4. Rechtsgeschichte, insbesondere Verfassungsgeschichte.

Die polnische rechtshistorische Forschung, auf deren allgemeine Bedeutung für die Arbeit des an der Geschichte des ostdeutschen Koloniallandes interessierten Historikers wir früher hingewiesen haben (vgl. Jahresberr. 2, S. 716), ist im Berichtsjahr besonders um die Klärung der vorstaatlichen Verfassungszustände und die Erkenntnis der Spuren ihres Weiterlebens in der Verwaltungsorganisation der Piastenzeit bemüht gewesen, unter erfolgreicher Verwendung historischgeographischer Methoden. Z. Wojciechowski hatte zunächst in der Besprechung von H. F. Schmids vergleichender Untersuchung der Entstehung und Bedeutung der territorialen Wirtschafts- und Siedlungsverbände in den verschiedenen slavischen Kulturgebieten, die in vielen von ihnen als Burgbezirke in der staatlichen Verwaltungsorganisation weiterleben, darauf hingewiesen, daß in Polen die Verwertung jener vorstaatlichen Verbände -- der opola (viciniae) -- für den Aufbau der Kastellaneiverfassung jedenfalls nicht, wie das Schmid angenommen hatte, erst das Werk des Piastenstaates ist, sondern sich schon vor dessen Konsolidierung, in einer Zeit stammesstaatlicher Organisation, vollzogen hat ( 132). Die territorialen Grundlagen dieser Organisation faßbar zu machen, ist die Aufgabe, die sich Wojciechowski in seiner Schrift über


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die politische Verfassung des polnischen Siedlungsgebietes in der Zeit vor der Piastenherrschaft ( 133) gestellt hat: durch den Vergeich ihres Umfanges stellt er zunächst fest, daß als territoriale Verbände die polnischen opola den terrae oder pagi des westlichen Ostseeslavengebietes entsprechen. Die je etwa sechs derartige Slavengaue umschließenden Stammesterritorien dieses Raumes finden ihre Entsprechung in den nach den Quellenerzeugnissen mehr oder weniger genau zu umgrenzenden Siedlungsgebieten der schlesischen Stämme (Dedosize, Pobarane, Zlasane, Opolini). Daß auch der mehrere derartige Stammesterritorien zusammenfassende »Stammesverband« ebenso wie auf ostseeslawischem Boden bekannt war, daß er monarchisch organisiert war, entnimmt Wojciechowski den Quellennachrichten über die Visljanen (im späteren Kleinpolen). Der Analogieschluß aus der ostseeslavischen Geschichte führt endlich zu der Annahme, daß das vorpiastische Stammesverbandsfürstentum auch bereits im erblichen Besitze seiner Herrschaft war -- der Piastenstaat also nur als die organische Weiterentwicklung bodenständiger Staatsgebilde zu betrachten ist und keineswegs als Schöpfung landfremder Eroberer erklärt zu werden braucht. Ein besonderes Einleitungskapitel ist der Auseinandersetzung mit den phantastischen Mutmaßungen gewidmet, die E. Kucharski an seine Interpretation der von ihm auf das spätere Polen bezogenen Angaben des sog. Bayerischen Geographen knüpft (vgl. Jahresberr. 2, S. 699): sie werden mit Recht von Wojciechowski abgelehnt.

