§ 74. Polen.

(A. Lattermann.)

(Die im Texte eingeklammerten bloßen Nummern beziehen sich auf die Biblio- graphie S. 717.)

Die sachkundige Übersicht über die polnische Geschichtsschreibung 1925/26 von O. Forst-Battaglia ( 1) berücksichtigt leider die Angaben zur Geschichte des Deutschtums so gut wie gar nicht. Um so erfreulicher ist es, daß die kurze, handliche, nach 20 Jahren in zweiter Auflage erscheinende und nunmehr die neuere Zeit stärker berücksichtigende und bis zur Gegenwart fortgeführte polnische Geschichte von C. Brandenburger und M. Laubert ( 2) dieser Aufgabe in hervorragender Weise gerecht wird (vgl. die Bespr. in Deutsche Wissenschaftl. Zeitschr. für Polen, abgekürzt Z., Heft 14, S. 163 ff.).

Für die Wirtschaftsgeschichte ist durch die französische Ausgabe des grundlegenden Handbuchs des Posener Universitätsprofessors J. Rutkowski ( 3) dieses Werk (vgl. Z. Heft 13, S. 153 ff.), das auch für die deutschen Kultureinwirkungen allerlei bringt, auch dem deutschen Leser zugänglich geworden. Das vielumstrittene Problem der sozial-geschichtlichen Erforschung der deutsch-rechtlichen Siedlung auf polnischem Boden behandelt der Grazer Univ.-Prof. H. F. Schmid ( 4). Er gibt einen von bester Vertrautheit mit dem Stoff zeugenden gedrängten Überblick über die von der polnischen Forschung besonders betriebene Kulturgrundlagenforschung, läßt jedoch die deutscherseits den Ausgangspunkt bildende geschichtliche Volkstümerforschung so gut wie außer Betracht, wodurch die Gefahr auftaucht, daß durch unberechtigte Verallgemeinerungen beim Leser falsche Bilder entstehen. K. Volker (S. 79, Nr. 1584) zeigt für die preußische Siedlung in Neu-Ostpreußen, daß sie nicht Verdeutschungsabsichten entsprang, sondern auch andere Volkstümer berücksichtigen wollte und Deutsche nur bevorzugte, weil sie diejenigen Kolonisatoren waren, die das beste Beispiel gaben. In einer Reihe von Zeitungsaufsätzen, die leider hier nicht einzeln aufgeführt werden können, behandelt A. Hoefig kongreßpolnische Dinge (Lodzer Freie Presse Nr. 105, 111, 118, 166, 173, 180, 187, 194, 201, 208), so die Lodzer Baumwoll- und Leinenindustrie, die deutscher Wurzel ist, ferner eine Einzelsiedlung. Es ist schade, daß diese Beiträge nicht in einer Zeitschrift erschienen sind.

Zur Kirchengeschichte setzt der Lissaer Pastor D. W. Bickerich seine zuletzt in Z. Heft 4 gegebene verdienstvolle Übersicht der kirchengeschichtlichen


S.715

Veröffentlichungen für über zwei Jahre in alphabetischer Anordnung nach den Namen der Verfasser fort ( 6). Ein Aufsatz von J. Skoczek (S. 686 Nr. 109) gibt ein Beispiel für die in Polen schon seit dem 13. Jhd. zu beobachtende, den Nichtpolen ungünstige und eifrig verpolende Haltung des polnischen Klerus, der, nachdem in Lemberg in der Domkirche zunächst deutsch, dann im 15. Jhd. deutsch und polnisch gepredigt worden war, schließlich zur Reformationszeit folgende Taktik befolgte: »Zwar wurden die Rechte des deutschen Volkstums auf Predigten in der Muttersprache nicht aufgehoben, vielmehr nur diese Predigten auf unbestimmte Zeit vertagt und auf dem Wege schrittweise eingeführter Änderungen an dem Übereinkommen von 1514 die Frage des deutschen Predigers irreal gemacht« (vgl. Z. Heft 13, S. 158 ff.). Die ungeheure Bedeutung der Reformation für die Kulturgeschichte Polens, wobei die deutschen Hochschulen Wittenberg, Leipzig, Heidelberg, Tübingen, Basel, Straßburg und Königsberg eine Rolle spielten, stellt kurz der Wiener Kirchenhistoriker K. Völker ( 7) dar. Bilder aus dem Wirken einer Strömung, des Pietismus, gibt Pfr. D. Th. Wotschke ( 8), wobei eine besondere Rolle der Pastor Bachstrom spielt und Nachrichten über Fraustadt, Thorn, Warschau und Wengrow gegeben werden und über Unterdrückungen, aber auch innere Streitigkeiten der Protestanten berichtet werden muß. Über die letztgenannte Gemeinde bringt derselbe Verf. neue Nachrichten bei ( 9), und zwar meist wenig erfreuliche über die mancherlei schlimmen Drangsale, die die deutsch-lutherische wie die reformierte Gemeinde im 17. u. 18. Jhd. zu erdulden hatten, was jedoch das Gute hatte, daß sich hier die beiden Bekenntnisse fest zusammenschlossen. Daß Verf. öfters die Quellen wörtlich sprechen läßt, macht zwar die Darstellung etwas länger, gibt aber ein unmittelbar frisches Bild der bösen Zeit. Eine Dankesschuld seines Volkes gegenüber einem Deutschen trägt der polnische Geistliche Szołdrski ab, indem er ihm in seiner Sprache die Gestalt des hl. Klemens Hofbauer nahebringt (S. 686 Nr. 116), der um die Wende des 18. und 19. Jhds. eine außerordentlich segensreiche Tätigkeit als Missionar von Warschau entfaltete (vgl. Z. Heft 15, S. 185 f.). Das Werk stützt sich hauptsächlich auf zwei deutsche Vorarbeiten von Hamerle und Hofer. Bezüglich der wohlynischen Deutschen ergänzt und berichtigt in einigen Punkten einer der wenigen Pastoren des Gebietes, Krusche, das für unsere Kenntnis über das dortige Gebiet grundlegende Sonderheft der »Deutschen Blätter in Polen« vom Nov.-Dez. 1926 bzgl. des Kirchen- und Schulwesens ( 10).

