I. Genealogie.

Ein dem Stande des heutigen Wissens gerecht werdendes Lehrbuch der Genealogie fehlt noch immer. Heydenreichs Handbuch bietet noch teilweisen Ersatz. Der Mangel ist um so größer, als das Interesse breiter Kreise an deutscher Familiengeschichtsforschung noch immer im Wachsen ist. Der Gießener Professor der Medizin Robert Sommer, dessen richtungweisendes Werk »Familienforschung, Vererbungs- und Rassenlehre«, 1927 in 3. Auflage erschien ( 292 a), möchte diese lebendige Anteilnahme der glücklichen Verbindung der Genealogie mit der experimentellen Psychologie, »d. h. also der naturwissenschaftlich gerichteten Art der Seelenforschung«, mit der Naturwissenschaft danken; »hätte die Genealogie in dieser kritischen Zeit noch einen rein feudalen Charakter gehabt, wie es in früheren Zeiten im wesentlichen der Fall war, so wäre sie wahrscheinlich, wie vieles andere, zugrunde gegangen«. Dieser Auffassung muß widersprochen werden, denn das ganz elementar in breiten Schichten hervorbrechende Interesse ist tatsächlich ein rein historisches, und die vererbungswissenschaftlichen und rassetheoretischen Grenzgebiete sind nur selten der Ausgangspunkt der Forschung. Wohl aber führt sie in ihren letzten Ergebnissen immer wieder zu diesen hin. Und für diese mit gebotener Vorsicht zu vollziehende Berücksichtigung vererbungs- und rassewissenschaftlicher Grenzfragen bei genealogischer Forschung ist Sommers Werk ein anregender Führer -- mehr in aufgelockertem Plauderton als den strengen Formen der Wissenschaft gehalten, vielfach in weitabführenden Exkursen sich verlierend, stark abhängig vom Zufälligen des in Gießens Stiftung für Familienforschung und Vererbungslehre vorhandenen Materials und der vom Verfasser selbst durchgeführten Arbeiten. Bei der Darstellung der letzteren legt er sich z. T. größere Zurückhaltung in den Schlußfolgerungen auf als in den früheren Auflagen. Das Schwergewicht des Werkes liegt aber durchaus in der leichtfaßlichen und von Beherrschung des Stoffgebietes getragenen Darstellung der Vererbungslehre und der, in dieser Auflage neu angefügten, Rassen- und Stammeslehre. Gegenüber allzu starken medizinisch-naturwissenschaftlichen oder auch mystisch-philosophischen Einflüssen, wie sie von Bernhard Koerner oder Zachau ausgehen, betont Friedrich v. Klocke (Zum Problem der Genealogie, der Stammtafel und der Ahnentafel; Mittln. des Roland. Jg. 12, S. 17--18) mit energischer Schärfe den sozialwissenschaftlichen Charakter der Genealogie. Ihm hat es die Genealogie schlechterdings nur zu tun »mit Menschenreihen als Gesamtheiten oder als Teilen von Geschlechtern«. Darum ist er auch geneigt, den Wert der Stammtafelforschung, die es mit festeren sozialen Gruppen: Geschlecht und Familie, zu tun hat, höher anzuschlagen, als die neuerlich stärker bevorzugte Ahnenforschung, ihm kann »die Ahnentafel das Zentralproblem der Genealogie nicht darstellen«.

Die methodische Möglichkeit, im Wege der Kombination zu beweiskräftigen Ergebnissen im einzelnen zu gelangen, hat Werner Konstantin von Arnswaldt (Wie kommt man über genealogische Kombinationen zu endgültigen Forschungsergebnissen? Familiengesch. Blätter, Jg. 25, Sp. 69--74 und 137 bis 140) an einem Beispiel aus seiner eigenen Tafel in lehrreicher Weise dargelegt.