Nicht weniger als seine scharfsinnige Studie, die dem spärlichen und spröden Quellenmaterial zur Geschichte der nördlichen Westslavenstämme gut begründete Aufschlüsse von weitreichender Bedeutung zu entnehmen weiß, verdient die Aufmerksamkeit der Historiker des deutschen Ostens St. Arnolds grundlegende Untersuchung über das Fortleben der Stammesterritorien in der Verwaltungsorganisation Polens in der Piastenzeit ( 5). Auch sie geht von den schlesischen Verhältnissen aus: auf Grund genauer Vergleichung der quellenmäßig zu ermittelnden Grenzläufe identifiziert Arnold jene vier deutlich faßbaren Stammesgebiete der vorstaatlichen Zeit mit den vier Verwaltungsgebieten, in die seiner Ansicht nach Schlesien schon vor der Zeit der Landesteilungen zerfällt (mit den Mittelpunkten Glogau, Liegnitz, Breslau, Oppeln.) Außerhalb Schlesiens bieten die genau bekannten Grenzen der Bezirke (powiaty) bzw. der terrae des späteren Mittelalters ein entsprechendes Hilfsmittel zur Rekonstruktion der Stammesterritorien der vorstaatlichen Zeit, deren Arnold im gesamten polnischen Siedlungsgebiet (einschließlich Schlesiens, aber ohne das Land Lebus und das Kulmerland) fünfundzwanzig feststellen zu können glaubt. Bei der Aufnahme in den piastischen Staat sind diese Stammesterritorien, die jeweils mehrere opola umfaßten, zunächst von einer Landesburg aus durch einen »Landeskastellan« verwaltet worden; neben diesen Landeskastellaneien entstehen dann bei Intensivierung der Verwaltungsorganisation weitere Kastellaneien aus den einzelnen opola, die bis dahin von landesherrlichen villici verwaltet wurden. Zugleich verliert der Begriff des opole seine ursprüngliche, umfassendere Bedeutung und wird zur Bezeichnung eines (landesherrlichen oder grundherrlichen) Güterkomplexes. Die diese hochbedeutsamen, verfassungsgeschichtlichen Ergebnisse seiner Untersuchung zusammenfassende Darstellung leitet ihren eigentlichen Hauptteil ein, die aus allen erreichbaren Quellen mit größter Sorgfalt zusammengestellte Übersicht


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über die Grenzen aller jener opola, Kastellaneien, terrae und Bezirke, aber auch der die Grundlage der Erbteilungen im Piastenhause bildenden »Teilgebiete« und der kirchlichen Verwaltungseinheiten (Diözesen und Archidiakonate), die uns auf vier Karten und in einem reichhaltigen Begleittext geboten wird. Damit erhält der Forscher, der sich mit irgendwelchen Fragen der älteren polnischen, schlesischen oder neumärkischen Geschichte zu beschäftigen hat, ein historisch-geographisches Hilfsmittel von einzigartigem Wert, dessen Nützlichkeit durch die lebhafte Diskussion, die sich im Jahre 1928 an die Formulierung jener verfassungsgeschichtlichen Ergebnisse der Arbeit Arnolds angeknüpft hat, in keiner Weise in Frage gestellt wird.

Die auch von Arnold berührte Frage nach dem Verhältnis der landesherrlichen Güterverwaltung zu der Kastellaneiverfassung hatte R. Grodecki schon 1924 zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht, deren bisher allein bekanntgewordener Auszug jetzt in französischem Gewande ( 40) vorliegt: der Verfasser verwirft die herrschende Lehre von dem Zusammenhang beider Institute, sieht vielmehr in der von eigenen Beamten (villici, procuratores, włodarze) gehandhabten Güterverwaltung einen selbständigen Zweig der landesherrlichen Finanzverwaltung. Er verfolgt ihre Schicksale auch durch die Zeit nach dem Verfall der Kastellaneiorganisation.

Die Frage nach der Bedeutung des »narok« (vgl. Jahresberr. 2, S. 718) wird in der Polemik zwischen F. Bujak und J. Czubek ( 18, 27) weiter erörtert, ohne daß es dem letztgenannten Forscher gelingt, seine Anschauung irgendwie glaubhaft zu machen.

K. Maleczyńskis Untersuchung über die Zahl, die wirtschaftliche Bedeutung und die Rechtsstellung der Marktsiedlungen in Polen vor der deutschrechtlichen Städtegründung (vgl. Jahresberr. 2, S. 722) wird in ihrem verfassungsgeschichtlichen Teil von Z. Wojciechowski eingehender Kritik unterzogen ( 133): Maleczyński hatte das Vorhandensein eines Marktregals in Polen vor der Zeit der deutschrechtlichen Siedlung in Abrede gestellt: sein Rezensent erschließt es vor allem aus dem Vorkommen einer eigenen Marktabgabe, des targowe. Dagegen lehnt er die Annahme Maleczyńskis ab, daß der zur Wahrnehmung der besonderen Marktgerichtsbarkeit von dem Landesherrn oder einem Immunitätsherrn bestellte Marktrichter auch als Organ einer autonomen Marktgemeinde habe fungieren können, ab: die Autonomie der Siedlergemeinde ist ebenso wie die völlige Loslösung der Siedlung aus dem Wirkungsbereich des Landrechts erst das Werk der deutschrechtlichen Kolonisation.

