§ 6. Urkunden- und Zeitrechnungslehre.

(Heuberger.)

Harry Bresslau (über ihn 109) konnte ausbauen und zusammenfassen, was die klassische Zeit der deutschen Urkundenforschung geleistet hatte. Die Urkundenlehre ist jedoch eben jetzt wieder in lebhafter Entwicklung begriffen. Neue Anschauungen beginnen sich zu bilden und alte, scheinbar bereits endgültig gelöste Fragen zeigen sich in verändertem Licht. Dies tritt gerade bei einem Blick auf die einschlägigen Erscheinungen des Jahres 1927 unverkennbar hervor (hiezu vgl. auch 42, 53, 122a--27, 129--32, 138, 279, 334, 652, 669, 674, 731, 1317, 1319, 1600, 1616, 1678, 1958, 2077, 2079 [Veröffentlichung von Urkunden], 43--46, 49, 51, 54--56, 137 [Archive], 59, 117--21, 133--36, 234, 236, 239, 242, 246, 247, 249, 255, 256 [Paläographie], 235, 237, 238 [Faksimile], 338a [Siegel]).

I. Griechisch-römische Urkunden. Seit Brunner ist allgemein bekannt, daß ein urkundliches Schriftstück nur verstanden werden kann, wenn


S.127

man es auch allseitig in seiner inhaltlichen d. h. rechtlichen Bedeutung zu erfassen sucht, und daß die Urkunden des frühmittelalterlichen Abendlandes aus jenen der spätrömischen Welt hervorgegangen sind, also auch in diesem Sinn betrachtet werden müssen. Die Früchte aus diesen Erkenntnissen kamen aber nur unvollkommen zur Reife. Die Untersuchung des Urkundenrechts und der antiken Urkunde (hierzu auch 1280) blieb Juristen und Papyrologen überlassen, die es im allgemeinen vermieden, von den mittelalterlichen Urkundenforschern zu lernen. Diese hinwieder begnügten sich damit, Brunners Ergebnisse vorzuführen und in engen Grenzen zu verwerten, scheuten sich aber, im vollen Umfang auf juristische Gedankengänge einzugehen und den Ertrag der papyrologischen Arbeit zu berücksichtigen, geschweige denn, selbst an die Erforschung der antiken Urkunden heranzutreten. Dieser Mangel an Zusammenarbeit erwies sich namentlich für die eigentliche Urkundenlehre als höchst nachteilig. Sie war sich freilich bewußt, daß die römische Urkunde im Rahmen der Gesittungs- und namentlich der Rechtsentwicklung des gesamten antiken Mittelmeerkreises betrachtet werden müsse und daß Brunners Lehre von der Carta und Notitia völlig erschüttert sei, war aber nicht imstande, daraus die entsprechenden Folgerungen zu ziehen und ein dem heutigen Stand unseres Wissens angemessenes Gesamtbild der Urkundenentwicklung des Altertums und Frühmittelalters zu entwerfen. Hier verlangte mithin eine äußerst wichtige und dabei schwierige Arbeit immer dringender danach, getan zu werden. An ihre Bewältigung macht sich nun Steinacker in einem Werk, dessen erster, im wesentlichen bereits 1914 gedruckter und schon in R. Heubergers Allgemeiner Urkundenlehre für Deutschland und Italien (A. Meisters Grundriß der Geschichtswissenschaft 1/2a, 1921) benutzter Teil im laufenden Berichtsjahr erschienen ist ( 270). Dieses Buch erörtert zunächst in gedankenreichen Ausführungen die Beziehungen zwischen Urkunde und Recht, das formgeschichtliche Wesen der urkundlichen Schriftstücke sowie Entwicklung und Aufgaben der Urkundenlehre und gibt dann auf Grund umfassendster Auswertung des rechtswissenschaftlichen, altertums- und papyruskundlichen Schrifttums und eindringender Quellenforschung unter besonders eingehender Behandlung der griechisch-ägpytischen und spätrömischen Urkunde zum erstenmal ein diplomatisch gesehenes Gesamtbild des privaten Urkundenwesens der griechisch-römischen Welt. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Auseinandersetzung mit Brunner, in deren Verlauf u. a. wohl endgültig nachgewiesen wird, daß das Altertum weder eine Vorläuferin der frühmittelalterlichen Notitia noch eine rechtsbegründende traditio cartae gekannt habe. Steinackers Buch, das eine Fülle wertvoller Einzelergebnisse enthält, fördert die wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft und die Kenntnis der antiken Urkunde in bedeutsamer Weise, erschließt der Urkundenlehre neue, bisher von ihr kaum beachtete Gebiete und gibt dem Urkundenforscher -- vor allem durch die allseitige Berücksichtigung einschlägiger rechtsgeschichtlicher Fragen -- fruchtbare Anregungen von allgemeiner Tragweite. Der Fortsetzung dieses grundlegenden Werkes darf man mit Spannung entgegensehen. Ein Wunsch darf vielleicht noch an dieser Stelle ausgesprochen werden: Es möge uns einmal als Ergänzung zu Steinackers Buch eine Darstellung der ägyptischen und vorderasiatischen Urkunde von sachkundiger Hand beschert werden.