Kultur-, Bildungs- und Kunstgeschichte. Zur Geschichte des deutschen Schulwesens in Kongreßpolen gibt der verdiente Erforscher des deutschen Kultureinflusses in Polen, M. Kage, eine kurzgefaßte, aber grundlegende Darstellung ( 11), die, abgesehen von kurzen Zeiten des Aufschwungs, hauptsächlich den Niedergang des blühenden Schulwesens -- in Warschau bestanden 1779 mehrere deutsch-evang. Schulen mit acht Lehrern, im Weltkriege die vielfache Zahl der jetzigen Schulen -- infolge Verrussungs- und Verpolungsbestrebungen, teilweise durch Volksverräter gefördert, vor Augen führen. Im einzelnen stellt die Entwicklung A. Hoefig für den zahlenmäßig wichtigsten Mittelpunkt des Deutschtums Lodz dar (Lodzer Freie Presse Nr. 277. 346 f.). In einem kleinen Aufsatz in der neu begründeten polnischen Zeitschrift für das Archivwesen berichtet J. Jakubowski über preußische


S.716

Schulakten aus der südpreußischen Zeit (S. 683 Nr. 51). Verf. spricht darin anerkennend von der »sprichwörtlichen deutschen systematischen Art« der »großen Objektivität der preußischen Behörden«, die nicht die polnischen Einrichtungen diskreditieren, sondern wirklich erkennen wollten und dann bestrebt waren, das Schulwesen nach den Bedürfnissen des Landes umzugestalten.

Pastor Dr. R. Kesselring würdigt die Bedeutung von Humanismus und Reformation in Polen ( 12), in dem kurzen Aufsatz jedoch naturgemäß nicht vollständig, weshalb R. Starkad im nächsten Jahrgang der gleichen Zeitschrift Ergänzungen und einige andere Anschauungen bez. des ersteren beibringt. E. Jeikner ( 13) zeigt am Beispiel von Krakau, welchen Einfluß um die Zeit des Übergangs von der Gotik zur Wiedererweckung deutsche Künstler, deren Bedeutung heut bisweilen verkleinert wird, auf den verschiedensten Gebieten der Kunst gehabt haben. Der Verf. des grundlegenden kunstgeschichtlichen Werkes über das Posensche, Baurat J. Kothe, läßt den längeren polnischen Werken von Trojanowski und Zubrzycki aus den vorigen Jahren einen sachverständigen Aufsatz über die in Polen befindlichen Bildwerke des Veit Stoß folgen, der von den Polen seit dem vorigen Jahrhundert fast nur Wit Stosz genannt wird ( 14). Zum Dürergedenkjahr sind für Polen zwei kleinere Aufsätze von deutscher Seite ( 15) und eine wertvolle Monographie des polnischen Gelehrten L. Lepszy (S. 684 Nr. 71) zu nennen.

