VI. Rechts- und Verfassungsgeschichte.

Neue Aufschlüsse zur Rechts- und Verfassungsgeschichte der Stadt Bern im 13. Jhd. bietet die beachtenswerte Studie von Rennefahrt ( 1318). Den Ausgangspunkt bildet eine nochmalige Überprüfung der Ansichten über die sog. »Handfeste« der Stadt Bern, eine Kodifikation aus dem Ende des 13. Jhd., die den Anspruch auf Echtheit erhebt. Durch die Forschungen von F. E. Welti ist die Tatsache der Unechtheit endgültig und überzeugend nachgewiesen. Damit ist nun aber die Wissenschaft von der Verpflichtung nicht entbunden, auch genau zu prüfen, welche äußeren und inneren Umstände zur Abfassung dieses Dokumentes geführt haben und inwiefern dasselbe Sätze aus echten Dokumenten übernommen hat. Die Sache scheint nun so zu liegen, daß Rudolf von Habsburg erst nach einigem Widerstreben und nach dem Hinweis der Berner auf eine Mehrheit von Privilegien aus der Zeit Friedrichs II. die Stadt Bern auch seinerseits privilegierte. Nach Empfang der Urkunde König Rudolfs, die in ganz unbestimmter Weise von König Friedrich II. erteilte Rechte bestätigt, mag man in Bern auf den Einfall gekommen sein, den Irrtum Rudolfs resp. seiner Kanzlei nachträglich noch auszunutzen. Bei der Prüfung der Frage, ob überhaupt für Bern Privilegien aus der Zeit Friedrichs II. in Frage kommen können, gehen die Meinungen auseinander: Welti hat diese Ansicht seinerzeit vollständig abgelehnt, Rennefahrt dagegen widmet der Feststellung dieser Tatsache seine Untersuchung. Seine Schlußfolgerung geht dahin, daß Bern der Stauferherrschaft die tatsächliche Anerkennung und Wahrung seiner Reichsunmittelbarkeit verdanke; höchstwahrscheinlich sei ihm dieselbe auch durch königliches Versprechen ausdrücklich zugesichert worden. Die Untersuchung von Rennefahrt handelt im Einzelnen von der Kompetenz des Schultheißen, von der Stadt Bern als einer juristischen Person, von der Finanzverwaltung und von der Errichtung einer königlichen Münze in Bern. Im Bereich der auswärtigen Politik ist besonders scharf die Stellung Berns als des Hauptes einer burgundischen Eidgenossenschaft herausgearbeitet.

In einer sehr gründlichen Züricher juristischen Dissertation behandelt Valèr ( 1316) die Verfassungsgeschichte des Unterengadins unter Mitberücksichtigung des Münstertales und des Vintschgaues. Im Konkurrenzkampf zwischen den Grafen von Tirol und den Bischöfen von Chur bildet sich allmählich ein dritter Faktor aus, das Volk des Unterengadins, das an einem der drei Bünde in Rhätien, den Gotteshausbund, Anschluß findet, und das sich aus einer Personengemeinschaft zu einem territorial abgerundeten Gebiet entwickelt. Im 17. Jhd.


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erfolgt durch Frankreichs Hilfe die Befreiung des Münstertals und des Unterengadins und bald darauf der Auskauf von Österreich. Der Verfasser hat mit seiner Arbeit, an welcher lediglich das Fehlen einer guten Kartenskizze sowie eines alphabetischen Registers zu bedauern ist, einen lehrreichen Teil der Bündnergeschichte dargestellt, einerseits die Konsolidierung der Grafschaft Tirol zu einem Staatswesen, anderseits das langsame Anwachsen des Gotteshausbundes zu einem -- wenn auch noch lockeren -- staatlichen Verband. In einem besonderen Kapitel wird das Strafrecht des Unterengadins untersucht.

Das schöne Unternehmen der Sammlung schweizerischer Rechtsquellen, das beispielsweise für den Kanton Aargau in so ausgezeichneter Weise gefördert worden ist, hat leider im Kanton Zürich nicht die von der Wissenschaft schon längst als notwendig empfundene Fortsetzung erfahren. Seit Jahren sind die zürcherischen Rechtsquellen mit einem zweiten Band der Offnungen und Weistümer steckengeblieben. Nicht daß es etwa für den Kanton Zürich an schönem und lehrreichem Material gebrechen würde. Diese Fülle und Schönheit der zürcherischen Quellen zeigen zur Evidenz die von Forrer aufs sorgfältigste herausgegebenen und von dem Waldmannbiographen Gagliardi eingeleiteten Waldmannischen Spruchbriefe von 1489 ( 1319 a). Es handelt sich um schiedsrichterliche Entscheidungen eidgenössischer Boten in den Differenzen der Regierung von Zürich und den Bauern dieses Kantons, die im Zusammenhang stehen mit dem Aufruhr gegen den Bürgermeister Hans Waldmann. Es sind ein gutes Dutzend, zum Teil sehr umfangreiche Urkunden, die einläßlich von den Beschwerden der Bauern berichten. Das universalhistorisch Wertvolle dieser Dokumente liegt darin, daß sie uns mitten in die auch von der zürcherischen Obrigkeit an die Hand genommene Kräftigung der Landeshoheit hineinführen. Für einen Moment ist scheinbar den durchaus konservativen Wünschen der Bauern Rechnung getragen worden, aber die allgemeine Entwicklung ist rasch über den Rechtsinhalt dieser Spruchbriefe hinweggeschritten. Immerhin sind sie noch zu Ende des 18. Jhd. in einem Konflikt der zürcherischen Untertanen mit der Regierung von Seite der Bauern angerufen worden.