II. Allgemeines zu den Urkunden des Mittelalters. Die


S.128

Frage der nichteinheitlichen Urkundendatierungen erschien seit Ficker als gelöst. Sie wird aber nun durch eine Abhandlung Sthamers ( 271) in ein neues Licht gerückt. Sthamer führt aus: In allen urschriftlich erhaltenen Urkunden sowie in den Registern Karls I. von Sizilien und seiner Nachfolger sei innerhalb der Datierung die Ortsangabe, dann das Monats- und Tagesdatum, gegebenenfalls auch der Name des verantwortlichen Kanzleibeamten in eigens dafür freigelassenen Lücken nachgetragen worden. Man habe somit die Datierung niemals in einem Zug, sondern stets in mehreren aufeinanderfolgenden Stufen geschrieben; und zwar melde die Ortsangabe, wo der Beurkundungsbefehl erteilt worden sei, während sich die Nennung von Monat und Tag auf den Zeitpunkt der Genehmigung und Besiegelung beziehe. Ähnliche Erscheinungen ließen sich ganz allgemein an Friedrichs II. Register (hiezu eine Tafel) und Urkunden, an den Ausfertigungen der Normannen- und Langobardenfürsten Unter- und Mittelitaliens, an den Karolinger Diplomen, an den Urkunden und Registern der deutschen Herrscher und der Päpste sowie an dem ältesten französischen Königsregister feststellen. Folglich habe man es hier nicht mit vereinzelten Unregelmäßigkeiten, sondern mit einem durchgängig geübten ma. Brauch zu tun, dessen Wurzeln vielleicht ins Altertum zurückreichten. Erweisen sich diese Beobachtungen, deren nähere Begründung in Aussicht gestellt wird, in ihrer Allgemeinheit als zutreffend, so käme ihnen höchste Bedeutung für die Fragen des Itinerars, der Echtheitsbestimmungen und der Kanzleigeschichte zu.

