5. Siedlungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

Ein ausgezeichnetes Hilfsmittel gewinnt der deutsche Historiker, der die wirtschaftliche Entwicklung des polnischen Siedlungsgebietes wegen ihrer Bedeutung für die des ostdeutschen Koloniallandes verfolgen will, an der durch den sorgfältigen Nachweis der Quellen für die wirtschaftsgeschichtliche Forschung und durch die Berücksichtigung der seit 1923 veröffentlichten Literatur ergänzten französischen Übersetzung von J. Rutkowskis grundlegenden »Abriß der Wirtschaftsgeschichte Polens bis zu den Teilungen« ( 103 a). Die Abschnitte dieser besten wirtschaftsgeschichtlichen Gesamtdarstellung, die uns die slavische und osteuropäische Wissenschaft bisher geschenkt hat, die sich mit der Siedlung, den Zweigen der Urproduktion, der Agrarverfassung, dem Gewerbebetrieb,


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dem Handel, dem Münzwesen, der Finanzverwaltung in Polen vor der deutschrechtlichen Siedlung beschäftigen, sollten in jeder Arbeit, die sich etwa mit der älteren schlesischen Wirtschaftsgeschichte beschäftigt oder Fragen aus ihrem Bereiche berührt, berücksichtigt werden; nicht weniger wertvoll ist die -- ebenso wie die entsprechenden Abschnitte in dem gleichzeitig in englischem Gewande erschienenen wirtschaftsgeschichtlichen Überblick F. Bujaks (vgl. Jahresberr. 2, S. 721) -- durch strengste Objektivität ausgezeichnete Darstellung der Bedeutung und der Auswirkungen der deutschrechtlichen Siedlungsbewegung in Stadt und Land und die der Entwicklung der Gutsherrschaft.

Eine bedeutsame Diskussion hat sich an K. Tymienieckis Kongreßreferat über die Entwicklung der polnischen Gesellschaft (vgl. Jahresberr. 2, S. 721) angeschlossen (89, S. 83--90): in ihr ist vor allem das Verhältnis historischer und soziologischer Forschungsmethoden erörtert worden. Tymieniecki selbst würdigt in ausführlicher Besprechung ( 124) die Bedeutung der namentlich für die polnische (und schlesische) Siedlungsgeschichte außerordentlich ergiebigen, geistvollen nachgelassenen Schriften des ihm in mancher Beziehung geistesverwandten K. Potkański, des ersten polnischen Forschers, der die Anregungen A. Meitzens aufgegriffen und in völlig selbständiger, verfeinerter Weise fruchtbar gemcht hat.

Mit den Anschauungen St. Arnolds über die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der Machtstellung des polnischen Magnatentums der Frühzeit (vgl. Jahresberr. 2, S. 722) setzt sich E. Maleczyńska auseinander in Ausführungen ( 72), die für die schlesische Geschichtsforschung besonders wichtig sind, weil die Frage nach dem Umfang der Besitzungen Peter Wlasts in ihrem Mittelpunkt steht: sie bestreitet die Schlüssigkeit von Arnolds These, daß der Grundbesitz für die Wirtschaft des Magnatentums nur untergeordnete Bedeutung gehabt habe, und verweist auf die Notwendigkeit der Untersuchung der Rolle, die das Ämterwesen in der Entwicklung des polnischen »Urfeudalismus« gespielt hat. Der wiederum für die schlesische Geschichtsforschung sehr wichtigen Frage nach dem Verhältnis der altpolnischen Landbesitzeinheiten und ihrer Bezeichnungen zu denen des deutschrechtlichen Hufensystems widmet K. Sochaniewicz aufschlußreiche Bemerkungen ( 112), die er seitdem (1929) in ausgeführterer Form vorgelegt hat.