Eine sehr vielseitige Sammlung von Rechtsquellen bietet der von Rivoire und van Berchen bearbeitete Band ( 1317) der »Sources du droit du Cauton de Genève«. Das große Unternehmen der Sammlung schweizerischer Rechtsquellen erfährt dadurch eine wertvolle Bereicherung aus dem französischen Rechts- und Sprachgebiet. Gestützt auf die Vorarbeiten des Genfers Le Fort († 1888) und des Basler Germanisten Andreas Heusler († 1921) ist es gelungen, eine sehr reichhaltige Sammlung von Dokumenten zusammenzubringen. Die meisten der 241 Nummern (aus dem Zeitraum von 1191--1460) sind in extenso abgedruckt, ganz wenige in Regestenform. Sprachlich überwiegt das Lateinische, und ein Register von nahezu 100 Seiten ist geeignet, die Schwierigkeiten der Texte zu klären, so daß sich auch ein mit der Genfer Geschichte weniger vertrauter Leser rasch zurechtfinden kann. Das Quellenmaterial entstammt den Archiven von Genf, Annecy, Lons-le-Saunier und Turin, sowie den Manuskriptbeständen der Bibliotheken von Genf und Paris. Aufgenommen sind alle Dokumente, welche sich irgendwie auf die Entwicklung des Genfer Rechtes beziehen, wobei die Dokumente rein historischen, gerichtlichen, notariellen oder kanonischen Inhalts im allgemeinen weggelassen sind. Was die räumliche Ausdehnung betrifft, so beziehen sich die Rechtsquellen auf Genf mit


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seiner Bannmeile und auf die in Streulage um die Stadt herum befindlichen weltlichen Besitzungen des Bischofs (Peney, Jussy, Thiez usw.), des Domkapitels und des Kluniazenserpriorates Saint-Victor. Daß die Herausgeber keine Mühe gescheut haben, die diplomatisch genaue Geschichte jedes einzelnen Stückes ihrer Ausgabe festzustellen, verdient besonders hervorgehoben zu werden. Der Abschluß dieses ersten Bandes beim Jahre 1460 ist durchaus zufällig und durch Rücksichten auf den Druckumfang bestimmt. Ein weiterer Band ist in Vorbereitung. Zur Orientierung nichtgenferischer Leser über die Lage der in den Dokumenten genannten Örtlichkeiten sei verwiesen auf die Karten bei Louis Blondel, Les faubourgs de Genève au XV siècle (1919).

Neben den städtischen Rechtsquellen von Genf ist in derselben großen »Sammlung schweizerischer Rechtsquellen« im Berichtsjahr auch ein weiterer Band mit ländlichen Rechtsquellen erschienen. Es sind dies die vom Redaktor des Gesamtwerkes Merz mit gewohnter Meisterschaft edierten Rechtsquellen ( 1319) des im Kanton Aargau gelegenen Oberamtes Schenkenberg. Schon der Name »Oberamt« Schenkenberg zeigt, daß es sich um einen Teil des einst bernischen Aargaus handelt. Bern nahm 1460 die Herrschaft mit Waffengewalt zu seinen Handen und fügte bald darauf im Waldshuterkriege noch die Herrschaft Wessenberg dazu und durch die Säkularisation des Klosters Königsfelden noch den Dinghof Elfingen, kaufte auch die Twingherrschaften Urgiz, Bözen, Rüfenach, Wildenstein und Kastelen. Der Stoff ist vom Herausgeber nach den alten Verwaltungsbezirken gegliedert, die das Oberamt Schenkenberg ausmachten: I. Herrschaft Schenkenberg. II. Amt auf dem Bözberg. III. Amt Elfingen und Rein. IV. Die Twingherrschaften (d. h. Bezirke mit gesonderter Niedergerichtsbarkeit). V. Die Herrschaft Wessenberg. Innerhalb jeder Abteilung sind die Quellenstücke -- teils in Regestenform, teils im Abdruck des Originals -- nach der Zeitfolge geordnet. Da es sich fast ausnahmslos um Besitzungen handelt, die einst den Habsburgern gehört haben, so sind immer die entsprechenden Stellen des habsburgischen Urbars abgedruckt. Aus dem reichen Inhalt des Bandes seien etwa hervorgehoben: S. 15 und 16 Abkauf der Leibeigenschaft (1484 resp. 1500); S. 29--36 Eingaben der Bauernschaft der Herrschaft Schenkenberg an die Regierung von Bern betr. Bauernforderungen von 1525 samt Entscheid der Regierung; S. 161--167 Untersuchungen des Herausgebers betr. die ältesten Urkunden von Auenstein und Wildenstein, die z. T. gefälscht, zum Teil interpoliert sind. Recht bemerkenswert sind auch die Ausführungen von Merz in bezug auf das Verhältnis der Berner Regierung zu den Twingherren (S. 166). Sobald Bern in den Besitz dieser Landschaften gekommen war, suchte es sofort die Rechte der Twingherren abzuklären. Die Vielgestaltigkeit fremder Befugnisse ward dabei mit Recht als Hemmnis empfunden und deswegen trachtete die bernische Regierung danach, für diese Rechte eine einheitliche Formel zu finden, wobei beide Teile Zugeständnisse zu machen hatten. Es gelang, und eine Bewegung, wie sie Bern für sein altes Gebiet im Twingherrenstreit erlebte, unterblieb damit im Unteraargau. -- Ein ausführliches Sach-, Personen- und Ortsregister ist beigegeben. Als Anhang enthält der Band Nachträge zu den Stadtrechten von Bremgarten (1611--1622) und von Lenzburg (1429--1461).


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