Ebenso haben der Herausgeber des »Rocznik Krakowski« J. Muczkowski und der Geistl. J. Zdanowski uns unter Benutzung einer nur in Maschinenschrift vorhandenen deutschen Dissert. von Bermann eine mit 40 Bildern vorzüglich ausgestattete Würdigung von Dürers Schüler Hans Süß von Kulmbach (S. 685 Nr. 86) beschert, der auch auf die Kunst des 16. Jhd. in Polen stark anregend gewirkt hat. Erfreulicherweise macht eine deutsche Inhaltszusammenfassung das Werk auch nichtpolnischen Lesern zugänglich (vgl. Z. Heft 15, S. 173 f.). Eine andere wertvolle Veröffentlichung des poln. Numismatikers M. Gumowski, 1925 in Warschau erschienen, wird durch einen Zeitungsaufsatz von M. Kage (Dte. als Schöpfer der poln. Medaille. Lodzer Freie Presse, Nr. 22 ff.) den deutschen Lesern erschlossen. Außer einigen Italienern sind Deutsche die Denkmünzkünstler für die polnischen wie ungarischen Jagiellonen. Über den Einfluß des Deutschschweizers Pestalozzi auf Polen ist auch ein Aufsatz von deutscher Seite ( 16) zu nennen. Erst die preußische Regierung entsandte einen zum Leiter eines polnischen Lehrerseminars ausersehenen Polen zu dem großen Erzieher selbst, dessen Einfluß dann den französischen zurückdrängte. V. Kauder gedenkt dankbar zweier nicht mehr in Polen weilenden ehemaligen geistigen Führer des Deutschtums, A. Eichlers ( 17) aus Kongreßpolen, dem wir außer vielem andern die erste Geschichte des Deutschtums daselbst verdanken, und Dr. H. Rauschnings ( 17), der die Fortsetzung der wissenschaftlichen deutschen Arbeit in Polen nach dem Zusammenbruch durchgesetzt hat. Einen kleinen Baustein zur immer noch fehlenden Geschichte des deutschen Kultureinflusses auf Polen gibt A. Lattermann ( 18), indem er rund 1500 Entlehnungen der Polnischen Sprache aus dem Deutschen (fast 1000 andere ebenda 1928, Nr. 19--22) anführt, die maßgebende deutsche Einwirkungen auf den verschiedensten Lebensgebieten beweisen.


S.717

1 Forst-Battaglia, A., Polnische Gesch.schreibung in d. Jahren 1925 u. 1926. Jbb. Kultur u. Gesch. d. Slaven. N. F. III. H. 1, 109--144.

2 Brandenburger, Cl. u. Laubert, M., Polnische Gesch. 2. Aufl. Berl., de Gruyter, 167 S. (= Sammlung Göschen 338).

3 Rutkowski, J., Histoire économique de la Pologne avant les partages. Paris, Champion, 268 S.

4 Schmid, H. F., Die sozialgeschichtl. Erforschung d. dt.-rechtl. Siedlung auf poln. Boden. Vjschr. Soc.- u. Wirtsch.gesch. 20. H. 3/4.

Volker, K., Von d. Gründen preuß. Kolonisation auf poln. Boden 1793 bis 1807. Dte. Bll. in Polen. 1927. S. 15--19.

6 Bickerich, Übersicht d. Veröffentlichungen auf d. Gebiet d. Kirchengesch. Polens vom Sept. 1924 bis Ende 1926. Dte. Bll. in Polen. 1927. S. 39--52.

7 Völker, K., Die Bedeutung d. Reformation für die Kulturgesch. Polens. Posener evang. Kirchenbl. 1927. S. 102--108.

8 Wotschke, Th., Der Pietismus in Polen. Dte. Bll. in Polen. H. 9, S. 429 bis 448.

9 Wotschke, Th., Zur Gesch. d. ev.-luther. Gemeinde Wengrow. Dte. Bll. in Polen. H. 10, S. 507--523.

10 Krusche-Tuczyn, P., Kirche u. Schule in Wolhynien. Posen. Evang. Kirchenblatt. 1927. S. 193 ff.

11 Kage, M., Zur Gesch. d. dt. Schulwesens im ehem. Kongreßpolen. Dte. Bll. in Polen. H. 10, S. 487--507.

12 Kesselring, R., Humanismus u. Reformation in Polen im 15. u. 16. Jhd. Dte. Bll. in Polen. H. 11, S. 541--551.

13 Jeikner, E., Von alter dter. Kunst in Krakau. Dte. Bll. in Polen. H. 8, S. 381--391.

14 Kothe, J., Die Bildwerke des Veit Stoß in Polen. Ostdte. Mon.hefte 7, 1091--1101.

15 Pauli, G., Zeichnungen von Dürer u. Baldung in d. Univ.biblioth. zu Warschau. Zt. f. bild. Kunst 61, 321--324. --Winkler, Fr., Der Lemberger Dürerfund. Der Kunstwanderer 9, 353--356.

16 Kage, M., Pestalozzi u. Polen. Dte. Bll. in Polen. S. 72--78.

17 Kauder, V., Ad. Eichler u. d. Dt.tum in Kongreßpolen. Ostland (Hermannstadt) 2, 9--11. -- Ders., Dr. Herm. Rauschning. Ebd. S. 63--65.

18 Lattermann, A., Dt.-poln. Kulturbeziehungen im Spiegel d. sprachl. Entlehnungen. Dte. Schulzeitung in Polen. 7, 208--211, 222--225.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)