfte des 18. Jhds. auftauchenden Studentenorden ( 2066) eine zusammenfassende Darstellung der Geschichte des Marburger Studentenlebens geschenkt, in der naturgemäß den Verbindungen der größte Raum gewidmet ist.

Geschichte und Geschicke der Universität Rinteln, der aus dem akademischen Gymnasium zu Stadthagen hervorgegangenen Schöpfung des hochgebildeten Kunstfreundes, Grafen Ernst von Schaumburg-Holstein († 1622), schildert E. Schröder ( 2070) im Rahmen eines Vortrags. Nach der Durchmusterung von Leben und Arbeit der Professoren kann Schröder feststellen: Ehrlichen Fleiß und bürgerliche Wohlanständigkeit hat man hier zu allen Zeiten bewahrt.


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