III. Urkundenfälschungen. Eine Anzahl von Untersuchungen setzt sich die Aufdeckung derartiger Fälschungen (hiezu auch 285, 806, 1318) zum Ziel. Laehr erklärt den Widerspruch zwischen den Briefen Papst Johanns VIII. und Papst Stephans V. an Sventopluk durch Annahme einer zweifachen, im Kreise Bischof Wichings verübten Verunechtung des letztgenannten Schreibens ( 1631), wobei sich zugleich Einblicke in die Haltung der Kurie gegenüber der Mährenmission ergeben. Wilkens weist nach, daß die Urkunde Ottos III. vom 14. April 999 interpoliert und ein Schenkungsbrief Ottos I. von 951 niemals vorhanden gewesen sei ( 666). Eine nur im Auszug veröffentlichte Doktorschrift Robert Hetz' (Jahrbuch der phil. Fakultät der deutschen Universität Prag 3 S. 12 f.), die auch die Entwicklung des Urkundenwesens und namentlich der urbarialen Aufzeichnungen in Böhmen beleuchtet, gilt den Gründungsurkunden der älteren böhmischen Klöster. Es wird festgestellt, daß die einschlägigen Schriftstücke von Prevnov, Raigern, Opatowitz, Kladrau, Plass, Kanitz und Leitomischl Fälschungen, z. T. nach echten Vorlagen, jene von Hradisch, Sedletz, Klosterbruck, Maschau und Tepl unverdächtig seien, daß Ostrau niemals eine Gründungsurkunde besessen hätte, während sich für Strahov und Welehrad das einstige Vorhandensein solcher Aufzeichnungen erschließen lasse. Die Grabschrift der Gründer des Wetzlarer Marienstiftes und die älteste Bannforstschenkung an dieses Stift (8. Jhd.) werden von Metz in ungenügender Beweisführung als Fälschungen des 13. Jhds. angesprochen ( 1685). Hirsch legt dar, daß die eine Fassung des Schutzbriefes Friedrichs I. für das Hochstift Cremona vom 3. April 1164 verunechtet und wahrscheinlich angefertigt worden sei, um König Johann von Böhmen bei dessen Eingreifen in Italien zur Zuteilung eines umstrittenen Besitzes an das genannte Bistum zu veranlassen ( 733). Zwei von J. Freiherrn von Hormayr veröffentlichte Urkunden Kaiser Ludwigs IV. und seines Bruders, Pfalzgraf Rudolf, für Stams werden von Bock


S.129

als Machwerke jenes Gelehrten nachgewiesen, die dazu dienen sollten, die angebliche Freundschaft zwischen den genannten Fürsten und Johann von Kempten, Mönch zu Stams, quellenmäßig zu belegen ( 276). Wagner entscheidet die auch von Zott 283 a behandelte Frage, ob das Eltviller Gericht wirklich Oberhof für die übrigen rheingauischen Gerichte gewesen sei oder nur vermöge einer Fälschung F. J. Bodmanns als solcher erscheine, in ersterem Sinn und weist seit spätestens 1383 zu Eltville ein oberstes Gericht nach, womit sich zugleich die Möglichkeit ergibt, Hinweisen Bodmanns auf Eltviller Schöffenbücher mit Vorbehalt Glauben beizumessen ( 283 a). Endlich bemüht sich Zedler in Verteidigung seiner kritischen Untersuchungen zur Geschichte des Rheingaus (Nass. Ann. 45) gegen Hessel ( 283), an Hand von Beispielen darzutun, wie Untersuchungen über Fälschungen anstatt mit den nach seiner Ansicht unzulänglichen Mitteln der Urkundenforschung mit Hilfe der Sachkritik erfolgreich durchgeführt werden könnten, und entwickelt dabei Ansichten, die manchem Fachgenossen eine fröhliche Stunde bereiten dürften.