An Wł. Abrahams ausgezeichnetes Buch über die Eheschließung im ältesten polnischen Recht (vgl. Jahresberr. 2, S. 719) knüpft J. Adamus tiefschürfende Bemerkungen über die ursprüngliche Gestalt der Ehe im polnischen und slavischen Recht ( 2): das Vorkommen der Gruppenehe -- wohl im Zusammenhang mit der Hauskommunion -- ist auf slavischem Boden vielfach bezeugt, die Polygamie hatte eine gewisse, wenn auch nicht allzu große Bedeutung, die Raubehe konnte auch im polnischen Mittelalter als gültige Eheschließungsform erscheinen, der Begriff der Kaufehe ist vom rechtshistorischen Standpunkt aus zu dem der Eheschließung durch entgeltliche Erwerbung auszudehnen, der auch wieder der polnischen Frühzeit nicht unbekannt war.

Aus der Literatur zur Geschichte des polnischen Prozeßrechtes haben wir


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außer dem französischen Auszug aus einer namentlich auch für die schlesische Rechtsgeschichte wichtigen Arbeit A. Vetulanis über die Ladung im altpolnischen Prozeß ( 128) vor allem die bedeutungsvolle Schrift R. Taubenschlags über den polnischen Prozeß vor der Gesetzgebung Kasimirs des Großen ( 118) zu verzeichnen: das polnische Prozeßrecht des Mittelalters galt nach dem einstimmigen Urteil der bisherigen Forschung als durchaus bodenständiges, von fremden Einflüssen nicht oder kaum berührtes Institut; im Gegensatz zu dieser Anschauung sucht Taubenschlag wahrscheinlich zu machen, daß das polnische Prozeßrecht schon im ausgehenden 12. Jhd. maßgeblich durch das sog. ältere, aus germanischen und römischen Rechtselementen zusammengesetzte langobardische Prozeßrecht beeinflußt worden ist, dessen charakteristische Züge (fehlender Formalismus, Amtsbetrieb) sich in den polnischen Gerichtsurkunden des 13. und 14. Jhds. -- in deren Zusammenstellung nicht das geringste Verdienst des Verfassers beruht -- deutlich widerspiegeln; der so rezipierte langobardische Prozeß macht dann auf polnischem Boden eine Entwicklung durch, die dem in seinem Ursprungsland sich vollziehenden zum jüngeren, vom kanonischen Recht übernommenen langobardischen Prozeß parallel läuft, so daß auch dessen Eigentümlichkeiten vielfach in den polnischen Quellen nachzuweisen sind. Nur als Restgut erhalten sich bestimmte Züge des durch jenen verdrängten, bodenständigen, altpolnischen Prozesses. Die höchst scharfsinnige Untersuchung Taubenschlags, der ihr Verfasser schon eine Reihe ähnlich gerichteter Studien über die fremden Elemente in der Gesetzgebung Kasimirs des Großen und in den Urkunden des polnischen Mittelalters hat folgen lassen, müßte, wenn sich ihre Ergebnisse bewahrheiten, nicht nur der Geschichte des polnischen, sondern der des gesamten slavischen Rechts neue Wege weisen; freilich bedürfte es, um die Schlüsse des Verfassers endgültig glaubhaft zu machen, die vielfach auf der Feststellung bloßer Analogieerscheinungen beruhen, der umfassenden, vergleichenden Heranziehung der Geschichte des Prozeßrechts in den übrigen slavischen Rechtsgebieten, namentlich in Böhmen und Mähren.