Die Kenntnis der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Bedeutung der deutschrechtlichen Siedlung auf polnischem Boden konnte, wie T. Tyc in treffenden Worten ( 119) feststellt, durch die Arbeit H. Bechtels über die mittelalterliche Siedlung und Agrarverhältnisse im Posener Lande (vgl. Jahresberr. 1, S. 180, 502) nicht fühlbar gefördert werden, nicht nur, weil ihrem Verfasser jede Kenntnis der wertvollen polnischen Literatur seines Themas fehlte, in der er alles, was er an neuen Ergebnissen zu bringen glaubt, in vielfach besser begründeter Darlegung vorgefunden hätte -- auch die neueren polnischen Quellenpublikationen sind ihm unbekannt geblieben --, sondern auch weil er in verhängnisvoller Weise nationalpolitische Gesichtspunkte in seine Darstellung, namentlich in seinen völlig verfehlten Versuch der Erklärung der Entstehung der Gutsherrschaft, hineingetragen hat. Das Urteil des Rezensenten, daß derartige Arbeiten der polnischen Wissenschaft nichts Neues bringen und der deutschen keine Ehre machen können, wird auch der deutsche Berichterstatter unterschreiben und daran den Wunsch knüpfen müssen, daß im Interesse


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des Ansehens der deutschen Forschung die in den letzten Jahren recht lebhafte Produktion solcher Schriften mit dem Stande der Forschung nicht vertrauter Autoren (vgl. Jahresberr. 2, S. 725 zu Nr. 162 und das oben zu 21 a und 75 Gesagte) zum völligen Stillstand kommen möge.

Einen außerordentlich wertvollen Beitrag zur Kenntnis der Formen der deutschrechtlichen Siedlungen in Rotrußland (Ostgalizien) liefert die grundlegende Untersuchung F. Persowskis über die Siedlungen des Lemberger Landes ( 93): ausgehend von der Einteilung der Dörfer nach dem in ihnen geltenden Recht, stellt der Verfasser zunächst die für jede der dieser Gruppen charakteristische Siedlungsform fest; die Dörfer, in denen sich das bodenständige ostslavische (ruthenische) Recht bis in die Neuzeit erhalten hat, zeigen großenteils den ja für das ukrainische Siedlungsgebiet allgemein charakteristischen Typus des Haufendorfs, ihre Flur umschließt die einzelnen Ackerparzellen in völlig regelloser Gemengelage. In manchen Fällen treten aber auch bei ihnen regelmäßigere Dorftypen auf, das längliche Haufendorf und ein dem deutschen Marschhufendorf verwandter Typus, vom Verfasser nach einem charakteristischen Beispiel als »Grzęda-Typus« bezeichnet. Die Dörfer polnischen Rechts, die jedenfalls als ursprünglich auch ethnisch polnische Siedlungen aus der Zeit nach der polnischen Besitzergreifung im 14. Jhd. zu betrachten sind, zeigen durchweg diesen regelmäßigeren Typus und eine rationelle Verteilung der Ackerparzellen. Die deutschrechtlichen Siedlungen, größtenteils nicht Gründungen auf grünem Rasen, sondern durch Umsetzung ruthenisch-rechtlicher Dörfer entstanden, weisen außer dem Grzęda-Typus den des regelmäßigen Straßendorfes auf. Die Dörfer walachischen Rechts bestehen meist aus mehreren, kaum untereinander zusammenhängenden Teilen von haufendorfartiger Anlage. Diese, durch ein reiches Flurkartenmaterial illustrierten Angaben werden ergänzt durch auf eigenem Augenschein des Verfassers beruhende Ermittlungen über den Charakter der Wohnhäuser und Wirtschaftsgebäude, aus deren Ergebnissen wir hier nur die Feststellung herausheben können, daß in Bauart, Raumverteilung und Verhältnis zum Straßenbild die ruthenisch- und walachisch-rechtlichen Siedlungen einerseits, die polnisch- und deutschrechtlichen andererseits größtenteils übereinstimmen. Umgekehrt zeigt dann die Untersuchung des Verhältnisses der einzelnen Siedlungsgruppen zur Bodenbedeckung und -qualität, daß die ruthenisch- und deutschrechtlichen Dörfer die leicht zu erschließenden und bewirtschaftenden Räume bevorzugen, während die Dörfer polnischen und walachischen Rechts als Träger des Landesausbaus auch in ehemalige geschlossene Waldgebiete vordringen. Dankenswerte Angaben auch über das Wirtschaftsleben der deutschrechtlichen Siedlungen bringt P. von Dąbkowskis Überblick über die wirtschaftlichen Verhältnisse im Lande Halyč im 15. Jhd. ( 29). Die wohl umfassendste, einheitliche Durchführung der in Polen erprobten Grundsätze deutschrechtlicher Siedlung in einer an die Bedürfnisse der Zeit der entstehenden Gutswirtschaft angepaßten Form, die große »Hufenvermessung«, durch die König Sigmund August als litauischer Großfürst in den Jahren 1547 bis 1567 den Ertrag seiner Krongüter auf das Achtfache erhöhte und gleichzeitig seinen Bauern die Grundlagen, den adligen Grundherren das Vorbild für eine rationelle, ertragbringende Wirtschaftsführung gab, schildert in knappen Zügen auf Grund der reichen Vorarbeiten und eigener Forschungen L. Kolankowski ( 59 a).