IV. Urkundenwesen des Frankenreiches. (Hiezu auch 648, 652, 1285, 1700). Neben dem Urkundenlatein der Merowingerzeit, dem sich eine umfangreiche Arbeit Vielliards ( 444) und -- unter Beschränkung auf die Königsurkunden -- ein ohne jede diplomatische Sachkenntnis geschriebener Aufsatz Martins ( 445) zuwenden, wurden besonders die Formulae Marculfi zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht. Levillain hatte im Gegensatz zu Krusch und unter Wiederaufnahme einer älteren Ansicht zu beweisen versucht, daß die genannte Sammlung auf Grund uns verlorener Vorlagen im Auftrag des im Jahr 657 verstorbenen Bischofs Landerich von Paris entstanden sei. Sproemberg widerlegt erfolgreich diese Annahmen, übernimmt aber unter Beibringung neuer Gründe die Ansicht des Franzosen, Markulf, der kein Schulmeister und nicht Mönch in Resbach gewesen sei, sowie dessen Auftraggeber Landerich, der nicht mit Sicherheit als Bischof von Meaux angesehen werden könne, hätten -- letzterer als Referendar -- der Reichskanzlei angehört und tritt -- allerdings von einem etwas einseitigen Standpunkt aus -- dafür ein, daß die Formulae Marculfi als Behelf zum Gebrauch der königlichen Notare zwischen 721 und dem Beginn der Dreißigerjahre des 8. Jhds. (also nicht, wie Krusch angenommen hatte, 721--22) im Zusammenhang mit dem Hervortreten der Hausmeierkanzlei geschaffen worden seien ( 272). Bedeutung und Wirkung der Markulfschen Sammlung beleuchtet eine umfassende Abhandlung Zatscheks ( 273), deren sehr beachtenswerte Ergebnisse gelegentlich Sproembergs Ansichten berichtigen, so vor allem betreffs der unteren Zeitgrenze für die Entstehung der Formulae Marculfi. Zatschek zeigt, daß westliche Formularsammlungen, namentlich die schon 724 in Weißenburg verwendeten Formulae Marculfi und die Formulae Salicae Lindenbrogianae, an deren salischem Ursprung festzuhalten sei, dank der Tätigkeit des Gerichtschreibertums weit stärker und nachhaltiger, als man bisher vermutet hat, in den Privaturkunden des Ostfrankenreichs benützt worden seien, wobei man sich in dessen westlichen Landschaften eng an die Vorlagen angeschlossen habe, während in Bayern bald neue, rasch wechselnde Formulare geschaffen worden wären. Er verfolgt weiter, wie die -- vielleicht unter Auswertung merowingischer Register gefertigten -- Markulfformulare, vermutlich auf dem Umweg über die Hausmeierurkunde 726--44 in die Reichskanzlei eindrangen, wo sie vor allem unter


S.130

Pipin benützt wurden, um dann gegen Ende des 8. Jhds. allmählich zurückzutreten und nur noch einmal vorübergehend wieder herangezogen zu werden. Mit den Formulae epistolares Augienses (Collectio C) beschäftigt sich Beyerle ( 244), der unter Beigabe einer chronologischen Übersichtstabelle über diese Sammlung 13 Stücke derselben mit Sicherheit, einige andere mit Wahrscheinlichkeit als Briefe Walahfried Strabos erweist. Sparbers Ausführungen über die von ihm -- nach der Abschrift im Freisinger Traditionsbuch -- abgebildete Schenkungsurkunde des Edlen Quartinus für Innichen von 827--28 ( 280) sind wertlos.