S.135

Die Jahresbibliographien der Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte in Leipzig sind im Berichtsjahre bis zu dem von Friedrich Wecken bearbeiteten Jahrgang 1925 ( 291) fortgeschritten. Ein neues, bedeutungsvolles bibliographisches Unternehmen wurde mit der Drucklegung des Stolberger Leichenpredigten-Katalogs ( 314) eingeleitet. Die etwa 20 000 Leichenpredigten umfassende berühmte Sammlung der Gräfin Sophie Eleonore zu Stolberg-Stolberg (1669--1745) ist 1926 neu geordnet und von dem Kammersekretär Willy Friedrich und dem Buchhändler Carl Güttich bibliographisch verzettelt worden. Der vorliegende 1. Band (752 S.), bis zum Namen Füssel führend, dürfte etwa ein Viertel des Ganzen umfassen. Die Auszüge geben im einzelnen an: Namen des Verstorbenen, Stand, Geburtsort und -tag, Todesort und -tag, Begräbnisort, Verfasser der Predigt und Abdankung, der Trauer- und Trostgedichte, der Lebensbeschreibung (Vita) und Personalien, ferner Drucker und Druckort, Angaben über Porträts und ihre Künstler, Wappen, beigegebene Noten, endlich Format und Seitenumfang. Jeder Band enthält außer dem alphabetischen Verzeichnis der Leichenpredigten ein alphabetisches Autoren- und Druckerverzeichnis und der Geburts-, Sterbe- und Beisetzungsorte, Werner Konstantin von Arnswaldt hat dem Ganzen eine den Quellenwert der Leichenpredigten würdigende Einleitung vorausgeschickt.

Ein gewaltiges Quellenmaterial zur Geschichte des österreichischen Adels erschließt Fürst von Thun und Hohenstein mit dem Regestenwerk zu den handschriftlichen Sammlungen des verstorbenen Wiener Genealogen August von Doerr ( 300). Die bisher gedruckten Lieferungen (S. 1--184) enthalten 3572 alphabetisch geordnete Regesten allein bis zum Stichworte »Anthoine« -- auch hier werden, wie beim Stolberger Katalog, Jahre vergehen, bis das Werk einmal abgeschlossen vorliegt; aber dann wird es eine Fundgrube erster Ordnung werden. -- Eine kleinere, aber ebenfalls sehr namhafte handschriftliche Sammlung erschließt Kurt Tiesler ( 323) mit seinen zu Lebensabrissen geformten Auszügen aus den handschriftlichen Leichenpredigten der Königsberger Stadtbibliothek. Auf eine neue familiengeschichtliche Quelle weist Ewald Dresbach hin in seinem Aufsatz »Kirchenpatrozinien als Quelle für die Familienforschung« (Familiengeschichtliche Blätter, Jg. 25, 1927, 2. Sp., 43--47). Auf die familiengeschichtliche Bedeutung der Reichskammergerichtsakten macht Friedrich Große-Dresselhaus aufmerksam (ebenda, 8. Sp., 274--276). Die stattliche Sammlung deutscher Universitätsmatrikeln ist durch die bildgetreue Veröffentlichung der Matrikel der Akademie zu Jena 1548--1557 in Manuldruck durch Theodor Lockmann und Friedrich Schneider ( 2077) bereichert worden.

Das Berichtsjahr weist einige Arbeiten auf, die in dankenswerter Weise ganze Archive systematisch für die Familiengeschichtsforschung erschließen. Voran steht hier die fleißige Arbeit von Max Burchard ( 313), die das gesamte Archivmaterial des schaumburg-lippischen Landstädtchens Stadthagen genealogisch auswertet, indem sie teils Namenregister zu Steuer- und anderen Listen und Regesten von Einzelurkunden veröffentlicht, teils das Material im einzelnen zu Stamm- und Nachfahrentafeln verarbeitet. Solche ins einzelne gehende Verarbeitung und Drucklegung ist natürlich nur bei beschränkteren Verhältnissen durchführbar; bei größeren Archiven muß an ihre Stelle der summarische Überblick treten. Wilhelm Rohr ( 52) gibt einen solchen in


S.136

mustergültiger Form über das genealogische Material des Preußischen Geheimen Staatsarchivs, soweit es sich um Militärpersonen handelt. In ähnlicher Weise berichtet H. Voges über »die familiengeschichtlichen Quellen des Landeshauptarchivs« in Wolfenbüttel in den Braunschweiger genealogischen Blättern (3/5, S. 63--70).