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In der Abhandlung M. Kniats über das Wirtschaftsleben »Polnisch- Preußens« in der Zeit der polnischen Herrschaft ( 59) ist die Feststellung am bedeutsamsten, daß die wirtschaftliche Struktur des Untersuchungsgebietes, der die tatkräftige Wirtschaftspolitik des Deutschen Ordens ihren Stempel aufgedrückt hatte, auch nach der Angliederung an Polen bis zu der an den Staat Friedrichs des Großen eine andere blieb als die der übrigen Teile des polnischen Reiches. Der Bestand an Krongütern blieb ein größerer, der Anteil des privatgrundherrlichen Besitzes ein kleinerer als in diesen. Hatte aber der Orden im Interesse der Wahrung der Wehrkraft und Steuerfähigkeit die Zersplitterung des Adelsbesitzes wie seine Entwicklung zu Latifundien in gleicher Weise zu verhindern gewußt, so trat unter polnischer Herrschaft ein weitgehendes Überhandnehmen des adligen Kleinbesitzes ein, besonders seitdem 1476 der Gesamtheit der Ritterschaft das Kulmische Recht und damit die Möglichkeit der Besitzvererbung auf die weibliche Linie zugestanden worden war. So wird namentlich die Kaschubei zum typischen Verbreitungsraum adligen Zwergbesitzes. Die Gutswirtschaft erlangt in Polnisch-Preußen nicht die ausschlaggebende Stellung in der Agrarverfassung wie seit dem Ausgang des Mittelalters in Kernpolen: bieten sich dort doch immer wieder Möglichkeiten zu vorteilhafter Anwendung des Zinshufensystems durch Ansetzung der neuzuströmenden, großenteils deutschen Siedlerscharen. Mediatstädte in der Hand adliger Grundherren fehlen, die Bürger der größeren Städte sind vielfach selbst Grundherren und können bis 1598 adligen Grundbesitz ohne Beschränkung erwerben. Danzig und Thorn erhalten gleich nach dem Anschluß an Polen reichen Ordensbesitz zugewiesen, den sie sich zu erhalten wissen. Sie bewahren sich auch, im Gegensatz zu den altpolnischen Städten, die Vermittlerrolle im Aus- und Einfuhrhandel und werden durch den allgemeinen Verfall der polnischen Städte in der Neuzeit am wenigsten in Mitleidenschaft gezogen. Aber auch kleinere Städte, wie Graudenz und Strasburg, erfreuen sich als lokale Wirtschaftszentren einer bescheidenen Blüte. Nur Elbing ist durch die Abschneidung von seinem herzoglich-preußischen Hinterland dem Verfall preisgegeben. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in Altpolen bleibt auch die Bedeutung und die Zahl der Juden im späteren Westpreußen eine geringe.

Im Hinblick auf die Fülle der Beziehungen, die zwischen der nach deutschem Rechte lebenden, teilweise auch ethnisch deutschen Bevölkerung der mittelalterlichen polnischen Städte und ihrer Judenschaft bestanden, und auf den Einfluß, den das deutsche Recht auf die Entwicklung der Rechtsverhältnisse der Juden in Polen geübt hat, mag in diesem Zusammenhang auch auf die aufschlußreichen Studien über die rechtliche und wirtschaftliche Lage der Juden im Herzogtum Masovien vor dessen Vereinigung mit Kronpolen (1527) hingewiesen werden, die E. Ringelblum vorlegt ( 96).

Die sonst so ergiebige polnische heraldisch-genealogische Forschung ist im Berichtszeitraum nur durch eine dilettantische Arbeit J. Krzepelas über die westpreußischen Adelsgeschlechter ( 68) vertreten, auf deren Mängel die Rezension von A. Mańkowski ( 76) hinweist.


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