V. Kaiser-, Königs- und Papsturkunden. Verschiedene Arbeiten gelten dem Urkundenwesen der deutschen Herrscher (hiezu auch 271, 276, 281, 398, 666--68, 670, 672, 734a, 1292). Sie beleuchten vor allem die Kanzleigeschichte. Während sich mit Urkunden des ersten Saliers nur ein Aufsatz Heubergers befaßt, der die Grafschaftsverleihungen dieses Herrschers und seines Vorgängers an die Hochstifter Trient und Brixen bespricht ( 1309a), fördern einige höchst wertvolle Neuerscheinungen tiefgreifende Aufschlüsse über Tätigkeit und politische Bedeutung der Reichskanzlei unter Heinrich IV. und dessen beiden Nachfolgern zutage. Hirsch zeigt, wie der Codex Udalrici aus den Beziehungen Bambergs zur Reichskanzlei unter den drei letzten Saliern und Lothar III. erwuchs, wertet diese Sammlung demgemäß als kaiserliches Gegenstück zum Register Gregors VII. und kommt auf Grund der dadurch gegebenen Anschauung zum Schluß, daß die Kanzlei gewisse, durch Udalrich überlieferte Aktenstücke (gefälschte Investiturprivilegien Hadrians I. und Leos VIII., kaiserliche Fassung des Papstwahldekrets von 1059 und des Wormser Konkordats) für den politischen Gebrauch bereitgehalten und somit in den Kampf der Geister eingegriffen habe ( 274). Dabei ergeben sich Einblicke in die geistig-politische Bedeutung der beiden ostfränkischen Bistümer unter Saliern und Staufern und in die Stellung der Hofkreise zum endgültigen Abkommen Heinrichs V. mit der Kirche. Namentlich muß aber auch an dieser Stelle auf Schmeidlers großes Buch über Heinrich IV. und seine Helfer im Investiturstreit ( 691) verwiesen werden. Dieses Werk arbeitet mit Hilfe verfeinerter Stilvergleichung Persönlichkeit, Kanzleitätigkeit und diplomatisch-politische Wirksamkeit von vier Schreibern Heinrichs IV. (vgl. hiezu auch Jahresberichte 1926, S. 186, 264) heraus und gewinnt auf diese Weise ganz neue Erkenntnisse über Einrichtung, Arbeitsweise und politischen Einfluß der Reichskanzlei, über die Entstehung des Codex Udalrici und verwandter Sammlungen (aus Briefbüchern von Notaren, vgl. hiezu auch Jahresberichte 1925, S. 229 und 1926, S. 262) und über vieles andere, so über Konzeptfertigung in der Reichskanzlei und über die Entstehung verschiedener wichtiger Urkunden. Einzelne Bedenken gegen Schmeidllers Methode und Ergebnisse vermögen den Wert seiner ungewöhnlichen, die Forschung nachhaltig anregenden Leistung nicht zu mindern. Endlich erfährt unser Wissen von der Kanzlei Lothars III., dessen im wesentlichen von Petrus Diaconus verfaßte Besitzbestätigung für Monte Cassino Zatschek sachlich und diplomatisch erläutert (Neues Archiv 47, S. 174--224) eine bedeutsame Erweiterung durch die von Hirsch und v. Ottenthal besorgte Ausgabe der Urkunden dieses Herrschers und der Kaiserin Richenza ( 669). Es erweist sich dabei, wie aus den Vorbemerkungen zu den einzelnen Stücken und aus der von Hirsch verfaßten Einleitung hervorgeht, daß die Schreiber des Kaisers


S.131

etwa die Hälfte des Auslaufes ohne Beteiligung des Empfängers erledigten, daß sie sich nur vorübergehend und äußerlich vom Vorbild der Papsturkunde beeinflussen ließen und vor allem, daß die Zeit Lothars in der Geschichte der Reichskanzlei keinen Einschnitt, sondern nur einen Einschub darstellt.

Einige Arbeiten gelten Johann von Neumarkt, dem bekannten Kanzler Karls IV. ( 752, 752a, 753). Schieches Abhandlung über eine Spielart der von jenem Kanzler herrührenden Summa cancellariae (vgl. Jahresberichte 1926, S. 186, 562 f.) liegt jetzt gedruckt vor ( 734). Einen späteren Kanzleischreiber behandelt Jäger ( 277).