Als Beiträge zur Geschichte des deutschen Rechts in Polen und dem litauischen Staat können wir werten die Zweifel an der Haltbarkeit mancher Thesen des Verfassers äußernde Rezension von W. Kamienieckis wichtigem Aufsatz über die Einflüsse aus dem Ordenslande in der litauischen Verfassung (vgl. Jahresberr. 2, S. 719) aus der Feder St. Zajączkowskis ( 136), die Fortsetzung der wertvollen Studie über die Verfassungsgeschichte Wilnas als deutschrechtlicher Stadt (vgl. Jahresberr. 2, S. 718 f.) von Wł. Kowalenko ( 67), die aufschlußreiche, das besprochene Buch an Bedeutung übertreffende Rezension von J. Dickers Schrift über die Kirchenbuße im polnischen (deutschrechtlichen) Dorfrecht (vgl. Jahresberr. 2, S. 720) durch K. Koranyi ( 62), aus der besonders die Feststellung hervorzuheben ist, daß die »Rügengerichte« in den deutschrechtlichen Dorfgemeinden von vornherein der Verfolgung und Ahndung von Verstößen gegen die kirchliche Sittenlehre zu dienen bestimmt sind, häufig erst spät unter kirchlichem Einfluß eingeführt werden, und daß sie es in erster Linie sind, die Kirchenbußen verhängen. Koranyis Schrift über den Einfluß der Schriften des flämischen Juristen Damhouder auf die Literatur und die Praxis der deutschrechtlichen Gerichtsbarkeit in Polen ( 63) behandelt zwar ihrem Hauptinhalt nach nachmittelalterliche


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Erscheinungen, gibt aber doch gelegentlich Aufschlüsse über mittelalterliche Institute des deutschen Rechts in den polnischen Städten (vgl. die ausführliche Besprechung durch H. F. Schmid, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte XLIX, Germ. Abt. XVIII, 1929, S. 688--697). Endlich können wir in dieyem Zusammenhang das fesselnde Genrebild aus der Geschichte des ausgehenden 14. Jhds. erwähnen, das M. Gumowski in seiner Skizze des Lebens und der Taten eines großpolnischen Magnaten zeichnet, dem seine Fehdelust und Beutegier den Beinamen des »blutigen Teufels« eingetragen haben ( 42), -- weil zu den Charakterzügen dieses Vertreters des Faustrechts seine Feindschaft gegen das deutsche Recht und seine Verbreitung gehört.

Das verfassungsrechtliche Verhältnis des 1454 gewonnenen »Polnisch- Preußens« zum Kern des polnischen Staates bildet den Gegenstand einer aufschlußreichen Untersuchung K. Šlósarczyks ( 110): sie verfolgt die Entwicklung der Autonomie der preußischen Stände von ihren Ansätzen in der Ordenszeit an, in ihrer zunächst ungehemmten Entfaltung unter der polnischen Herrschaft, der im 15. Jhd. nur gelegentlich und unfolgerichtig, im 16. mit steigender Konsequenz der von den polnischen Ständen genährte Wunsch des Königs von Polen entgegentritt, Polnisch-Preußen dem Gesamtorganismus des Staates einzugliedern. Erfolgverheißend wurden die darauf gerichteten Versuche erst, als es gelang, einen Teil der preußischen Stände selbst, die Ritterschaft, namentlich wieder die des Kulmerlandes, bald auch den Bischof von Ermland, daneben auch die kleineren Städte, für sie zu gewinnen. Eine höchst wichtige Untersuchung A. Vetulanis über das Rechtsverhältnis des Herzogtums Preußen zu Polen ist bisher nur in einem Auszug aus ihrem ersten Teile ( 129) bekannt geworden: er berührt die mittelalterliche Geschichte in der Einleitung, in der festgestellt wird, daß entgegen der Anschauung Caros und Werminghoffs, die Hochmeister des Deutschen Ordens von 1466 bis 1525 wirkliche Lehnsleute der Krone Polens waren, und in der Darstellung der Bedeutung, die dem mittelalterlichen Lehnrecht für die Bewertung der Krakauer Abmachungen zwischen König Sigismund und Herzog Albrecht (1525) zukommt.

Mit dem schwachen, sein Thema kaum irgendwie fördernden Buche von A. Kutscha über die Stellung Schlesiens zum Deutschen Reiche im Mittelalter, das außer unter anderen Mängeln auch wieder unter dem der Nichtberücksichtigung der wichtigen polnischen Literatur seines Gegenstandes leidet, vermag K. M (aleczyński) in wenigen Zeilen ( 75) abzurechnen.


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