Die schon in den früheren Jahresberichten aufgeführten Sammelwerke sind im Berichtsjahre fast sämtlich erfolgreich weitergeführt worden. Von Bernhard Koerners Deutschem Geschlechterbuch sind allein sechs Bände (Bd. 51--56) erschienen, davon ein Sonderband für Hamburg ( 312), 2 Bände für Hessen ( 308 [darin Bd. 52, S. 295--342, die Genealogie der Freiherrn v. Liebig, bearbeitet von Otfried Praetorius]), einer für das Sauerland ( 309), u. a. die Familie des Metzer Bischofs Benzler († 1921) enthaltend, für Schwaben ( 306 b), mit der vom Bearbeiter Wiest beigesteuerten Genealogie Schillers, und für die Schweiz ( 306 a). --Walter v. Boetticher hat seiner 1923 abgeschlossenen »Geschichte des Oberlausitzischen Adels und seiner Güter« ein neues inhaltreiches Sammelwerk von Urkunden und Regesten über den Lausitzer Adel angefügt ( 318). -- Die adeligen Taschenbücher, von denen die »Gothas« diesmal, außer dem Hofkalender, mit drei uradeligen und einem briefadeligen Bande ( 296-- 299) erscheinen, sind durch ein neues Unternehmen bereichert worden, mit dem »Wiener genalogischen Taschenbuch« von Hans Stratowa, dessen erster Band vorliegt (VIII, 416 S., Wien, Selbstverlag, 1926 [ausgegeben 1927]). Der Band enthält die Stammreihen von 279, überwiegend dem einfachen Adel und dem Ritterstand angehörenden Familien. Der Band ist mit 11 Wappen (von Ernst und Karl Krahl) und einem Exlibris geschmückt. Das in Antiqua gesetzte Werk zeichnet sich durch außerordentlich geschmackvolle Anordnung und Ausstattung, aber nicht minder durch die Zuverlässigkeit seines Inhalts aus.

Das reiche Feld der Zeitschriften ist durch zwei hervorzuhebende neue Periodica vermehrt worden: Der Verein für Familienkunde in Ost- und Westpreußen begründete in der zwanglos erscheinenden Zeitschrift »Altpreußische Geschlechterkunde« (Königsberg i. Pr., Meyer 1927 ff.) eine Sammelstätte für die landesgeschichtlich-genealogische Forschung Preußens, das Österreichische Institut für Genealogie, Familienrecht und Wappenkunde in seinen »Forschungen und Mitteilungen« eine Vierteljahrsschrift für österreichische Genealogie. In den letzteren erschien eine Reihe von Ahnentafeln der Staatsmänner des alten und neuen Österreich, von Alfred Anthony-Siegenfeld bearbeitet, unter dem Titel »Das sterbende Österreich- Ungarn und seine Nachfolgestaaten in den Ahnentafeln ihrer führenden Männer«, unter denen sich Männer befinden wie Ährenthal, Andrássy, Apponyi, Berchtold, Hainisch, Horthy, Károlyi, Seipel, Seitz, Tisza, ferner Friedrich Adler, Graf Burián, Graf Conrad v. Hötzendorf, Ludo M. Hartmann, Masaryk, die Rothschilds. Die Zeitschrift ist leider nicht über den 1. Jahrgang hinausgediehen, die fruchtbare Idee jener Sammlung ist aber inzwischen von der Leipziger Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte aufgenommen und in deren »Ahnentafeln berühmter Deutscher« (1929) verwirklicht worden.

In das schwierige Gebiet der ma. Genealogie führt der Doppelband des Grafen Haupt zu Pappenheim ( 331), der als Ergebnis gründlicher Forschung


S.137

für die Zeit von 1100--1450 1612 Regesten vorlegt, die er im darstellenden zweiten Teil seines Werkes zu einer temperamentvoll geschriebenen, aber auf strengster wissenschaftlicher Basis aufgebauten Geschichte seines Hauses verarbeitet hat. Im Anhang zum 2. Teil polemisiert er scharf gegen die von Gustav Beckmann ( 716) vertretene Ansicht, die alten Reichsmarschälle von Pappenheim seien nur durch drei Generationen nachweisbar und dann ausgestorben, die seit 1214 nachweisbaren heutigen Pappenheimer seien adoptierte Biberacher, während die Cramer-Kleß die rechten Träger pappenheimischen Blutes seien. -- Weiter zurück noch greift Otto Freiherr von Dungern, der in seiner Monographie »Adelsherrschaft im Mittelalter« ( 1272) die genealogischen Zusammenhänge zwischen denjenigen Geschlechtern untersucht, die vom Ende des 9. bis Ende des 12. Jhd. in Deutschland ausschließlich über alle Hoheitsrechte verfügten, und er kommt zu dem Ergebnis: »Der Adelskreis, der vom Niedergange der Karolinger bis Ende des 12. Jhds. bei uns über alle öffentliche Gewalt gebot, war untereinander verwandtschaftlich verbunden. Er bildete eine Blutsgemeinschaft.« Eingehend untersucht Dungern die Familien- und Besitzverhältnisse der einzelnen Familien. --


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)