Zur Kenntnis der sizilischen Königsurkunden (zu diesen wohl auch 241, 1608) liefert Sthamer, dessen Ausführungen über die Datierung sizilischer und anderer Herrscherurkunden bereits oben besprochen wurden, noch einen weiteren wertvollen Beitrag ( 275). Er zeigt, daß der sizilische Herrscher laut der Kanzleiordnungen lediglich in bestimmten Fällen in der Lage war, die Fassung der in seinem Namen ausgehenden Erlasse zu beeinflussen und daß sich nur in einem Brief Friedrichs II. an den Erzbischof von Messina vom 2. Februar 1240 und in einem Schreiben Karls I. an den Justitiar der Terra d'Otranto vom 9. März 1279 eigenes Diktat des Königs nachweisen läßt. Der Staufer und seine Nachfolger im sizilischen Reich nahmen also nur ganz ausnahmsweise Einfluß auf den Wortlaut ihrer Erlasse. Welche Bedeutung dieser Feststellung für die Beurteilung schriftlicher Äußerungen dieser Herrscher zukommt, braucht kaum hervorgehoben zu werden.

Für die Lehre von den Papsturkunden (hiezu auch 238, 271, 281, 1600, 1601, 1608, 1616, 1618, 1622, 1631, 1649) kommen nur wenige Erscheinungen des Berichtsjahres in Betracht, die durchwegs im Zusammenhang mit dem Unternehmen der Hispania pontificia stehen. Villada bespricht in einer mit fünf Tafeln ausgestatteten Abhandlung ( 240), die auch paläographische Bemerkungen über den Pentateuch von Ashburnham enthält, Kehrs Schrift über die ältesten Papsturkunden Spaniens (vgl. Jahresberichte 1926, S. 182, 186 f., 423). Kehr selbst legt einen Bericht über die einschlägigen Forschungen der Jahre 1925--1927 vor ( 290) und Erdmann ( 1600 a) veröffentlicht im Anschluß an seine Mitteilungen über die Archive Portugals und deren Durchforschung 160 ungedruckte oder in Deutschland kaum bekannte Papsturkunden und verwandte Schriftstücke aus der Zeit von Paschalis II. bis zum Beginn des 13. Jhds. in Vollabdruck oder Auszug.

VI. Sonstiges Urkundenwesen (hiezu auch 88, 283 a, 284, 289, 673, 677, 678, 720, 738, 740, 767, 1304, 1325, 1334, 1343, 1348, 1378, 1469, 1488, 1710, 1711, 1835, 1840). Nicht nur anläßlich der Veröffentlichung von Urkunden (s. o. S. 126), sondern auch im Rahmen verschiedener geschichtlicher Arbeiten wurden einschlägige Gegenstände berührt. So behandelt H. Meier in seinem Aufsatz über Gertrud, Herzogin von Österreich und Steiermark ( 762) anhangsweise unter Beifügung einer Tafel die neun zum größeren Teil in Urschrift erhaltenen Urkunden dieser Fürstin, während Stolz in seiner Geschichte der Ausbreitung des Deutschtums in Südtirol ( 373 a) wertvolle Mitteilungen über das Aufkommen der deutschen Urkundensprache in dieser Landschaft, namentlich im Bozner Unterland sowie über Notare dieser Gegend macht. Im übrigen ist hier nur auf wenige Neuerscheinungen zu verweisen. Schnettler untersucht Zeugenreihen westfälischer Urkunden ( 286), St. Ketrzynski (Kwartalnik


