IV. Darstellungen zur Geschichte der Entstehung der schweizerischen Eidgenossenschaft.

Unter den im Berichtsjahr erschienenen Darstellungen hat das Buch von Meyer ( 743) am meisten Aufsehen erregt. Der Verfasser ist schon in früheren Studien an Einzelfragen der ja zum Teil immer noch sehr umstrittenen Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft herangetreten: ausgehend von


S.625

seiner Arbeit über Blenio und Leventina kam er auf die italienischen Einflüsse bei der Entstehung des eidgenössischen Bundes, auf die Eröffnung des Gotthardpasses, auf die Bedeutung der beiden Freibriefe für Uri (1231) und Schwyz (1240), sowie auf den Schwurverband als Grundlage der urschweizerischen Eidgenossenschaft und auf die habsburgische Verwaltung des Landes Schwyz 1273--1291 zu sprechen. Dann folgte in der Zeitschrift für schweizerische Geschichte 4. Jg. (1924) eine größere Abhandlung: Der älteste Schweizerbund. In umgearbeiteter Form hat nun Meyer denselben Stoff dargestellt in dem hier zu erwähnenden Buche: Die Urschweizer Befreiungstradition in ihrer Einheit, Überlieferung und Stoffwahl; Untersuchungen zur schweizerischen Historiographie des 15. und 19. Jhds. Der Verfasser sucht die Traditionsquellen der ältesten Schweizergeschichte wieder zu rehabilitieren, d. h. ihnen einen bestimmten Platz anzuweisen innerhalb der Quellen zur Entstehung der Eidgenossenschaft. Den meisten Wert scheint Meyer der seit 1856 in der Wissenschaft unter dem Namen des »Weißen Buches von Sarnen« bekannten Chronik beizumessen und seine These geht in erster Linie dahin, das Weiße Buch stelle eine Einheit von Ereignissen dar, d. h. Rütlibund und Tellengeschichte seien von Anfang an miteinander verbunden, es bestehe also nicht, wie es z. B. von Johannes Dierauer, Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft, I, p. 162 ss. angenommen wird, eine Kombination aus zwei ursprünglich einander fremden Überlieferungsmomenten. Meyer weist sehr zutreffend darauf hin, daß dieser Einwand des Dualismus zuerst gegen Schillers »Wilhelm Tell« aus durchaus berechtigten literarischen Gründen erhoben und dann auf die alten Chroniken übertragen wurde. In einem zweiten Teil des Buches kommt Meyer auf Methode, Überlieferung und Motive der Bundeschronik zu sprechen, im dritten Teil auf das Thema der chronikalischen Bundesgeschichte. Zunächst dieser dritte Teil. Darüber herrscht allgemeine Übereinstimmung, daß dem Bund von 1291 bereits frühere Abmachungen vorausgegangen sein müssen, daß ferner irgendeinmal vor 1291 eine gewaltsame Erhebung der Waldstätte oder wenigstens eines Teiles derselben stattgefunden haben muß, es fragt sich nur, wann. Die systematische Erforschung der innerschweizerischen Burgen resp. Burgstellen in den letzten Dezennien hat gezeigt, daß die Zahl der gewaltsam zerstörten Burganlagen im Gebiet der drei Waldstätte sehr groß ist, und daß ein Aufstand gegen die Amtsleute der Habsburger, gewaltsame Zerstörung von Burgen usw. einst stattgefunden hat. Das Hauptverdienst an dieser archäologischen Klärung der Fragen gebührt Robert Durrer, der aber, es sei dies gleich vorweggenommen, in allen übrigen Dingen ein entschiedener Gegner der Meyerschen Lehre ist.

Meyer setzt nun eben diese Erhebung unmittelbar vor 1291, also in die letzten Zeiten des Königs Rudolf, während die bisherige Lehre sie noch in die Hohenstaufenzeit verlegte. Das sind Fragen, über die sich die Forschung mit Meyer auseinanderzusetzen haben wird. Große Bedenken sind nun aber geltend gemacht worden gegen den Versuch, mit Hilfe von rekonstruierten Verschreibungen die Namen wie Tell, Geßler, Grafen von Seedorf usw. zu erklären. Daß Verschreibungen möglich sind, ist zuzugeben, so weitgehende Schlüsse daraus zu ziehen, wie Meyer es tut, scheint uns ganz unmöglich. Das ist entschieden die größte Angriffsfläche des Meyerschen Buches, und sie hat denn auch zu verschiedenen vollständigen Ablehnungen geführt. Der Verfasser


S.626

sagt im Schlußwort seines ungemein reich dokumentierten Buches, er sei nicht willens, in den Fehler der bisherigen Schule zu verfallen (d. h. der von Jos. Eutych Kopp ausgehenden Schule) an die Stelle der herrschenden, detailliert negativen Lehre, eine andere, detailliert positive zu setzen. Er möchte einen im Laufe von Jahrzehnten zur Selbstverständlichkeit gewordenen Lehrsatz wieder zum Problem machen. In dieser Tendenz wird man dem Verfasser nur zustimmen, und der zum Teil recht kräftige Widerspruch mag das große Interesse an den strittigen Fragen beweisen. Von den wissenschaftlichen Einwendungen gegen Karl Meyer seien vor allem hervorgehoben Hans Nabholz, Die neueste Forschung über die Entstehung der schweizerischen Eidgenossenschaft, in der Festschrift für Paul Kehr »Papsttum und Kaisertum«, München 1926, und Albert Brackmann, Neue Forschungen zur Entstehung der Schweizer Eidgenossenschaft, im »Neuen Archiv«, Bd. 46 (1926), p. 134, sowie die Bedenken, die Ulrich Stutz wiederholt in der von ihm redigierten Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Germanist. Abteilung, in sehr entschiedener Form vorgetragen hat. (Vgl. auch das Referat S. 208.)

Das Hauptergebnis der durch Meyer hervorgerufenen Kontroverse liegt aber darin, daß die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz beschlossen hat, ein Quellenwerk zur Entstehung der Eidgenossenschaft herauszugeben, dessen Bearbeitung sie Traugott Schieß, Robert Durrer und Hans Georg Wirz übertragen hat. Die Arbeit ist begonnen und schreitet rüstig vorwärts.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)