S.132

Historyczny 41, S. 257--273) die unregelmäßige Datierung der polnischen Urkunden. Daß die von Erzherzog Karl, Kaiser Rudolf II. und Papst Sixtus V. im Jahr 1586 ausgestellten Stiftungsbriefe für die Universität Graz rückdatiert seien, weist Erben in einem mit drei Tafeln ausgestatteten Aufsatz nach ( 281) (zu den Fürstenurkunden u. a. auch 763, 1526). Delehayes Abhandlung über die von mehreren Bischöfen ausgestellten Ablaßbriefe, deren zweiter Teil jetzt erschienen ist ( 1611), wurde bereits in den Jahresberichten 1926, S. 188 angezeigt. Kirn veröffentlicht die erste Hälfte seiner Untersuchung über das Kanzlei- und Urkundenwesen der Mainzer Erzbischöfe im 15. Jhd. ( 282). Er behandelt an Hand der von ihm in Würzburg und München eingesehenen Urschriften Arten, Sprache und Datierung der Urkunden sowie die Stufen der Beurkundung und wendet sich dann den Registern, den (kopialen) Lehenbüchern sowie dem Archivwesen zu. Seine frisch und lebendig geschriebene Darstellung läßt neben Zügen, für die sich im Urkundenwesen der andern deutschen Fürsten allerwärts Seitenstücke nachweisen ließen, auch einzelne Besonderheiten hervortreten, deren auffallendste die starke Einmischung des Domkapitels in die Kanzleigeschäfte ist (vgl. hiezu Jahresberichte 1925, S. 392). Ein von sechs Tafeln begleiteter Aufsatz Möllenbergs ( 288) beschäftigt sich mit dem aus dem Prämonstratenserstift U. L. Fr. zu Magdeburg stammenden, jetzt im dortigen Staatsarchiv befindlichen Codex Viennensis, der 89 von vier Schreibern des ausgehenden 12. Jhds. eingetragene, größtenteils jenes Kloster oder die Reichspolitik unter Friedrich I. betreffende Schriftstücke und elf von zwei Händen des 14. Jhds. hinzugefügte, auf das Frauenstift bezügliche Urkunden enthält. Es wird nachgewiesen, daß der im 12. Jhd. entstandene Teil dieses Bandes nicht als Formularbuch, sondern als eine in ihrer Art einzig dastehende Urkundensammlung zu betrachten ist, die von drei, dem Magdeburger Prämonstratenserstift entnommenen Schreibern Erzbischof Wichmanns hergestellt wurde. Santifaller veröffentlicht unter Beigabe einer Tafel eine kurze Übersicht über die aus den Jahren 1445--1794 stammenden Brixner Lehenbücher und die den Jahren 1781--1805 angehörigen hochstiftischen Lehentaxbücher und teilt ein Bruchstück aus dem ältesten jener Bände mit ( 278). Auf die Ausgabe des um 1300 entstandenen Eppsteinischen Lehenbuches ( 1482) sei hingewiesen. Martin behandelt den mit Unrecht als Briefbuch Erzbischof Eberhards I. von Salzburg angesprochenen, in Wahrheit zu dessen Zeit in Admont entstandenen Kodex 629 (ius. can. 133) der Wiener Nationalbibliothek und den z. T. auf diese und eine zweite Salzburger Briefsammlung zurückgehenden, aus dem 16. Jhd. stammenden Kodex XI, 671 der Hannoverschen Provinzialbibliothek (Mitteilungen des österr. Institut für Geschichtsforschung 42, S. 313--342), Davidsohn eine nach 1265 wohl zu Mailand zusammengestellte Briefsammlung und ein aus der zweiten Hälfte des 15. Jhd. stammendes Urkundenbuch der Grafen Fieschi von Lavagna ( 671).

Eine von R. Latouche vorgelegte Etude sur le notariat dans le comté de Nice pendant le moyen âge (Le Moyen-Age 2. serie tom 28, S. 129--69) läßt erkennen, daß das Notariat schon um 1200 in der unter den Grafen der Provence, dann unter denen von Savoyen stehenden Grafschaft Nizza eingebürgert war und sich hier ebenso entwickelte und in den gleichen Formen urkundete wie im übrigen Italien. Bemerkenswert ist, daß die (von jenen Grafen ernannten oder bestätigten) öffentlichen Schreiber gemäß landesfürstlicher Verordnungen,


S.133

die ihre Pflichten regelten, neben den Imbreviaturbüchern auch Vollkonzeptbücher (extensoria) zu führen hatten, deren Eintragungen Amadeus VIII. von Savoyen Beweiskraft zuerkannte.

Dankbar ist zu begrüßen, daß Rehme in Fortsetzung seiner Vorarbeiten für ein Werk über die deutschen Stadtbücher des MA. den ersten Teil einer alphabetisch angelegten Übersicht über die vorhandenen Bücher dieser Art veröffentlicht ( 1297). Er behandelt -- im wesentlichen nur auf Grund des gedruckten Stoffes und des sonstigen Schrifttums -- teils in knappen Mitteilungen, teils in umfangreicheren Untersuchungen die einschlägigen Archivalien, vor allem die Justizbücher von 170 Städten. Mag sich diese Zusammenstellung etwa auch im einzelnen noch vervollständigen lassen, so ist doch durch sie eine äußerst wertvolle Grundlage für alle weitere Forschung geschaffen. Pahncke setzt seine Erschließung der Stadtbücher von Neuhaldensleben (für die Jahre 1480--82) fort ( 128; vgl. Jahresberichte 1926, S. 188). Weiter werden veröffentlicht bzw. bearbeitet oder ausgewertet: das in den Jahren 1297--1628 geführte älteste Stadtbuch von Osnabrück, das im wesentlichen eine Statutenbuch ist, aber auch anderes, so Einträge über Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit enthält, durch Fink ( 1340), das Witzenhauser Stadtbuch von 1558--1612 durch Eckhardt ( 1331), das älteste Berliner Bürgerbuch aus den Jahren 1453--1700 durch v. Gebhardt ( 319), das Konitzer Bürgerbuch aus der Zeit von 1550--1850 durch Kloss ( 322), das »Blutbuch« (Register über die peinlichen Fragen) von Braunau in Böhmen aus dem Jahr 1550 durch Weiß ( 1391), das »schwarze Buch« (Gerichtsbuch) von Gleiwitz durch Chrzaszcz ( 1390) und das derzeit wieder verschollene, im wesentlichen aus dem 16. Jhd. stammende Gerichtsbuch von Pfalzfeld im Hunsrück, das außer Gerichtsprotokollen auch mancherlei andere Einträge, so altertümliche Hegungsfragen des Vogteigerichtes aus der zweiten Hälfte des 18. Jhd. enthält, durch Frommhold ( 1329). Pfitzners Arbeit über die Achtverzeichnisse von Neisse aus dem Ende des 13. Jhd. wurden schon in den Jahresberichten 1926, S. 188, 381, 568 angezeigt. Während Schier Schreiberverse aus Friedländer Stadtbüchern ( 252) mitteilt, bringt Fr. v. Klocke Nachrichten aus dem untergegangenen ältesten Ratswahlbuch von Münster von 1354--1531 ( 203). Inhaltlich beuten Th. Hampe die Nürnberger Malefizbücher des 14.--18. Jhds. ( 1310) und Schuster die Görlitzer Ratsrechnungen von 1375--1419 ( 1503) aus (zu den Urbaren und verwandten Quellen 320, 1321, 1434, 1471, 1502, 1590, zu den Hochschulmatrikeln 2077, wohl auch 1958, 2079, zu den Totenbüchern 1682, 1692). Hier sei auch der von Bretschneider besorgten Übersetzung des auch für das schlesische Urkundenwesen wichtigen Gründungsbuches von Heinrichau ( 1691) sowie einer neuen Lieferung von Podlahas Libri erectionum archidioecesis Pragensis ( 1654) gedacht.

VII. Zeitrechnungslehre. Aus dem Bereich dieser Hilfswissenschaft sind als Neuerscheinungen lediglich E. de Zambauers Manuel de généalogie et de chronologie pour l'histoire de l'Islam (Hannover, Lafaire 4 XII u. 388 S. S. avec 20 tableaux généalogiques hors texte et 5 cartes) sowie Pflegers Abhandlung über die geschichtliche Entwicklung der Marienfeste in der Diözese Straßburg ( 1734) zu erwähnen (vgl. übrigens auch 1723, 1737, 1759, 1885, 1902, 1935).


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)